Wie weit würdest du gehen?
Hugo Rittel ist ein 22-jähriger Potsdamer, den eine ganz besondere Beziehung zu seiner Oma auszeichnet. Renate ist eine von über 180.000 Personen, die in Deutschland an Corona gestorben sind. Für sie ist ihr Enkel von Potsdam bis an den Gardasee gewandert.
Julia Reiner & Tabea Widler
„Meine Oma war alles für mich. Wie eine beste Freundin, nur etwas älter.“
So spricht Hugo von seiner Oma Renate
Hugos Reise beginnt am 24. Mai 2021, genau einen Monat nach dem Tod seiner Oma Renate, um kurz nach 10 Uhr morgens. Sein Startpunkt ist Schloss Sanssouci, von dort geht es Richtung Süden. Eine richtige Route hat er zunächst nicht, er folgt einfach dem Kompass seines Handys in Richtung Süden – in Richtung Gardasee. Später nutzt er eine Wander-App, um Wege zu finden. Seine Oma ist dabei seine treue Begleiterin, fest eingeschlossen in seinem Herzen. Immer griffbereit außerdem ihr Lieblingskettenanhänger. Die erste Nacht verbringt er im Zelt, draußen regnet es.
Die Reise zum Gardasee ist eine spontane Aktion. Es war das Traumziel seiner Oma. Er möchte mit seiner Wanderung einerseits Renates großen Wunsch erfüllen und andererseits sich selbst beweisen, dass er Dinge auch durchziehen kann und es einen Grund gibt, stolz auf ihn zu sein. Hugo ist aber kein Wanderer. „Ich hab noch gar keine Erfahrung, bin selbst, als ich mit meiner Mutter im Wanderurlaub war, im Hotel geblieben und bin nicht mit Wandern gegangen, weil ich da keine Lust drauf hatte. War nicht mein Ding.“
Wanderschuhe hat er nicht, er läuft in weißen Turnschuhen los und auch den Rest der Ausrüstung – Wanderrucksack, Zelt, Isomatte, Schlafsack – leiht er sich aus. Er ist Raucher und untrainiert. Optimale Voraussetzungen für eine über 900-Kilometer-Wanderung, inklusive Alpenüberquerung, sehen anders aus.
Hugo wird in Potsdam geboren, seine Mutter ist damals alleinerziehend. Als er gerade zwei Monate alt ist, zieht sie mit ihm nach Thüringen, um näher an ihren Eltern und ihrer Schwester zu leben. Für ihn bedeutet das, dass er in seiner Kindheit viel Zeit mit seiner Tante und seinen Großeltern verbringen kann.
Als er sechs Jahre alt ist, gehen er und seine Mutter zurück nach Potsdam. Am Umzugswagen verspricht er seiner Oma, dass er zurück nach Thüringen zieht, sobald er 18 Jahre alt ist. Aber auch schon vorher besucht er Renate regelmäßig zwei bis drei Mal pro Jahr. Zunächst immer mit seiner Mutter, mit acht Jahren dann das erste Mal auch alleine.
Und das Versprechen, das er seiner Oma als Sechsjähriger am Umzugswagen gegeben hat, erfüllt er. Kaum 18 Jahre alt landet er wieder in Thüringen, auf dem Sofa seiner Tante, so wie er es seiner Oma vor zwölf Jahren versprochen hatte.
Für ihn ist es gleichzeitig auch eine Flucht. Aus einem Leben, in dem er wenig Perspektive sieht. Nach seinem Hauptschulabschluss beginnt er mit 16 Jahren eine Lehre, die er aber wieder abbricht. Er lebt in seiner eigenen Welt, macht viel „Jugendlichen-Mist”, wie er es selbst nennt, und trinkt zu viel. Mit Gelegenheitsjobs hält er sich über Wasser. In den nächsten vier Jahren probiert er sich als Tellerwäscher und Pizzabäcker, ist bei einer Zeitarbeitsfirma angestellt und arbeitet als Verkäufer in verschiedenen Einzelhandelsgeschäften. Wirklich gut tut ihm das alles nicht. Er ist untergewichtig und unzufrieden mit seinem Leben.
Das alles wird besser, als er von Potsdam wieder nach Thüringen zieht. Vom Haus seiner Tante sind es nur zehn Minuten zu seiner Oma, die er vier bis fünf Mal die Woche besucht. Nach der Arbeit verschlägt es ihn in der Regel direkt zu Renate. Er geht einkaufen, bringt Sachen weg und verbringt so viel Zeit mit ihr wie möglich. In seinem ersten Jahr zurück in Thüringen nimmt er 20 Kilogramm zu. Er wird und lebt gesünder.
