Die Kunst auf der Tribüne
Die Fußball-EM im eigenen Land steht an, doch davor hat die Nationalmannschaft noch zwei Testspiele. Das Choreoteam des Deutschen Fußballbunds (DFB) will diese beiden Spiele nutzen, um die Mannschaft auf das Turnier einzustimmen. Ihre Arbeit in Nürnberg stellt dafür die Weichen.
Sophie Mischner & Simon Pohler
Nürnberg, am dritten Juni 2024. Anspannung, Diskussionen, Unzufriedenheit. Nervöse Rufe hallen an diesem grauen Junitag durch das Stadion. Auf der Gegengerade im Max-Morlock-Stadion haben sich 26 Leute aufgestellt. Auf der Tribüne über ihnen prangt der Schriftzug „Nürnberg“. Sie kämpfen gegen das mehr als fünf Meter hohe Banner an, das über ihren Köpfen im Wind steht. „Mit dem Herz in der Hand und der Leidenschaft im Bein…“ ist darauf zu lesen. Eine Hommage an den Klassiker der Sportfreunde Stiller, der alle zwei Jahre aufs Neue an Aktualität gewinnt. Zwischen den Männern und Frauen des Choreoteams, die das an den Teleskopstangen befestigte Banner halten, befinden sich drei bis vier Meter. Jede der von ihnen gehaltenen Stangen hat eine Höhe von fast sieben Metern, verteilt auf knapp hundert Meter Bannerlänge. Im Vordergrund dieses Spektakels befindet sich das Spielfeld, im Hintergrund die Gegentribüne des Stadions. Das Banner überragt den ganzen Unterrang. Der Wind zerrt immer stärker daran, die Stoffbahn wölbt sich, die Stangen biegen sich. Verzweifelt versuchen die Männer und Frauen das Gleichgewicht des Konstrukts wieder herzustellen und das Umfallen zu verhindern. Ein Knacken. Die erste Stange bricht, die zweite folgt kurz darauf, beide konnten dem Wind nicht mehr standhalten. Das Banner beginnt zu kippen. Hilflose Gesichter blicken sich um, doch zum Glück sind die Tribünen noch leer und bis zur finalen Durchführung der Choreografie noch acht Stunden Zeit. Die erste Probe hat einige Probleme offenbart.
Die deutsche Fußballnationalmannschaft der Männer ist heute zu Gast im Südwesten Nürnbergs. Die Vorbereitung für die Fußball-EM im eigenen Land bietet auch für das Choreoteam des DFBs die optimale Bühne, Fußballdeutschland in EM-Stimmung zu bringen. Mehr als 40.000 Menschen im Stadion und über 9 Millionen Menschen zuhause vor dem Fernseher werden am Ende das höhepunktarme Spiel verfolgen. Die Komplikationen mit den Stangen während der Vorbereitung der Choreografie bleiben ihnen verborgen. Am Abend bekommen sie ein Gesamtbild zu sehen, das ihnen im Gedächtnis bleiben wird. Karsten Daebel ist dafür verantwortlich, dass das Bild am Ende steht. Der 47-jährige Versicherungs- kaufmann ist Chef und Kopf des Choreoteams.
Entstanden ist das Team 2006 im Rahmen der Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land. Seitdem ist Karsten der Chef der Gruppe, die ein eigenständiger Teil des Fanclubs der deutschen Nationalmannschaft ist. Im Stadion kann man klar erkennen, wo er dazugehört: seinen grauen Adidas-Hoodie ziert auf der Brust das DFB-Wappen, auf dem Rücken trägt er die Aufschrift „Choreoteam“. „Man wollte beim Heimturnier gerne Choreos haben. So ist damals ein Team entstanden“, erzählt Karsten in einer ruhigen Minute auf den Treppenstufen im Nürnberger Oberrang. Während die Mitglieder zu Beginn vor allem aus Karstens Bekanntenkreis in der Region Mannheim stammten, sind es mittlerweile rund 60 Leute aus ganz Deutschland, auf die der Chef zählen kann. Mit ihnen sorgt er seither bei jedem einzelnen Heimspiel der deutschen Fußballnationalmannschaft dafür, dass die Mannschaft durch ihre Fans angemessen begrüßt wird.
