„Weil wir es verdient haben.“

In wenigen Tagen starten die Olympischen Sommerspiele 2024 in Paris. Mit dabei sein wird auch Kasra Mehdipournejad, der 2017 aus seiner Heimat Iran nach Deutschland geflohen ist. Über die Geschichte eines Spitzensportlers, der zwar kein Land vertritt, aber gleichzeitig für viel mehr als sich selbst kämpft.

Laura Wagner & Nils Fleischmann

Quelle: Laura Wagner

Isfahan, Iran, Ende August 2008. Es ist später Nachmittag. Wie immer zu dieser Jahreszeit ist es in Iran unerträglich heiß. In einem Wohnzimmer inmitten der Millionenstadt ertönt die aufgeregte Stimme eines Sportkommentators aus dem Fernseher. An der Zimmerdecke summt leise ein Ventilator, der Boden ist mit kunstvollen Teppichen geschmückt. Darauf sitzt ein 15-jähriger Junge, der gebannt auf den Bildschirm starrt. Sein großes Idol, der iranische Taekwondoin Hadi Saei, steht im Finale der Olympischen Spiele in Peking und kämpft gegen einen Italiener um die Goldmedaille. Trotz großer Schmerzen, ausgelöst durch eine Handverletzung, triumphiert der Iraner. In diesem Moment geht ein olympischer Traum in Erfüllung – und ein weiterer wird geboren.

Berlin, Deutschland, Ende April 2024. Fast 16 Jahre später und über 3.700 Kilometer entfernt, sitzt Kasra Mehdipournejad nervös vor seinem Computer. Von draußen hört man die Vögel zwitschern. Der Frühling hält Einzug, in Berlin wird das Wetter wieder wärmer und die Tage länger. Aus dem Jungen ist längst ein erwachsener Mann geworden, hochgewachsen, mit gepflegtem Vollbart und kurz geschnittenen dunklen Haaren. Es ist kurz vor 8 Uhr morgens, Kasra betritt den Zoom-Meetingraum. Ihm gegenüber zugeschaltet sitzt ein mit Hemd und Krawatte gekleideter Mann. Er ist ein Mitarbeiter des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). In den nächsten Minuten wird sich viel entscheiden: Es geht um die große Frage, ob Kasra für das Geflüchteten-Team bei Olympia 2024 in Paris antreten darf. Seine Frau Parisa hat er ins Nebenzimmer verbannt und sie gebeten, nach dem Gespräch nicht nachzufragen, wie es gelaufen ist. Rückblickend wird Kasra sagen, dass er die Wahrscheinlichkeit, dabei zu sein, im Vorfeld für etwa zehn Prozent gehalten habe.

Das Gespräch beginnt, gleich zu Beginn will Kasra erfragen, ob das Komitee ihn nicht bei einem weiteren Anlauf für die Spiele 2028 in Los Angeles unterstützen könne. Der Offizielle unterbricht ihn: „Wo ist Ihre Frau? Sie sollte dabei sein.“ Danach beginnt ein Monolog, der sich in Kasras Schilderungen nach einer halben Ewigkeit anhört. Es geht um offizielle Entscheidungskriterien, Regularien des IOC und den Auswahlprozess für diejenigen, die ins Team berufen werden. Irgendwann fällt Kasra dem Mann ins Wort: „Bin ich in Paris dabei oder nicht?“ Die Antwort: Ja, ist er.

Die Geburtsstunde des Refugee Teams

Rio de Janeiro, Brasilien, Anfang August 2016. Während hunderte bunt geschmückte Tänzer:innen ihre spektakulären Choreografien vorführen, ertönt im Maracanã-Stadion tosender Beifall. Die Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele ist in vollem Gange. Die große Party ist Ausdruck der reichen Kultur Brasiliens, mit Samba, Musik und leuchtendem Feuerwerk. In den kommenden Wochen wird man überall in der Stadt die elektrisierende Stimmung spüren, ob in den ausverkauften Stadien, den Public Viewing Zonen an der Copacabana oder in den kleinen Bars und Restaurants, wo die Menschen zusammenkommen, um die anstehenden Wettkämpfe zu verfolgen.

