Ich packe meinen Rucksack und nehme mit:
Podiumsdiskussionen, Podcastauftritte und Hafermilch!

Von Svenja Quantz

2009 hat sie das erste Mal eine Gruppenstunde besucht. Noch kannte sie niemanden, als sie langsam die Treppen nach oben schritt. Sie wischte sich ihre schwitzigen Hände noch einmal an der Hose ab, bevor sie die Türklinke ergriff und sie mit Schwung herunterdrückte. Jetzt war sie Teil der Alpinen Rotznasen. Nur vier Jahre später, ohne schwitzige Hände und mit vielen neuen Freund*innen an ihrer Seite, wechselte sie in die Jugend 2. Fast ein Jahrzehnt nach der ersten Gipfelbesteigung in ihrer Jugendgruppe wurde sie selbst zur Jugendleiterin und wandert nun seit fünf Jahren mit ihrer eigenen Gruppe. 15 Jahre später schmeißt sie den Laden!

Annika ist heute ehrenamtlich Vizepräsidentin des Deutschen Alpen Vereins (DAV) und Bundesvorsitzende der Jugend des Deutschen Alpen Vereins (JDAV). Mit erst 23 Jahren hat sie die Verantwortung über große Geldbeträge, Personalentscheidungen und die Leitung der Jugendbildungsstätte. Die Bundesjugendleitung (BJL)behandelt Themen wie mentale Gesundheit, Selbstversorgung auf Hütten, Nachhaltigkeit und selbstverpflichtendes Tempolimit.

8:30 – Ein lautes Lachen ertönt, noch bevor überhaupt jemand zu sehen ist. Es wird lauter. Annika und ihre Kollegin Franzi erscheinen im Ausgang des Ibis Hotels, in dem sie das Wochenende verbringen. Annikas blonder Bob wird durch das rosa Stirnband ein wenig verwuschelt. Die beiden sind auf dem Weg zur Bundesgeschäftsstelle (BGS) des DAVs in München. Die heutige Sitzung ist quasi ein “Heimspiel”, wie Annika es nennt. Da die Mitglieder der BJL der JDAV über ganz  Deutschland verteilt wohnen, rotieren sie bei den Standorten ihrer Sitzungen. Es erscheint ein kastenförmiges Gebäude aus Glas und Holz. Annika holt einen Chipschlüssel aus ihrer rosa Umhängetasche.

“Wenn man wichtig ist, hat man einen Schlüssel”,

erklärt sie schmunzelnd, und Franzi bricht in schallendes Lachen aus. Anscheinend ein Insider.

8:49 – Annika öffnet die Tür zum Sitzungsraum. Trotz der Gespräche der anderen drehen sich alle zu ihr um, als sie ein motivierendes “Hallo” in die Runde flötet. “Zum ersten Mal sind wir alle zu früh da!”, antwortet einer des Teams überrascht. Das kam bisher selten vor, bei sieben viel beschäftigten Menschen. Dieser “busy Lifestyle” ist allerdings gar nicht so ungewöhnlich. Im Schnitt leisten in Deutschland rund 29 Millionen Menschen 19,6 Stunden ehrenamtliche Arbeit im Monat. Bei diesen Zahlen kommt schnell die Frage auf: “Warum?”.So vielfältig das Spektrum an Ehrenämtern ist, so vielfältig sind auch die Antworten. Lara ist 18 und engagiert sich im Jugendzentrum ihrer Gemeinde. “Für mich ist es schön zu sehen, dass man Teil einer Gemeinschaft ist und gerade Kinder glücklich zu machen durch unsere Treffen ist für mich das Beste daran.” Elli ist 36 und arbeitet in der Pfarrgemeinde. “Ich lebe schon immer hier und begleite diese Menschen in ihrem Leben. Für mich ist das gar keine Arbeit, das ist Mensch sein.” Auch Annika hat dazu ihre ganz eigene Meinung. “Zu sehen, dass man an einem Hebel sitzt, um Gutes zu bewirken, um andere Menschen zu empowern, mitzumachen, Debatten einen Raum zu schaffen und Demokratiebildung mitzuerleben.”

Diesen Hebel nutzt Annika durch ihr Engagement jeden Tag.

Auf Podiumsdiskussionen, bei Auftritten in Podcasts zur Prävention sexueller Gewalt im Bergsport und auch auf jeder einzelnen ihrer Sitzungen.