Zur angemessenen Begrüßung trägt auch Carsten bei. Er ist 57 Jahre alt und seit eineinhalb Jahren im Ruhestand. Die Länderspiele der Nationalmannschaft hat der Kölner schon immer verfolgt, dank des Choreoteams kann er regelmäßig vor Ort sein. „Ich bin 2006 in den Fanclub eingetreten und 2007 gab es eine Ausschreibung, dass das Choreoteam Leute sucht. Seitdem bin ich dabei.“ Abseits seiner Fußballleidenschaft besitzt er eine Dauerkarte für das Eishockeyteam Kölner Haie und war auch schon beim deutschen Handballpokalfinale. „Mein Leben ist auf Sport ausgerichtet“, fasst er seine Leidenschaft passend zusammen.
Heute richtet er das Banner aus und steht mit ernstem Blick auf der Tartanbahn unter der Nürnberger Gegentribüne. Nach der ersten Probe muss der ursprüngliche Plan für die Choreografie noch einmal überdacht werden. Das Banner ist inzwischen samt den Stangen zusammengerafft und lehnt an der Brüstung des Unterrangs. Das Choreoteam versammelt sich um die beiden Stellen, an denen die Konstruktion repariert werden muss. Ersatzmaterial für die beiden gebrochenen Stangen ist da. Sollte eine weitere brechen, steht das Vorhaben für den Abend auf der Kippe. Die Mienen des Choreoteams sind angespannt, denn ihre Lösungsmöglichkeiten sind eingeschränkt. Spätestens zur Stadioneröffnung um 18:45 Uhr müssen alle Vorbereitungen abgeschlossen sein. Etwas abseits der Gruppe stehen Karsten und Arthur. Die Beiden sind intensiv in ihr Gespräch vertieft.
Arthur vertritt den Ausstatter des Choreoteams, der die Materialien für die Choreografien bereitstellt. Der 27-Jährige ist zum zweiten Mal dabei und trägt einen dunklen Trainingsanzug, auf dessen linker Brust das Logo des Ausstatters prangt. Für die heutige Choreo hat er neben dem Spruchbanner auch sechs- bis siebentausend Papptafeln mitgeliefert. Auf der Tribüne werden sie später eine Deutschlandflagge ergeben und das Gesamtkunstwerk vervollständigen. „Das Spruchbanner müssen wir drucken lassen“, merkt Karsten an. „Malen schaffen wir zeitlich nicht.“ So verlieren ihre Choreos eine prägnante Eigenschaft, die sie im Vereinsfußball auszeichnet: die detaillierte Handarbeit, die in die riesigen Bilder gesteckt wird. Je detaillierter, desto beeindruckender werden sie wahrgenommen. Doch das Choreoteam des Fanclubs der Nationalmannschaft ist nicht vergleichbar mit den Fanszenen von Vereinen. Heute sind nur 26 Mitglieder vor Ort, um die gesamte Choreo vorzubereiten sowie am Ende auch durchzuführen. Bei den Vereinen hingegen sind es deutlich mehr Leute. Zudem kommen die Mitglieder des Choreoteams aus den verschiedensten Ecken Deutschlands. „Heute sind Leute dabei aus Dresden, Erfurt, zwei aus Nürnberg, München, Gelsenkirchen und Frankfurt. Wir haben jede Ecke so ein bisschen“, erzählt Karsten. „Einer ist oft dabei, der kommt aus Fehmarn. Der fährt das alles mit dem FlixBus und hockt da zwölf Stunden drin.“ Eine zentrale Vorbereitung der Choreos, bei der beispielsweise Banner bemalt oder Folien zurechtgeschnitten werden, ist so nicht möglich. Nur an den Länderspieltagen kommen die Mitglieder des Choreoteams zusammen. „Wir sind alle Einzelkämpfer, kommen von unterschiedlichen Vereinen aus unterschiedlichen Regionen“, stimmt auch Carsten zu. Zusammen bilden sie im Choreoteam jedoch eine Gemeinschaft.
Der Ball rollt erst in ein paar Stunden, doch vorher gibt es noch viel zu tun. Die Mitglieder des Choreoteams sind jetzt wieder mit den Stangen beschäftigt. Karsten und Arthur haben sich mittlerweile darauf geeinigt, die Teleskopstangen, die im Banner stecken, zu kürzen. Eine mögliche Lösung für das zu hohe Banner? Erst die Schelle mit dem Schraubenzieher lösen, dann ein Element aus der Stange entfernen. Das ganze Prozedere muss bei allen 26 Stangen wiederholt werden. Gemeinsam versuchen die Teammitglieder alles für die finale Durchführung fertig zu bekommen. Hierfür müssen auch alle farbigen Pappen rechtzeitig auf der Tribüne verteilt werden, sonst war die ganze harte Arbeit umsonst und die Choreografie wird statt eines Kunstwerks zu einem Desaster.