In diesem Moment der olympischen Zeremonie wird die Einheit und die Freude am Sport besonders deutlich. Die Olympionik:innen werden wie Held:innen gefeiert, unabhängig von ihrer Nationalität. Zehn von ihnen stehen dieses Jahr besonders im Mittelpunkt. Erstmals in der Geschichte der Olympischen Spiele laufen sie für ein Team ein, das unter keiner Nationalflagge startet. Über der Fahnenträgerin, Rose Nathike Lokonyen, Läuferin aus dem Südsudan, weht stattdessen die olympische Flagge. Darauf zu sehen sind fünf farbige Ringe auf weißem Grund – sinnbildlich stehen sie für die fünf Kontinente der Welt. Unter dieser Fahne startet 2016 zum ersten Mal das Refugee Olympic Team, also ein Team bestehend aus Geflüchteten.

Fahnenträgerin Rose Nathike Lokonyen | Quelle: 2016 - Comité International Olympique (CIO) - Mine Kasapoglu

Nach dem Einzug des Teams hält Thomas Bach, Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, seine Rede: „Ihr sendet eine Nachricht der Hoffnung an all die Millionen Flüchtlinge weltweit. Ihr musstet aus eurem Zuhause fliehen aufgrund von Gewalt, Hunger oder aus dem Grund, weil ihr anders wart. Jetzt, mit eurem außergewöhnlichen Talent und eurem menschlichen Geist, leistet ihr einen großen Beitrag zur Gesellschaft.“

Den Weg zu Olympia ermöglichen

In Paris startet das Team, auf Französisch offiziell Équipe Olympique des Réfugiés (EOR) genannt, nun das dritte Mal bei den Olympischen Sommerspielen. Es ist eine Mannschaft, die aus Sportlerinnen und Sportlern besteht, die als anerkannte Flüchtlinge nicht mehr für ihr Heimatland starten können.

Ein Flüchtling ist nach Definition des Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention eine Person, die „sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt oder in dem sie ihren ständigen Wohnsitz hat, und die wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung hat und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht vor Verfolgung nicht dorthin zurückkehren kann.

Anne-Sophie Thilo ist Pressesprecherin des Geflüchteten-Teams. Laut ihr wurde das Team 2016 von der IOC-Exekutive ins Leben gerufen, um geflüchteten Spitzensportler:innen eine Chance auf Qualifikation und Teilnahme an den Olympischen Spielen zu bieten. Eine speziell geschaffene Stiftung vergibt Stipendien, die bei entsprechender Leistung zu einer Berufung ins EOR führen. Das Stipendium helfe den Athlet:innen beispielsweise, Reisekosten und Trainingsausstattung zu finanzieren. Ziel ist es, den Mitgliedern des EOR die Unterstützung zu ermöglichen, die andere Athlet:innen von ihren nationalen Verbänden erhalten. „Wir bieten Medientrainings an, kümmern uns um den Zugang zu Wettkämpfen oder helfen bei der Sponsorensuche“, so Thilo. Während das Team 2016 noch aus zehn Athlet:innen bestand, starteten in Tokio 2021 bereits 29 Geflüchtete in zwölf verschiedenen Sportarten unter olympischer Flagge. In Paris 2024 werden es neben Kasra 35 weitere sein. Die steigende Anzahl an Athlet:innen im Team spiegelt die weltweit steigenden Zahlen an Flüchtlingen wider, so Thilo.

Tiefgang statt sportlicher Übermut

Friedrichshafen, Deutschland, Ende Juni 2024. Nur noch wenige Wochen bis zum Start der Olympischen Spiele. Die kleine Stadt am Bodensee ist verschlafen, außer einigen Tourist:innen ist kaum jemand unterwegs. Kasra wartet in seinem Lieblingscafé an der Hafenpromenade, er sitzt in ein Buch vertieft an einem Tisch aus dunklem Massivholz. An der Wand hinter ihm ist das Wort Brot in verschiedenen Sprachen abgedruckt. Auch Persisch ist dabei – Kasras Muttersprache.

