Ein Zufluchtsort für Obdachlose: Die Nürnberger Notschlafstelle „Hängematte“. Zwischen Hoffnung und Sucht kämpfen Jenny und ihr Team um ein Stück Sicherheit für die, die sonst keine haben.
Von Ben Guttenberger

19:26 Uhr: „Macht ihr bitte Platz und räumt euren Müll weg?“, sagt Jenny zu den Obdachlosen, die in dem zurückgesetzten Hauseingang eines Mietshauses liegen. Sie kennt sie alle nur zu gut, ihr Alter, ihre Namen und ihre Geschichte. So grüßt sie einige, während sie sich über den klebrigen Fliesenboden vorsichtig an ihnen vorbeischlängelt, die schwere Haustüre aufsperrt und schnell wieder zuzieht. Jenny steigt die Treppen nach oben bis in den zweiten Stock, wo sie eine große, von innen alarmgesicherte Gittertür erreicht. Diese Tür erinnert stark an eine Gefängnistür, jedoch kann man dahinter einen Empfangsbereich erkennen, der durch den mit buntem Mosaik besetzen Tresen an eine dekorierte Jugendherberge erinnert. Sieht man sich um erkennt man eine kleine Küche mit Esszimmer und Tischkicker, weitere vier Räume grenzen daran. Es gibt eine Vorratskammer, ein Wäschezimmer, ein Büro hinter dem Tresen und ein Zimmer in dem man durch große Fenster neben der Tür zwei Ecksofas mit Tisch und Fernseher erkennt und das sie und ihre Kolleg:innen einfach „Raucherzimmer“ nennen. Pünktlich, um in 20 Minuten die Tore für die außen wartenden Obdachlosen zu öffnen erscheinen Jennys Kollege Tim und die Praktikantin Sabrina. Jenny begrüßt sie herzlich vor dem Tresen, über dem in einem Bogen alte Schallplatten angebracht sind. In Großbuchstaben ist dort „HÄNGEMATTE eV. NOTSCHLAFSTELLE“ zu lesen.
15 Notschlafstellen für 2400 Obdachlose
Der Verein Hängematte ist seit 1987 Teil der Nürnberger Drogenhilfe und damit eine der 15 Notschlafstellen für die geschätzten 2400 Obdachlosen der Stadt. Jede Nacht bietet das vierstöckige Haus in der Nürnberger Südstadt bis zu 22 Menschen einen geschützten Platz zum Schlafen, Essen, Duschen und Wäsche waschen. Immer dabei sind zwei der 12 festangestellten Sozialpädagogen, um einen friedlichen Ablauf zu garantieren. Sie helfen bei persönlichen Problemen der Klienten und ermutigen sie zu Schritten wie Substitution oder gar Entzügen. Die Hängematte setzt auf Eigenverantwortung. Die Klienten kochen gemeinsam und selbstorganisiert, müssen alle Räume stets ordentlich hinterlassen und waschen auch ihre Wäsche größtenteils selbstständig. Das hilft lebenspraktische Fähigkeiten und soziale Kompetenzen zu erhalten, welche durch ein Leben auf der Straße verloren gehen. Hauptsächlich wird der Verein durch den Bezirk Mittelfranken und die Stadt Nürnberg finanziert.
19:42 Uhr: Es klingelt an der Haustür. Über das Telefon, dass Jenny immer bei sich trägt, aktiviert sie die Freisprechanlage. Sie hört kurz zu, bevor sie sich zu Tim dreht und hastig ruft: „Thomas ist gestürzt!“ Sie rennen zur Gittertür, schließen sie auf, das Treppenhaus hinunter, zur Haustüre hinaus, bis sie sich in dem zurückgesetzten Hauseingang befinden. Dort liegt Thomas. Er ist nicht bei Bewusstsein. Der Verband um seinen Kopf, der die Stelle bedeckt, an der ihm ein Stück Schädeldecke fehlt, ist dem Team schon bekannt. Er schläft schon eine gewisse Zeit hier. Um Thomas herum stehen die anderen Klienten. Sie rufen laut, streiten, diskutieren, drohen einander Schläge an. Routiniert beruhigt Jenny die aufgebrachten Frauen und Männer und bringt sie dazu, den Hauseingang zu räumen, während Tim den Puls und die Atmung des noch immer nicht ansprechbaren Thomas überprüft. Thomas Pupillen sind auf Stecknadelgröße. Die Symptome kennt Jenny gut. Thomas hat vermutlich Spice konsumiert.