Die beiden reden viel, trinken Bier aus Plastikflaschen, weil für mehr kein Geld da ist, und lästern gemeinsam über die Leute, die unterhalb des Balkons vorbeilaufen.
Aber auch das Reisen ist immer ein Thema. Renate war selbst nie im Ausland. Aber der Gardasee hat es ihr angetan. Warum ausgerechnet der Gardasee, weiß auch Hugo nicht.
“Das war irgendwie kurios. Egal, was über den Gardasee im Fernsehen gezeigt wurde, sie hat es angeschaut. Selbst wenn es eine Doku über irgendeine Weinsorte war, die da angebaut wird, hat sie sich das angeguckt, einfach weil es am Gardasee war. Dabei hat meine Oma nicht mal gerne Wein getrunken.”
Einmal den Gardasee mit eigenen Augen sehen – das ist der große Traum von Renate. Für sie selbst sollte sich dieser Wunsch nicht erfüllen. Wie bei so vielen anderen ließ Corona auch diesen Traum zerplatzen. Im Frühjahr 2021 erkrankt die ganze Familie an dem Virus. Während Hugo lediglich einen leichten Verlauf hat, erwischt es seine Oma stärker. Am 24. April 2021 verstirbt sie. An Corona, aber dennoch ohne Vorwarnung und für Hugo völlig überraschend.
Hugo fasst den Entschluss, dass er ihr ihren Lebenstraum erfüllen will und entschließt sich, für sie zum Gardasee zu wandern.
Schloss Sanssouci - Start Tag 1
Beelitz - Tag 2
Jüterbog - Tag 2
Niedergörsdorf - Tag 4
Wittenberg - Tag 6
Kemberg - Tag 8
Lubast - Tag 8
Leipzig - Tag 14
Zeitz - Tag 16
Gera - Tag 24
Elsterperle - Tag 25
Plauen - Tag 25
Grenze Bayern - Tag 27
Trogen - Tag 27
Weißdorf - Tag 31
Wolkenbrunnen - Tag 37
Schwarzenbach a. d. Saale - Tag 31
Pottenstein - Tag 39
Schleuse Leerstetten - Tag 43
Spaßwanderweg Thalmässing - Tag 43
München - Tag 47
Tegernsee - Tag 57
Königsalm - Tag 57
Blaubergalm - Tag 57
Fügen - Tag 60
Grenze Italien - Tag 62
Sterzing - Tag 63
Meran - Tag 66
Gardasee - Ankunft Tag 72
Klicke auf die Symbole, um dir Hugos Reise durch seine Augen anzusehen.
Auf Instagram und TikTok nimmt er Interessierte mit auf seine Reise. Er hält sie mit täglichen Videos auf dem Laufenden und freut sich über ihre Unterstützung und ihren Zuspruch. Schon in der zweiten Nacht schläft er bei einem Zuschauer und dessen Mutter. Etwas nervös ist er vorab schon, schläft er doch einfach bei fremden Leuten. Er schickt seiner Mutter und seinen Kumpels sowohl seinen Live-Standort auf WhatsApp als auch Screenshots der Profilbilder der beiden Gastgeber:innen. Sicher ist sicher. Letztlich läuft alles glatt, er fühlt sich sehr wohl und es ergeben sich spannende Gespräche.
„Die Mutter war Feng-Shui-Beraterin, und als wir dann abends am Essenstisch saßen, starrte sie auf einmal an mir vorbei, direkt hinter mich. Als ich sie fragte, was los sei, meinte sie, dass sie das jetzt nicht sagen könne. Ich habe dann nochmal nachgefragt, was sie denn sieht, mit ihrer Antwort habe ich aber nicht gerechnet. Sie meinte dann, dass meine Oma hier im Raum stehen würde. Ich hatte Gänsehaut am ganzen Körper.“
In den ersten zwei Wochen seiner Wanderung läuft er immer 15 bis 20 Kilometer pro Tag. Er baut aber auch Pausentage ein, an denen er nicht weiterläuft und stattdessen den Ort, an dem er sich gerade befindet, erkundet. Er hat keinen Stress, sieht den Weg als das Ziel. Auch wenn er die Tage zählt, bis er ankommt, weiß er, dass er keine Eile hat.