Im Gespräch fühlt er sich auf Englisch sicherer, wirft aber immer wieder Sätze auf Deutsch ein. Der Olympionike bedankt sich: „Es ist wichtig, mit Studierenden über die Situation in Iran zu sprechen.“ Deutschland sei das Land der Dichter und Denker, er selbst habe ein großes Interesse an Geschichte und Philosophie. Schmunzelnd erzählt Kasra, er wolle keiner von denen sein, die zwar sportlich bewundert werden, aber für Belustigung sorgen, sobald sie den Mund aufmachen.

Der Sportler dreht den Kopf, blickt nachdenklich der abfahrenden Fähre hinterher, die sich ihren Weg durch das glitzernde Wasser hinaus auf den See bahnt. Den Mund aufmachen, das tut er, der 31-jährige Taekwondoin. Kasra Mehdipournejad ist ein lustiger, lebensbejahender Mensch. Er hat zahllose Anekdoten auf Lager, die er mit einem breiten Grinsen zum Besten gibt. Doch immer, wenn er über das in Iran herrschende islamische Regime spricht, verdunkelt sich seine Miene und seine Stimme beginnt zu beben. „Wir sind müde. Wir sind müde von all dem Druck und dem Kampf dagegen. Dem Druck in unserem Privatleben, in der Gemeinschaft, im gesamten Land.“

Ein unfreies Land

Das iranische Mullah-Regime gilt als eines der gefährlichsten der Welt. Wer sich seinen Regeln widersetzt, beispielsweise als Frau kein Kopftuch trägt, muss mit harten Strafen rechnen. Immer wieder kommt es zu Folter und öffentlichen Hinrichtungen durch die Sittenpolizei. Was klingt wie ein dunkler Rückblick ins Mittelalter, ist für die Menschen in Iran Alltag.

Die Islamische Revolution 1979 läutete das Ende der Monarchie in Iran ein. Das Land wird seitdem theokratisch beherrscht, die Staatsgewalt ist also religiös legitimiert und die Scharia als religiöses Gesetz bestimmt einen großen Teil des Alltags der Iraner:innen. Es gibt zwar einen direkt vom Volk gewählten Präsidenten und ein gesetzgebendes Parlament, diese unterliegen jedoch der Rechtsgelehrtenherrschaft (velayat-e faqih). Der Oberste Führer, auch Revolutionsführer, bestimmt die Richtlinien der Politik, kontrolliert die Justiz, die Armee sowie die staatlichen Medien. Das Machtzentrum liegt demnach bei ihm.

Kasra hat schon früh mitbekommen, was passieren kann, wenn man öffentlich widerspricht. Vor allem seine Familie mütterlicherseits sei schon immer gegen die Mullahs gewesen. Wegen dieser Haltung, erzählt er, hätten Tanten und Onkel lange Haftstrafen verbüßt. Kasra als mehrmaliger iranischer Meister im Taekwondo – neben Ringen und Gewichtheben der beliebteste Sport in Iran – entwickelte das Potenzial, für Aufruhr zu sorgen. Nichts fürchtet die iranische Regierung mehr, als authentische oppositionelle Stimmen, die beliebt bei der Bevölkerung sind.

Als Kasra im November 2017 auf einem Wettkampf in der Türkei ist, muss er sich binnen weniger Tage entscheiden, ob er nach Iran zurückkehrt. „Meine Mutter hat gesagt: ‚Lieber sehe ich dich nicht und weiß, dass du sicher bist als andersherum.‘“ Mit nicht mehr als einer gepackten Sporttasche, ein wenig Geld und einer großen Portion Mut macht er sich auf den Weg nach Berlin.

