Die elfjährige Joana Passmann tanzt in einer Garde im Ruhrgebiet. Das besondere Hobby erfüllt die junge Tänzerin, bringt aber auch einige Hindernisse mit sich.
Von Anna-Maria Mugler
Die schwarzen Lederstiefeletten sind straff geschnürt, Federn flattern auf dem Kopf, das glitzernde rot-goldene Trikot strahlt mit dem geschminkten Kindergesicht um die Wette. Klick-klack. Die um den Hals gebundenen farbenfrohen Orden klimpern bei jeder Bewegung. Ein letztes Nicken zu der Kollegin neben sich, dann gibt Joana Passmann wieder Vollgas. Die Elfjährige steht hinter dem Südbad der Stadt Mülheim an der Ruhr parat, nur wenige Minuten vor dem großen Auftritt ihrer Tanzgarde auf dem lang ersehnten Rosenmontagszug, streicht nervös hier und da die zu zwei Zöpfen gebundenen, dunkelblonden Haare glatt. Ein Korrekturzug mit dem dunkelroten Lippenstift. Noch mehr Haargel. Joana weiß: „Es muss einfach alles perfekt sein.“
Der Glanz der „fünften Jahreszeit“
Seit sie denken kann, tanzt die junge Mülheimerin gemeinsam mit 32 anderen Mädchen, inklusive ihrer drei älteren Schwestern, unter Trainerin und Mutter Daniela Passmann im Karnevalsverein Prinzengarde Rote Funken 1958 und lebt das, wovon viele Gleichaltrige aus der Region nur träumen: Selbst auf dem Rosenmontagszug mitmarschieren, Kunststücke zu stimmungsvoller Musik zeigen, teure Trikots tragen. Laut dem BDK, dem Dachverband der deutschen Fastnachts- und Karnevalsvereine, gibt es in Deutschland mehr als 5300 Vereine mit insgesamt über 700 000 jugendlichen Mitgliedern. Das Image des Dachverbands verspricht unermüdlich lächelnde Gardetänzerinnen, die mit Leichtigkeit ein Rad schlagen, graziös ihr rechtes Bein in die Luft schwingen, eine Menschenpyramide bauen. Doch hinter all dem Glanz der „fünften Jahreszeit“, wie der Karneval von seinen Anhängern liebevoll genannt wird, steckt harte Arbeit.
Oktober 2023. Die Tanzgarde besteht heute Abend aus einer Schar gähnender junger Frauen im Alter von elf bis 19 Jahren. Von der einen Ecke des Raumes ertönt ein „Ja, die haben sich getrennt!“, von der anderen ein „Ich muss noch so viel für Mathe am Montag lernen!“ Rollende Augen. Kichern. Schon wieder vertanzt. „Reißt euch ein bisschen am Riemen, Mädels!“, ruft Trainerin Daniela Passmann, von allen nur Dani genannt, durch den Saal der Feldmann-Stiftung, den Proberaum des Vereins. Durchatmen. „Wir sind alle ziemlich fertig“, meint die Vierzigjährige, die sich äußerlich von ihrer Tochter nur durch einige Gesichtsfalten abhebt, „aber ein gelungener Auftritt erfordert viel Ausdauer.“ Die Wangen von Joana, die in der ersten Reihe tanzt, sind glühend rot. Josie, Joanas Schwester und deren sieben Jahre älteres Ebenbild, stützt die Hände in die Hüften. Als eine der beiden Trainerinnen der Minigarde weiß sie, dass das Tanzen neben dem vielen Spaß auch seine Kehrseiten hat: „Du musst die Choreo zu Hause durchgehen. Proben alleine reicht nicht.“ Joana, die auch privat gerne tanzt und in ihrer Freizeit Radschläge übt, fügt hinzu: „Normalerweise gucken meine Schwestern und ich uns die Schritte nochmal an. Wenn die Schule oder Freunde dazukommen, denkt man aber nicht immer an das Üben. Da muss Mama uns schon mal erinnern: ,Habt ihr euch die Choreo auf dem Handy angeguckt?´“
Kein Fehler erlaubt
Nicht jeder unterstützt Hobbies wie das der vier Mädchen. Ratgeberseiten wie urbia.de betonen, dass sich Kinder durch zeitintensive Hobbies körperlich und psychisch schnell überfordert fühlten. Joana, die selbst neben dem Gardetraining auch noch Badminton spielt und schwimmen geht, trotzt dieser Vorstellung freudig: „Für mich ist das nicht anstrengend, weil es so viel Spaß macht. Außerdem tanze ich ja mit meinen Schwestern und Freundinnen zusammen und freue mich immer, wenn wir auftreten dürfen.“
11. November, endlich Karneval. Zum ersten Mal seit langem dröhnen das scheppernde Blech der Becken und die trötenden Fanfarenzüge wieder durch die Öffentlichkeit. Kein Durchatmen mehr möglich, kein Fehler erlaubt. Mehrmals wöchentlich ist Joana mit dem Rest des Passmann-Clans und ihren übrigen Kolleginnen im Einsatz. Hoppeditz-Erwachen, Große Funkensitzung, Schlüsselrückgabe. Heute auf dem Programm: Prinzenproklamation im Autohaus Wolf. Bei dem Gedanken an all die Termine, die für die kommenden Monate im Kalender stehen, grinst Joana, die sich bereits auf die Unterstützung des frischgebackenen Stadtprinzenpaares freut. „Ein Mädchen aus unserer Garde war letzte Session ersatzweise die Pagin des Kinderprinzenpaares. Man weiß nie, was noch kommt.“