Nicht ohne Grund hängen in der ganzen Einrichtung Warnposter, auf denen steht: „Konsum von Spice, Alk(ohol), H(eroin) C(rack), … führt zu Hausverbot, auch der Verdacht!“ Thomas Reaktion ist typisch für diese Droge. „Oftmals sind Klienten nach dem Konsum wie ausgeknockt. Manchmal sogar für bis zu drei Stunden. Die Dealer strecken es mit allem möglichen, von Rattengift bis Crack. Dadurch sind der Rausch und die Reaktion der Konsumierenden unberechenbar“, erklärt Jenny. Sie ruft einen Krankenwagen, mehr kann sie gerade nicht für Thomas tun.
In den frühen 2000er Jahren konnte in Online-Shops eine neue Droge unter der Verkaufsbezeichnung „Räucherware“ erworben werden. Tatsächlich ging es dabei aber um die damals noch legale Droge Spice. Die Wirkstoffe, die Spice enthält, lassen sich nicht pauschal angeben. Auf den Verpackungen wird von seltenen Kräutern und Pflanzen geredet. In Wirklichkeit handelt es sich um synthetische Cannabinoide, die einen Rausch, vergleichbar mit Cannabis erzeugen sollen. Der Rausch ist aber viel stärker und durch die wechselnden Inhaltsstoffe schwer vorherzusagen. Spice kann schnell zu Überdosierungen mit erheblichen gesundheitlichen Risiken und sogar zum Tod führen. In Nürnberg konnte Jenny erstmals 2019 einen Anstieg der Droge feststellen, der sich jetzt zu wiederholen scheint, laut Jenny aber mit einer weit größeren Gewaltbereitschaft der Konsumierenden. Warum genau in Nürnberg die Droge so populär geworden ist, ist nicht genau zu sagen.
Sauberes Spritzbesteck für sicheren Konsum auf der Straße
20:11 Uhr: „Hallöchen, Hereinspaziert!“, sagt Jenny zu den Klienten, während sie die Gittertür mit ein wenig Verspätung aufsperrt. Jeder der Klienten war zuvor schon einmal da. Die meisten haben sogar die letzten Nächte hier verbracht. Nacheinander gehen sie zu Tim an den Tresen. Er überprüft, ob die Klienten sich am Morgen bereits ein Bett reserviert hatten. Auch Thomas, der ohne Absprache mit dem Team wieder aus dem Krankenwagen geschickt wurde, ist mit dabei. Langsam kehrt Leben in die Gemeinschaftsräume ein. Aus dem Wohnzimmer hört man den Fernseher und am Esstisch unterhalten sich die Klienten. Andere beginnen in der Küche selbstständig zu kochen. Schon bald riecht es angenehm nach Essen. Jenny und Tim helfen nur beim Wäsche waschen und Wunden verbinden, kochen und das anschließende Aufräumen sollen eigenverantwortlich erledigt werden. Immer wieder wird Tim nach Spritzbesteck gefragt, welches er aus einer Schublade hinter dem Tresen herausgibt. Nutzen dürfen es die Klienten in den Räumen zwar nicht, aber es trägt stark zu einem sicheren Konsum auf der Straße bei.