Die ersten Monate im kalten, regnerischen Deutschland seien ihm extrem schwer gefallen. In seiner Heimat war er bekannt, er war jemand. Kasra erzählt lachend, dass er fürs Einkaufen immer doppelt so lang wie alle anderen brauchte, weil er oft erkannt wurde. Plötzlich jedoch waren die Tage dunkel und einsam. In den ersten Monaten in Berlin habe er sich noch nicht einmal auf Englisch verständigen können. Er habe in dieser Zeit Angst gehabt, sein offenes und fröhliches Wesen zu verlieren.

Doch er lebt sich ein, fängt im Taekwondo-Club Elite Berlin wieder mit dem Training an. Durch den Sport hat er Bezugspersonen gefunden, allen voran seinen Trainer Sven Fröscher. Er kümmerte sich neben dem Sport auch um vieles weitere. Während er von dem Club erzählt, strahlt seine Stimme Geborgenheit aus: „Das ist meine Heimat.“ Gleich wenige Tage nach dem ersten Training durfte der erfahrene Kampfsportler zu einem Wettkampf nach Stuttgart mitfahren.

Taekwondo ist für viele mehr als nur ein Kampfsport – der Sport ist ein Weg zur persönlichen und geistigen Weiterentwicklung. Die Philosophie von Taekwondo lehrt den Sportler:innen wichtige Werte wie Höflichkeit, Integrität und Durchhaltevermögen, während die Praxis die körperlichen und mentalen Fähigkeiten der Praktizierenden stärkt. Zusammen bilden sie eine ganzheitliche Disziplin, die darauf abzielt, das Leben derjenigen, die sie praktizieren, in vielfältiger Weise zu bereichern. Bis heute glaubt Kasra fest daran: „Ich konnte überleben, weil ich Taekwondo hatte.“

Besorgt und trotzig zugleich

Seit seiner Flucht ist der stolze Iraner in Gedanken ständig bei all seinen Freund:innen und seiner Familie, die weiterhin im Land sind. Auf dem Höhepunkt der Proteste 2022 blockiert das Regime immer wieder den Internetzugang. Wann immer es geht, sucht Kasra den Kontakt. Einmal habe er mit einem guten Freund telefoniert, zum Abschluss sagte dieser: „Ich gehe heute Nacht demonstrieren. Vielleicht komme ich nicht zurück.“ Für einen Moment blickt Kasra auf den Boden. Dann hebt er wieder seinen Kopf, in seinem Blick liegt neben Besorgnis auch Trotz.

Vielleicht ist es dieser Trotz, der ihn damals antreibt, weiterzumachen. Eines ist nach der Flucht klar: Kasra hat eine schwerwiegende Entscheidung getroffen. Sein großer Traum, mit der iranischen Flagge bei der olympischen Zeremonie einzulaufen, wird sich nicht erfüllen. Das Refugee-Team bietet ihm eine neue Perspektive: 2019 wird er als Stipendiat vom IOC aufgenommen, um sich auf die Spiele in Tokio vorzubereiten.

Das Internationale Olympische Komitee (IOC) bittet die Nationalen Olympischen Komitees in Deutschland den DOSB geeignete Sportler:innen zu benennen, die als Flüchtlinge anerkannt sind und die sportlichen Qualifikationen erfüllen.

Laut Anne-Sophie Thilo, Pressesprecherin des IOC, repräsentiert das Team eine weltweite Gruppe von Geflüchteten. Eine ausgewogene Auswahl von Sportarten, Geschlechtern oder Herkunftsregionen sei deshalb wichtig. Neben den bloßen Ergebnissen muss das IOC den gesamte Menschen betrachten: Wir können nicht einfach sagen: Ihr müsst dieses oder jenes Ergebnis erreichen.’” Für einige der Athlet:innen sei es wegen der Flucht eine Zeit lang schwierig gewesen, zu trainieren. Oder es sei nicht möglich gewesen, für internationale Wettkämpfe ins Ausland zu reisen.

Sind die Sportler:innen von den Nationalen Olympischen Komitees ausgewählt, entscheidet die IOC-Exekutive, welche Athlet:innen an den Olympischen Spielen teilnehmen. Von den Sportlerinnen und Sportlern, die in Deutschland leben und trainieren, werden neun in Paris an den Start gehen.