Ans Aufgeben denkt er nie. Zu groß ist die Motivation, diese Reise für Renate zu beenden. Ihr durch seine Augen einmal den Gardasee zu zeigen und ihr so ihren letzten großen Wunsch zu erfüllen. Dazu kommt mittlerweile eine beachtliche Followeranzahl. Auch die will er nicht enttäuschen, weil sich viele ihm öffnen, ihre Geschichten mit ihm teilen und ihn so emotional berühren.
Am 20. Juni 2021 (Tag 27) erreicht er das nächste Bundesland und kommt in Bayern an. Auch hier erlebt er einen unerwarteten, emotionalen Moment. Obwohl er eigentlich gar keine Pause gebraucht hätte, setzt er sich auf eine Bank. Er dreht sich eine Zigarette, schaut nach oben und denkt über seine Oma, ihre gemeinsame Geschichte und seine Reise nach. Er nutzt die Gunst der Stunde und richtet Worte nach oben: „Ey, wenn es dich wirklich gibt, dann gib mir irgendein Zeichen. Ist meine Oma bei dir da oben? Geht es ihr gut?“
Er ist nicht überrascht, dass er niemanden hört. Eine Antwort erhält er dann aber auf eine andere Art und Weise. Um sich vor dem Weiterlaufen neu zu orientieren, schaut er auf sein Navi und erkennt, dass der Ort, an dem er sich gerade niedergelassen hatte, im Naturschutzgebiet Himmelreich liegt.
Als er am Abend mit seiner Mutter telefoniert, erzählt er ihr davon. Er sagt ihr auch, dass er ab sofort ganz sicher an Gott glaubt, wenn er nur noch ein Beispiel findet. Und dieses Zeichen erhält er. „Ich habe dann die Nachttischschublade aufgemacht, darin lag eine Bibel. In dieser Bibel war bei einer Seite ein Knick drinnen, und als ich sie genau an der Stelle aufgeschlagen habe, war das erste Wort, das mir ins Auge gestochen ist, das Wort ‚Himmelreich‘. Das war dann für mich irgendwie die Bestätigung, dass es da oben doch jemanden geben muss.“
Je südlicher er kommt, desto mehr wird ihm bewusst, dass die Alpenüberquerung, und somit wohl auch die schwerste Etappe seiner Tour, immer näher kommt. Gleichzeitig wächst aber auch seine Vorfreude genau darauf.
Am 20. Juli 2021 (Tag 57) der Reise beginnt sie offiziell – die Alpenüberquerung vom Tegernsee nach Sterzing. Der erste Tag führt ihn direkt bis zur Blaubergalm und damit nach Österreich. Der Tag ist anstrengend, aber er lässt sich seine Freude nicht nehmen.
„Ich werde es Oma einfach zeigen, ich werde Oma beweisen, dass ich es für sie mache. Dass ich es schaffe. Nur positive Energie gerade.“
Dennoch gibt es auch harte Momente. „Es gab Tage, da habe ich geheult und war total fertig. Ich bin Berge hochgelaufen und jedes Mal, als ich dachte, dass ich die Spitze erreicht habe, habe ich gesehen, dass ich doch noch weiter hoch muss. Da habe ich auch mal den Berg angeschrien oder einen Ast in den Wald geworfen.“
Aber er wusste, dass er den Berg ohnehin selbst wieder runterlaufen muss und er daher auch einfach direkt weiterlaufen kann.
„Und irgendwann bist du dann in der Mitte Deutschlands, irgendwann im Süden von Deutschland und irgendwann kommt dann ‚Grenze Österreich‘ und du denkst dir so ‚Boah, bin ich eigentlich komplett verrückt? Ich bin gerade ohne Plan nach Österreich gelaufen.‘ Das sind Momente, wo du anfängst nachzudenken, ob eigentlich alles gut ist mit dir. Aber dann stehst du irgendwann klitschnass in einem Unwetter auf einem Berg und siehst plötzlich die Italien-Flagge. Und du weißt, du brauchst nur noch so eine Woche, vielleicht anderthalb, und das hat es dann schon sehr krass gemacht.“
Den 60. Tag der Wanderung beschreibt er als den schwersten Tag der gesamten Reise. Schmale, rutschige Wege, die ihn nur knapp am Abhang vorbeiführen, lassen ihn ins Schwitzen kommen und erfordern seine volle Konzentration.