8:59 – Die Tische im Sitzungsraum sind zu einem U geformt. Annikas Blick fällt auf die individuellen Arbeitsplätze, die mit Laptops, Stiften und Kaffeetassen ausgestattet sind. Trotz des reichlichen Kaffeekonsums blickt Annika schläfrigen Augen entgegen, und muss selbst gähnen. Punkt 9.00 Uhr startet der Sitzungssamstag. Bevor sie mit den Inhalten loslegen, läuten sie eine Runde “Bergwetter” ein. Dabei teilen alle dem Team ihren Gemütszustand anhand einer Bergwettermetapher mit. “Ich bin gerade auf einer ganz entspannten Tagestour unterwegs und es ist sonnig. Heißt, ich freue mich auf die Sitzung heute und bin relativ entspannt, da ich das Gefühl habe, im Moment die Oberhand in meinem Leben zu haben”, beschreibt Annika, wobei ihre Stimme zum Ende hin immer fester wird. Später erklärt sie, dass die Oberhand im Leben zu haben, für sie eine große Ausnahme ist. Neben ihrem Ehrenamt, das rund 20 Stunden die Woche in Anspruch nimmt, arbeitet sie acht Stunden als Werkstudentin. 14 Stunden fallen an ihr Studium. Zusätzlich hat sie noch eine Reitbeteiligung und versucht Zeit für ihre Freund*innen und Familie zu finden. Der zeitliche Aufwand war der Hauptgrund, warum ihr die Entscheidung, das Ehrenamt anzunehmen nicht leicht gefallen ist. “Die Konsequenzen, wie mein Auslandsstipendium abzulehnen, im Kopf zu haben und sie dann im wirklichen Leben zu spüren, ist allerdings ein großer Unterschied.” Ehrenamtliche Arbeit ist oft ein Full-time-Job. Das eigene Sozialleben leidet, die Zeit ist unbezahlte und die Arbeit kollidiert häufig mit zu wenig Wertschätzung und aussichtslosen Debatten. Die Menschen, die darüber hinwegsehen und die Wichtigkeit in ihrem Ehrenamt erkennen, sind, wie das Bundesministerium für Inneres und Heimat schreibt, der Motor unserer Demokratie. Die Aufgaben, die ehrenamtliche Arbeit in den Feldern Soziales, Bildung, Sport, Umwelt und Kultur übernimmt, sind unbezahlbar im wahrsten Sinne des Wortes.

10:36 – Kaffeepause. Sieben Menschen wollen Kaffee und es gibt nur einen Automaten. Annika und Franzi machen sich auf die Suche nach Hafermilch. Als sie zunächst keine finden, stampft Annika auf den Boden. “HA!”, ruft Franzi und rappelt sich aus ihrer Liegeposition auf. Im untersten Fach ganz hinten hatte sich doch noch Hafermilch versteckt. Bis alle sieben Sonderwünsche fertig sind, ist die Kaffeepause schon fast wieder vorbei. Mit einer Hand in der Hosentasche und der Tasse in der anderen erklärt Annika ihre neueste Idee für einen Instagram-Reel. Als sie vier Gesichter mit hochgezogenen Augenbrauen anschauen, stellt sie die Tasse ab und untermalt ihre Erklärung noch einmal mit wilden Gesten. Nach vollem Körpereinsatz ist das Team dann an Bord, um den neuesten Instagram-Trend später zu filmen.

12:28 – Annika beendet ihren Satz und lässt sich mit Schwung in die Lehne ihres Stuhles fallen. Gegenüber stößt jemand angestrengt Luft aus. Die letzten zwei Stunden wurde diskutiert, debattiert und abgestimmt. Doch bevor es in die Nachmittagsrunde geht, wird die Arbeit im Sitzungssaal gelassen, und sechs der sieben Teammitglieder machen sich auf den Weg zum Mittagessen. Raoul kommt nicht mit, da er für sein Studium arbeiten muss. Annika bezeichnet Raoul auch gerne als ihre “Work-Wife”. Sie bilden zusammen eine paritätische Doppelspitze der Bundesjugendleitung. Alle Mitglieder der BJL wurden im Herbst 2023 in Hamburg gewählt und sind nun für vier Jahre im Amt. Mindestens zweimal im Monat trifft sich die BJL für am Wochenende. Hinzu kommen Videokonferenzen und die Treffen der Arbeitsgruppen. Sich das ganze Wochenende zu treffen, nehmen sie ziemlich wörtlich. Das bedeutet, sie machen sich gemeinsam auf den Weg zum Mittagessen. Die Sonnenbrillen, passend zur Sonne, stehen im Kontrast zu den kleinen Wolken, die beim Atmen entstehen. Noch ist der Frühling nicht ganz da. Beim Mittagessen wird wenig geredet. Immer wieder wird aufs Handy geschaut, und die laute POP-Playlist von 2015 dröhnt durch die Lautsprecher im Asia-Lokal.

13:47 – Zwischen dem Restaurant und der BGS liegt ein wenig besuchter Park. Die kühle Luft macht Platz für frische Gedanken und das Gefühl die Beine nach Stunden des Sitzens zu bewegen weckt Sehnsucht nach einer Wanderung. Kaum zurück in der BGS, ergreift Annika die Chance und schnappt sich zwei Mitglieder aus dem Team. Zwar nicht am wichtigsten, aber eines der Top-Themen heute: Der Instagram-Beitrag! Zehn Minuten später ist das Ding im Kasten und sorgt für viel Unterhaltung sowohl auf Instagram als auch untereinander.

17:58 – Der zweite Sitzungstag ist vorbei. Morgen folgt der dritte. Und in zwei Wochen das Gleiche wieder. Durch Annikas zweite ehrenamtliche Führungspositionen als Vizepräsidentin des DAVs, verdoppeln sich ihre Sitzungstage. Der DAV ist mit 1,5 Millionen Mitgliedern der größte Bergsportverband weltweit.

Hauptsächlich sind es Ehrenamtliche, die diesen und andere Vereine am Leben erhalten.

19.46 – Drei Stockwerke über dem Sitzungssaal kommt der Tag zu seinem Ende. Eine Weinflasche, Besteck und Teller stehen auf dem Tisch. Nur wenige Lampen erhellen den Raum. Leise ist Musik zu hören, zwischen den verschiedensten Gesprächen. Hier und da bricht jemand in lautes Lachen aus. Annika beobachtet die Szene und fühlt sich wieder wie 2009. Im Prinzip hat sich gar nicht so viel verändert. Der Zusammenhalt, die Motivation, die Stärke und der Spaß, der die Gruppenstunden und Bergtouren immer besonders gemacht hat, sind auch hier zu spüren. Sie schließt die Tür und gesellt sich zu ihrem Team.