Nach der Aufnahme ins Stipendium will Kasra seine Chance nutzen. Er gibt alles, will unbedingt 2021 in Tokio dabei sein. Die Form ist gut, die Absage enttäuscht ihn deshalb umso mehr. Frustriert will er den Dobuk, den Kampfanzug der Taekwondoin, an den Nagel hängen. Seine Frau Parisa, selbst in Iran erfolgreiche Taekwondo-Athletin gewesen, hat ihn motiviert weiterzumachen. Er zieht für das Training nach Friedrichshafen, bekommt mit Markus Kohlöffel einen neuen Trainer. Der Weg nach Paris 2024 sei hart gewesen, doch jetzt ist es vollbracht. Nicht nur für den Kampfsportler selbst erfüllt sich damit ein Traum. Seit der Nominierung hört er denselben Satz immer wieder, von seiner Familie aus Iran und Freund:innen aus aller Welt: „Geh zu Olympia und mach uns stolz.“

Der Athlet im Vordergrund

Kasra ist sich der Verantwortung bewusst, die er mit dieser Nominierung trägt. Die ganze Welt wird auf ihn und sein Team blicken: „Ich vertrete eine Nation mit mehr als 100 Millionen Menschen, den Geflüchteten.“ Sein Abschneiden wird einen kleinen Teil dazu beitragen, diese Menschen sichtbar zu machen. Kasra möchte mit seiner Teilnahme beweisen, dass Geflüchtete stark sind, dass sie das Zeug dazu haben, ihre Ziele und Träume zu verfolgen und zu erreichen. Gleichzeitig würde er gerne öfter einfach als Athlet gesehen werden.

Auf allen Trainingsanzügen, Rucksäcken und anderen Olympia-Artikeln steht „Flüchtling“. Natürlich, das sei Teil seiner Geschichte – trotzdem will der Taekwondoin nicht durch seine Flucht auf sich aufmerksam machen, sondern durch sein Können und seine sportlichen Spitzenleistungen.

Kasra Mehdipournejad | Quelle: Laura Wagner

Friedrichshafen, Deutschland, Ende Juni 2024. Im ersten Stock eines Einkaufszentrums dringt lauter Baulärm nach oben. Für Kasra steht die erste der drei heutigen Trainingseinheiten an, das Krafttraining im Fitnessstudio. Gut gelaunt joggt er die Treppen hoch und entschuldigt sich für die Verspätung. Er habe seine Jacke mit den olympischen Ringen vergessen, die er später fürs Interview tragen will. Während Kasra nach Trainingsende sorgfältig die Geräte abwischt, antwortet er auf die Frage, ob sich mit der Zusage viel für ihn verändert hat. Er überlegt kurz, dann lacht er. Ein Freund habe ihm kürzlich vorgeschlagen, sich einen Zettel mit der Aufschrift „Olympionike“ auf die Stirn zu kleben, damit alle auf der Straße Platz machen. Aber im Ernst: Die Aufmerksamkeit ist größer geworden, nicht nur die positive. Hinter vorgehaltener Hand hat er von Beschwerden nationaler Athleten gehört, dass es durch seine Teilnahme bei nationalen Wettkämpfen zu Wettbewerbsverzerrung käme. Auch gute Bekannte waren dabei. Das zu hören, ist für Kasra verletzend. Er wolle niemandem etwas wegnehmen und sagt klar: „Sie haben nicht wie ich ihre Familien verloren.“

Die Bedingungen sind auch für ihn als Olympionike alles andere als leicht. Mit seinem Coach Markus sucht Kasra eigenständig nach Sponsoren, am Rande von Friedrichshafen teilt er sich eine kleine 1-Zimmer-Wohnung mit einem Trainingspartner. Seine Frau Parisa lebt weiterhin in Berlin, er sieht sie nur an den Wochenenden, an denen er keine Wettkämpfe hat. Kasra fährt dann am späten Freitagabend mit dem Bus neun Stunden nach Berlin, am Sonntag geht es dieselbe Strecke wieder zurück.