Nicht immer hat er während der Alpenüberquerung das Glück, eine Hütte zu finden, auf der er übernachten kann. Es gibt auch Abende, an denen er sein Zelt aufbauen muss und nahezu ungeschützt auf knapp 2.000 Metern Höhe darin schläft. Wirklich erholsam sind diese Nächte nicht.
Die Euphorie und Vorfreude auf die Berge und die Überquerung, die er kurz nach München noch mit seinen Followern teilt, ist mittlerweile Frustration gewichen. „Diese Berge. Ich fahre fünf Jahre nicht in die Alpen, weil ich auf die Scheiße einfach keinen Bock mehr habe.“
Um seinem Ärger Luft zu machen, nimmt er Äste und wirft sie vor sich auf den Boden. Insgesamt braucht er sieben Tage, um die Alpen vom Tegernsee nach Sterzing zu überqueren.
Den nächsten Meilenstein erreicht er am 24. Juli 2021. Für ihn „einer der glücklichsten und traurigsten Tage meines Lebens.“
Er kommt in Italien an. Und Hugo weiß jetzt, dass sich seine Wanderung dem Ende zu neigt und er nun in seinem Zielland angekommen ist.
Mit dem neuen Land kommen neue Herausforderungen. Statt Müsliriegeln kauft er aus Versehen Müsli. „Ich traue mich auch gar nicht, Brot und Brötchen zu kaufen, weil man die abwiegen muss. Ich check da aber gar nichts. Deshalb hole ich mir immer irgendwelche Fertigmahlzeiten, die ich direkt essen kann und die einen Einheitspreis haben.“ Hin und wieder übersieht er auch den Hinweis, dass eine gekaufte Mahlzeit vor dem Essen noch in die Mikrowelle gestellt werden sollte, er isst sie dann roh.
3. August 2021. Der große Tag ist gekommen. Er kommt an – am Gardasee, am Sehnsuchtsort seiner Oma Renate. Nach 72 Tagen und 1.200 zurückgelegten Kilometern erreicht er sein großes Ziel. Den emotionalen Moment teilt er, zumindest über das Telefon, mit seinen Eltern. „Ich war tatsächlich einfach nur glücklich und kein bisschen traurig. Die Reise war meine Trauerbewältigung, die Ankunft dann reine Glückseligkeit.“
Dass es nicht nur eine Art der Trauerbewältigung gibt, bestätigt Nicole Methner, Psychologin mit langjähriger Erfahrung in der Hospizarbeit. Im Podcast erzählt sie mehr über Trauer und gibt Tipps, wie man damit umgehen kann.
Den ersten Tag am See zählt Hugo auch zu seiner Wanderung. Er verlängert sie somit symbolisch auf 73 Tage – ein Tag für jedes Lebensjahr seiner Oma.
Anfangs denkt er, er wird nach seiner Ankunft noch lange am Gardasee bleiben. Tatsächlich zieht es ihn aber nach drei Tagen schon nach Verona, von wo aus er den günstigsten Flug nimmt, den er bekommt. Er hat das Gefühl, er müsse direkt wieder etwas erleben.
„Ich konnte dann auch irgendwie nicht einfach am Gardasee sein, das war komisch. Ich hatte ja alles erledigt. Ich war da, ich war einmal am See und dann war ich in diesem Hotel und war alleine, habe aber eigentlich damit abgeschlossen gehabt, sobald ich ankam.“
Irgendwann möchte Hugo seine Wanderung wiederholen. Vielleicht in fünf Jahren, vielleicht in zehn, vielleicht wenn er selbst irgendwann Kinder hat. Vielleicht klappt das aber auch nicht und es bleibt für immer die Reise seines Lebens. Eines ist ihm aber klar: Eines Tages möchte er ein Haus am Gardasee kaufen. Für Renate, seine Oma.
Bist du stolz, Mama?
Dass der Gedanke, einen verstorbenen Angehörigen stolz machen zu wollen, aber auch sehr vereinnahmend und lähmend sein kann, zeigt die Geschichte von Lidia. Im Video erzählt sie vom Tod ihrer Mutter, dem Umgang mit ihrer Trauer und was ihr geholfen hat, wieder zu leben und nicht mehr nur zu überleben. Sie erklärt auch, welche Rolle dabei ihre eigene Hilfsorganisation spielt, die sie gegründet hat, um Kindern in Ghana zu helfen.
Julia Reiner & Tabea Widler
Durch unser Projekt hatten wir die Möglichkeit, zahlreiche spannende Geschichten zu lesen und uns intensiv mit einem Thema zu beschäftigen, über das man normalerweise eher ungern spricht.
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