Für Joana bedeutet das einen Haufen Abenteuer für vierzehn lange Wochen. Sie tritt der langen Veranstaltungsliste mit gemischten Gefühlen entgegen: „Ich habe Glück, weil meine beste Freundin mit mir im Verein tanzt. Andere sehen ihre Freunde in den letzten Wochen vor Rosenmontag kaum. Die sind da nicht so begeistert von.“ Der Menge entweicht ein dreifach-kräftiges „Uss Mölm Helau!“, der Standardausruf im Mülheimer Karneval, und sie wirft begeistert die Arme in die Luft. „Natürlich ruft man sehr oft aus und tanzt immer das Gleiche“, gibt Joana zu, „aber viele sehen einen auch erst in der letzten Sessionswoche tanzen. Auch da sollte man noch fröhlich wirken. Sonst macht das einen doofen Eindruck.“
12. Februar, Rosenmontag. Showtime. Volle drei Stunden dauert der Marsch durch die Mülheimer Innenstadt. Körperlich eine Höchstleistung und ein Grund für Muskelkater am nächsten Morgen. Aber auch eine Chance, Kamelle und Kuscheltiere zu werfen. Tausende, die nur gekommen sind, um Joanas Garde und andere hiesige Karnevalsvereine zu bestaunen. Ein Kleinkind, das sich als Feuerwehrmann verkleidet hat, bewundert die Fußgruppe der Roten Funken, die neben ihren Garden auch noch aufwendig gestaltete Wägen durch die Stadt ziehen lassen. Um den Mülheimern dieses Spektakel zu ermöglichen, ist viel Planung nötig, nicht nur beim Wagenbau. Heino Passmann, Joanas Vater und Präsident der Roten Funken, findet es besonders wichtig, dass die Gardetänzerinnen sich umeinander bemühen, damit so ein beeindruckendes Bild wie heute überhaupt möglich wird: „In der Regel tanzen bei uns viele Mädchen, die sich schon über die Schule oder private Kontakte kennen.“ Genauso wichtig sei jedoch eine aktive Pflege dieser sozialen Beziehungen als Vereinsgemeinschaft. „Durch das regelmäßige Training und Vereinsaktivitäten entsteht dann ein Gemeinschaftsgefühl.“ Dieses Gemeinschaftsgefühl stärke die Roten Funken nicht nur an Freudentagen wie heute, sondern auch in schlechten Zeiten.
„Jetzt ist es leider vorbei“
13. Februar, Hoppeditzbeerdigung. Der Karneval neigt sich dem Ende zu und die Fastenzeit steht wartend vor der Tür. Ein letztes Mal ertönt der karnevalistische Kultsong „Leev Marie“ aus den Boxen, nicht mehr ganz so laut wie in den vergangenen Wochen und nur als ein melancholischer Nachhall all der Schweißtropfen und Freudentränen, die in der Session 2023/24 geflossen sind. Ein letzter Showtanz der Junioren- und Seniorengarde zu „Major Tom“. Der Lautsprecher knistert und pfeift. Auch Peter Schilling hat keinen Bock mehr.
Die Blicke der Gesellschaft spannen sich an, als die Präsidenten des Hauptausschusses, Markus Uferkamp und Dennis Weiler, den Raum betreten. Alle ahnen, was die beiden Männer in den cremefarbenen Jackets hier zu suchen haben. Ein fordernder Blick von Markus zu Heino Passmann. Er nickt, wohlwissend, was er seinen vier Töchtern und allen anderen in diesem Raum jede Minute entgegenbringen muss. Ein letztes Mal fährt er sich durch die Haare, rückt das dünne Brillengestell auf seiner Nase zurecht. „Ihr Lieben! Es war schön mit euch, aber jetzt ist es leider vorbei.“ Der Präsident hilft bei der Verteilung kleiner Präsente an die Beteiligten und erntet dabei ein paar letzte freudenerfüllte Blicke.
Schließlich spricht Heino die gefürchteten Worte aus: „Ich erkläre die Session für beendet. Bitte nehmt eure Orden ab.“ Die Senatoren nehmen ihre Narrenkappen vom Haupt, einer hält sie sich ergriffen vor die Brust. Eines der Mädchen aus der Seniorengarde versucht, ihre Wimperntusche vor einigen Tränen zu retten. Vergeblich. Auch die vier Schwestern lassen die Köpfe hängen. Joana versucht, ihre Traurigkeit mit einem tapferen Lächeln zu unterdrücken. Änni Passmann, die 86-jährige Großmutter der Mädchen, legt Joana tröstend eine Hand auf die Schulter. „Mensch, wat habt ihr alle toll getanzt“, bestärkt sie die Enkelin in ihrem gewohnten mölmschen Dialekt. „Brauchta doch net traurisch sein.“
Aschermittwoch 2024. Ein Mädchen in ausgewaschenen Skinny Jeans und einem Oversized-Shirt läuft in seinen vom Schmutz schwarz verfärbten Turnschuhen über den grauen Asphalt, auf dem die letzten Bonbons und rosaroten Lutscher kleben. Hier und da sammeln sich platt gedrückte Luftschlangen und Konfetti. Das Mädchen streicht sich durch ihre vom Wind verwühlten, dunkelblonden Haare. Ab heute ist das Mitglied der Juniorengarde, das hier in der Mülheimer Altstadt seine Runden dreht, wieder nur Joana Passmann. Sie strahlt gerade nicht, drückt jedoch ein tapferes Lächeln ab: „Nach der Session ist vor der Session.“
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