„Jetzt ist der Zeitpunkt, laut zu sein

Trotzdem beschwert der Iraner sich nicht. Im Gegenteil: Bei den Spielen dabei zu sein, ist für ihn ein riesiges Privileg. Er hat sich fest vorgenommen, jeden Moment zu genießen, um ein Leben lang von der Erfahrung zu zehren. Außerdem will er die große mediale Bühne nutzen, die sich ihm bieten wird. Kasra glaubt nach wie vor fest daran, dass ein Sturz des Regimes möglich ist. Als Teil der iranischen Diaspora will er seinen Beitrag dazu leisten, dass die freie Welt die Lage der Menschen in Iran nicht vergisst. Er kritisiert, dass viele Athlet:innen der Politik aus dem Weg gehen. „Jetzt ist der Zeitpunkt, laut zu sein.“ Wenn er Worte wie diese spricht, erkennt man ihn sofort wieder: Den Kampfsportler, der in jedem Training, bei jedem Schlag hochkonzentriert ist.

Mit Freude zum Erfolg

Man könnte vermuten, dass die ständige Angst um seine Familie den Iraner über die Jahre bitter hat werden lassen. Doch besonders beim Taekwondo-Training zeigt sich bei ihm eine bemerkenswerte Leichtigkeit. Ausgiebig begrüßt Kasra seine Trainingspartner:innen und unterhält sich angeregt mit seinem Trainer Markus, während er die Trainingsausrüstung schnürt. Sobald der Pausengong während der Trainingseinheiten ertönt, klatscht er die anderen ab, seine konzentrierte Miene entspannt sich zu einem verschmitzten Lächeln.

Im Taekwondo werden die Sportler:innen mit verschiedenen Trainingsmethoden bestens auf Wettkämpfe vorbereitet. Konditionstraining für die Ausdauer, Krafttraining für die Stärkung der Muskulatur, Flexibilitätstraining mit Dehnübungen und Techniktraining als Partnerübungen zur Verbesserung der Reaktionsfähigkeit. Aber auch mentales Training, bei dem durch Meditation und Atemübungen, der Fokus und die innere Ruhe trainiert werden, zählt zu den Trainingsmethoden.

Die Praxis des Taekwondo lässt sich in verschiedene Disziplinen unterteilen:

  • Aufwärmen und Muskeldehnen: Um Verletzungen zu vermeiden, ist es wichtig, dass die Athlet:innen sich aufwärmen, da beim Taekwondo die meisten Muskeln und Bänder des Körpers eingesetzt werden.
  • Grundtechniken (Gibon Dongjak): Hierzu gehören Basisbewegungen wie Tritte (Chagi), Schläge (Chirugi), Abblockbewegungen (Makki) und Stellungen (Sogi). Diese Techniken sind die Grundlage für alle weiteren Übungen.
  • Formenlauf (Poomsae): Poomsae sind vorgegebene Bewegungsabläufe, die verschiedene Techniken und Kombinationen enthalten. Sie dienen der Entwicklung von Präzision, Balance, Konzentration und Körperbeherrschung.
  • Freikampf (Gyeorugi): Im Freikampf treten zwei Taekwondoin gegeneinander an, um ihre Fähigkeiten in einem kontrollierten Umfeld anzuwenden.
  • Selbstverteidigung (Hosinsul): Dieser Bereich umfasst Techniken zur Verteidigung gegen verschiedene Angriffe.
  • Bruchtests (Gyeokpa): Bruchtests dienen dazu, die Kraft und Präzision der Techniken zu demonstrieren. Hierbei werden verschiedene Materialien wie Holzplatten oder Ziegel durch Schläge oder Tritte zerschlagen.