Diesen Worst-Case wollen auch Alex und Lea vermeiden. Mit 22 und 23 Jahren sind die Beiden die Jüngsten im Team. Lea stammt aus der Nähe von Halle und ist durch ihren Vater zum Choreoteam gekommen. „Ich bin irgendwann mitgefahren und so auch beim Choreoteam gelandet“, sagt die 23-Jährige, die eine von zwei heute anwesenden Frauen aus dem Team ist. Ihre Motivation für die Choreo-Arbeit: „Auf jeden Fall die Leidenschaft zum Fußball.“ Diese Leidenschaft zeigt sich bei ihr schon dadurch, dass sie prinzipiell bei jedem Spiel der Nationalmannschaft dabei ist, egal ob Testspiel zuhause oder WM-Turnier in Katar. Und auch der Männerüberschuss macht ihr nichts aus: „Fußball ist ein Hobby, bei dem man sich als Frau daran gewöhnt, unter Männern zu sein. Ich finde es in Ordnung, sonst würde ich es wahrscheinlich auch nicht machen.“ Einer der rund 50 Männer, von denen Lea umgeben ist, ist Alex. Der Fußballmanagement-Student ist seit mehr als zwei Jahren im Team dabei. Warum? „Ich bin fußballbegeistert. Außerdem sind es die Leute, wegen denen ich fahre.“ Fußball bestimmt das Leben des Stuttgarters. Das merkt man daran, dass er nicht nur bei allen Spielen der Nationalmannschaft vor Ort ist, sondern auch bei denen des VfB Stuttgart.
Gleich steht die finale Probe an. Die Teammitglieder stehen jetzt erneut an den Stangen bereit. Ist das Banner durch die Kürzung der Stangen jetzt auf der richtigen Höhe? Oder wurde es zu groß bestellt? Müsste die Choreo dann vielleicht sogar ganz ohne das Banner auskommen? Fragen, deren Antworten das Vorhaben gefährden können. Doch jetzt muss das Banner erst einmal nach oben gestemmt werden. Langsam erhebt sich die lange weiße Stoffbahn mit der schwarz-rot-goldenen Schrift. Von außen nach innen türmt sich das Spruchband wie eine Welle vor der leeren Tribüne auf, bis es die Mitte erreicht hat. Es steht. Doch stimmt die Höhe? Arthur läuft auf die andere Seite des Stadions, wo später die Fernsehkamera stehen wird. Karsten hält jetzt mit einer Hand das Banner, mit der anderen geht er an sein Telefon. Nach einem kurzen Gespräch steckt er das Handy wieder in seine Jeans und gibt den Daumen hoch. Mit den gekürzten Stangen wurde das Problem gelöst. Erleichterung macht sich breit. Doch später muss auch bei der richtigen Choreografie alles passen. Dann ist nicht nur das Choreoteam gefragt, sondern auch die Zuschauer:innen, die die Pappen hochheben müssen. Alles hängt von ihnen ab.
Das Stadion füllt sich langsam. Die mehr als 40.000 Zuschauer:innen nehmen ihre Plätze ein. Auch auf der mit schwarzen, roten und goldenen Pappen ausgelegten Gegentribüne sind mit wenigen Ausnahmen alle Sitze belegt. Die klare Anweisung auf den farbigen Pappen: „Bitte das Papier entfalten und beim Einlauf der Mannschaften hochhalten.“ Wer selbst diesen Aufdruck nicht bemerkt, dem präsentiert das Choreoteam vor Spielbeginn auf einem großen Banner noch einmal die genaue Aufgabenstellung: „Bitte zum Einlauf der Mannschaften das Papier hochhalten.“
Für das Choreoteam beginnt jetzt die entscheidende Phase des Tages. Im Zugangstor zum Stadioninnenraum unter der Nordkurve versammeln Karsten und Arthur das Team für eine letzte Ansprache. Auf dem Spielfeld wärmen sich die Spieler auf, im Hintergrund bereitet der Stadion-DJ die Zuschauer:innen auf das Spiel vor. Mit jeder Minute, die vergeht, spürt man die Vorfreude steigen. Die Anweisungen sind jedem Teammitglied klar: Der Befehl zum Aufstellen des Banners wird von rechts kommen, während die Zuschauer:innen im Hintergrund die Pappen heben. Sobald die erste Nationalhymne erklingt, muss das Banner wieder gesenkt werden. Zudem wird heute nach den Hymnen in einer Schweigeminute dem verstorbenen Ex-Weltmeister Bernd Hölzenbein gedacht. Für das Choreoteam heißt das: Warten, bis die Schweigeminute vorbei ist. Erst dann kann das Banner aus dem Innenraum gebracht werden. Ob sich die Anstrengungen und der Aufwand jedes einzelnen Mitglieds gelohnt haben, stellt sich in den folgenden Minuten heraus. Das Team macht sich auf den Weg, das Banner auf der Tartanbahn auszubreiten.