20:40 Uhr: Gerade als Tim mit der Bettenzuteilung fertig ist, kommt ein Klient aus dem Raucherzimmer auf ihn zu. Er spricht von einem nicht ansprechbaren Mann auf dem Sofa. Sofort ziehen sich Tim und Jenny Handschuhe an und betreten das Zimmer. Wieder ist es Thomas, der ohnmächtig daliegt. Neben ihm liegt ein leeres Tütchen. Tim vermutet, dass darin Spice war und Thomas es gerade konsumiert hat. Diesmal reagiert Thomas, als Jenny ihm leicht auf seine Wange schlägt. Neben ihnen sitzen andere Klienten. Ohne wirkliche Teilnahme beobachten sie das Geschehen. „Wir schauen gleich nochmal nach ihm“, meint Jenny zu Tim. Sie ist sich sicher, in ein paar Minuten geht es ihm wieder besser.
21:34 Uhr: Thomas stolpert aus dem Raucherzimmer. Er wirkt benebelt und torkelt, als er mit den essenden Klienten am Tisch lauthals das Diskutieren anfängt. Er verschluckt Worte und ist nicht zu verstehen. Er bittet Jenny, noch einmal die Gittertür für ihn zu öffnen, sodass er an die frische Luft kann. Das dürfen Klienten nur bis 22:00 Uhr, sonst riskieren sie, ihren Schlafplatz zu verlieren. Als er wieder zurückkommt, scheint sich seine Laune nicht gebessert zu haben. Ohne ein Wort mit jemanden zu verlieren, verschwindet er in den dritten Stock, wo sich die Schlafräume der Männer befinden.
Das Nürnberger Drogenhilfemodell zeigt Wirkung
21:59 Uhr: Die meisten Klienten sind bereits in ihren zugeteilten Betten. Die anderen liegen wie sediert auf dem Sofa und schauen fern. Nur wenige sind noch gesellig und unterhalten sich. Jenny, Tim und Sabrina kümmern sich um die bürokratischen Aufgaben. Sie überprüfen, dass keiner die 50 erlaubten Nächte überschreitet, die man am Stück in der Hängematte schlafen darf, und führen Protokoll über die heutige Schicht. Plötzlich liegt ein stechender, chemischer Geruch in der Luft. Das Team kennt den Geruch. Einer der Klienten raucht gerade Spice. Es ist schwer zu sagen, wer es genau war. Einige der Klienten im Raucherzimmer haben eine Zigarette in der Hand. Viele hätten es sein können. Der Konsum im Gebäude kommt nicht selten vor, auch wenn er mit Hausverbot bestraft wird.
Noch 2019 hatte Nürnberg mit 34 Drogentoten eine der höchsten Raten bundesweit. Seit 2021 arbeiten Kliniken, Hochschulen und Drogenhilfen eng zusammen und gestalten so das neue Nürnberger Drogenhilfemodell. Um gegen die starke Drogenszene vorzugehen, sammeln sie gemeinsam Daten und erstellen Studien, um effektive Maßnahmen zu entwickeln. Das Nürnberger Drogenhilfemodell zeigt Wirkung. Im Jahr 2023 war die Zahl der Drogentoten in Deutschland zwar auf einem Höchststand. In Nürnberg jedoch sind die Zahlen auf 16 Drogentote gesunken.
23:12 Uhr: Der Rest der Schicht verläuft ruhig. Jetzt steht noch ein Rundgang durch die oberen Stockwerke an. Die meisten Klienten schlafen schon in ihren Betten. Die Gemeinschaftsräume sind leer. Jenny räumt ein paar Teller in den Geschirrspüler, bevor auch sie sich schlafen legt. Nachts ist das Team nur für Notfälle erreichbar. Am nächsten Morgen werden sie die Klienten wecken. Anschließend haben diese Zeit zu frühstücken, sich ein Bett für den Abend zu reservieren und ihre Sachen zu packen. Dann geht es für sie wieder auf die Straße und für Jenny und ihr Team endet eine weitere Schicht in der Hängematte.
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