Der Kampfschrei, den Taekwondo-Praktizierende während des Trainings oder Wettkampfs ausstoßen, wird im Koreanischen als Gihap bezeichnet. Gi bedeutet „Lebensenergie“, während Hap „Sammlung oder „Vereinigung bedeutet. Der Gihap erhöht die Anspannung des Körpers zum Zeitpunkt des Kontaktes mit dem Gegner, um der Technik maximale Kraft und Kontrolle zu verleihen und die Konzentration zu steigern. Im Kampf dient der Gihap zudem als Taktik zur Einschüchterung des Gegners.

Die Trainingsgruppe ist bunt gemischt, sogar einige Teenager und Kinder trainieren am Rande mit. Wüsste man es nicht besser, würde man nicht erwarten, dass hier einige der besten Taekwondoin der Welt trainieren. Vielleicht erklärt jedoch genau diese gelöste Atmosphäre einen Teil von Kasras Erfolg. Er verkörpert immer noch dieselbe Begeisterung für den Sport, mit der er damals seiner Mutter eröffnete, dass er künftig in die Taekwondo-Halle statt auf den Fußballplatz gehen wolle.

Aus datenschutzrechtlichen Gründen benötigt YouTube Ihre Einwilligung um geladen zu werden.
Akzeptieren

Kasra fährt mit klaren Zielen nach Paris. Er ist nicht zum Spaß dabei, sondern will zeigen, dass er zurecht gegen die besten Taekwondoin des Planeten antritt. Leicht wird das nicht, er geht in der Schwergewichtsklasse über 80 Kilogramm an den Start. Die anderen werden größer und stärker sein als er. Trotzdem kennt der Iraner seine Stärken genau. Sein Trainer und er haben nochmal an der Technik gefeilt. Wenn er es schaffe, nah an die Gegner heranzukommen, habe er in jedem Kampf eine gute Chance. Wie es nach Paris weitergeht, weiß Kasra noch nicht. Dem Sport will er jedenfalls treu bleiben: Er träumt davon, mit seiner Frau eine Taekwondo-Schule in Berlin zu eröffnen.

Ein Team voller Kampfgeist

Doch all das ist im Moment noch nicht von Bedeutung. Noch im Juli wird Kasra all die anderen aus dem Geflüchteten-Team kennenlernen, schon jetzt freut er sich darauf. Im Geflüchteten-Team kommen Athletinnen und Athleten aus der ganzen Welt zusammen. Sie mögen zwar nicht dieselbe Sprache sprechen oder die gleiche Kultur teilen, aber die Liebe zum Sport und ein ungebrochener Kampfeswille machen sie zu einem starken Team. Um das zu symbolisieren, startet das Équipe Olympique des Réfugiés (EOR) dieses Jahr erstmals nicht unter der olympischen Flagge, sondern unter einem eigens designten Logo mit einem Herz in der Mitte.

Kasra weiß, dass die Mitglieder des EOR für alle anderen Athlet:innen schwere Gegner sein werden: Wer unter den Umständen einer Flucht die Kraft für die Olympia-Qualifizierung aufbringe, habe einen starken Charakter. Kasra möchte, dass er und die anderen aus dieser Position der Stärke wahrgenommen werden: „Wir sind nicht nur hier, weil die Welt Geflüchtete bei Olympia sehen will. Nein, wir sind hier, weil wir es verdient haben.“

Der Iraner wird nicht für sein Land antreten. Und doch wird Kasra mit jedem Fauststoß und Fußtritt voller Stolz alles geben, was er hat. Für seine Familie, die mitfiebern wird, für die Menschen in seiner Heimat Iran, die auch an diesen olympischen Tagen nicht frei sein werden, und für all die Geflüchteten, die sonst keine Stimme haben.

Welche Bedeutung hat der Sport für Menschen in schwierigen Lebenssituationen? Wie geht Kasra mit Druck um? Und was macht Olympionik:innen stolz? Der Podcast liefert Antworten auf das und vieles mehr.

Laura Wagner & Nils Fleischmann

Begeistert hat uns vor allem unser Protagonist Kasra. Seinen Traum von Olympia hat er sich nicht durch ein unterdrückerisches Regime zerstören lassen. Er inspiriert uns durch seine Zielstrebigkeit und seine Empathie anderen Menschen gegenüber.