Den Stress, die ganze Arbeit und die dafür verwendeten Urlaubstage sind es, die jedes einzelne Mitglied des Choreoteams auf sich nimmt. Nur so können sie bei jedem Spiel aufs Neue das eigene Land repräsentieren. „Für mich sind Choreos das Bild der Kurve. Ob bei der Nationalmannschaft oder dem Verein, das gehört dazu“, bringt Alex es auf den Punkt. Bis auf ein oder zwei Spiele hat er in den letzten Jahren daheim und auswärts keines verpasst. Stolz auf das Team? Keine Frage: „Man zeigt, wer wir sind.“
Das macht er auch jetzt. Es geht los. Die Einlaufmusik beginnt und die Spieler betreten den Rasen. Der entscheidende Moment ist gekommen: langsam, aber sicher wird das Banner aufgerichtet. Ein kurzer Moment der Anspannung, dann steht es. Alles funktioniert, auch die Zuschauer:innen auf der Haupttribüne machen mit: Über dem Banner erhebt sich eine durch die Pappen erschaffene Deutschlandfahne. Nur wenige Sekunden richtet sich die Aufmerksamkeit der Kameras auf das Kunstwerk, dann stellen sich die Spieler für die Nationalhymnen auf. Das Banner senkt sich wieder, auf der Tribüne zerfällt die Deutschlandfahne. Doch die Arbeit ist noch nicht getan. Beim Anpfiff muss das Banner aus dem Stadion gebracht werden. Sobald die Schweigeminute beendet ist, beginnen die Mitglieder des Choreoteams, das auf dem Boden liegende Banner an den Stangen zusammenzuraffen und aus dem Stadion zu bringen. Erst wenn das Banner aus dem Stadion geschafft wurde und das Team dabei keine Aufmerksamkeit von Zuschauer:innen oder Fernsehkameras auf sich gezogen hat, kann die Choreo als erfolgreich verbucht werden. Im Zugangstor der Nordkurve steht ein Feuerwehrfahrzeug im Weg, die Stangen verhaken sich am Wagen. Die Anspannung entlädt sich in einigen verärgerten Rufen. Erst als die gesamte Prozession aus Banner, Stangen und Choreoteam am Fahrzeug vorbei ist und außerhalb des Stadioninnenraums steht, fällt die Anspannung vollends ab. Freude und Erleichterung über die gelungene Choreo kommen auf. Auf den Fernsehbildschirmen wurden genau die Bilder erzeugt, die man sich gewünscht hat. Jetzt müssen nur noch die Stanger aus dem Banner entfernt und in ihre Einzelteile zerlegt werden. In vier Tagen braucht das Team um Karsten sie wieder – dann folgt der zweite Teil der Choreografie. Beim Länderspiel in Mönchengladbach wird der Liedtext der Sportfreunde Stiller vervollständigt. Das Team wird samt dem Material vor Ort sein und für weitere unvergessliche Erinnerungen sorgen.
Um das jedes Mal wieder auf sich zu nehmen, muss man positiv verrückt sein, meint Karsten. Er spürt den Stolz auf das Nationalteam. Viele Freundschaften sind inzwischen entstanden. Ein Länderspieltag ohne die Choreos ist kaum mehr vorstellbar. Doch wie lange wird Karsten das Team noch leiten? „Solange es Spaß macht“, antwortet er, ohne dabei an ein Ende zu denken.
Nach getaner Arbeit versammelt sich das Team in der Südkurve. Dort lässt es den Spieltag ausklingen und fiebert mit der Mannschaft mit. Nach dem Abpfiff geht es für alle gemeinsam ins Hotel, um dort den Abend ausklingen zu lassen. Am nächsten Tag werden sie alle in ihren Alltag zurückkehren. Oder um es mit Karstens Worten zu sagen: „Choreo gut, Spiel gut, heim.“ Bis zum nächsten Länderspiel.
Sophie Mischner & Simon Pohler
Wir sind selbst Fußballfans und Choreografien haben uns schon lange beeindruckt und fasziniert. Der Blick hinter die Kulissen der aktiven Fanszene war eine Erfahrung, die in Erinnerung bleibt.
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