Ich will, aber ich kann nicht“

Kopfschmerzen, Schwindel und Erschöpfung gehören zu Claudia Kirschners Alltag.
Wie lebt es sich, wenn man chronisch krank ist und keine Hilfe bekommt?

Claudia Kirschner sitzt leicht nach hinten gelehnt auf dem bunt gepolsterten Gartenstuhl am Ende der langen Terrasse. In der idyllischen Wohnsiedlung am südlichen Rand von Landau ist es angenehm ruhig, lediglich einige Spatzen machen aus den Brombeersträuchern zwitschernd auf sich aufmerksam. Während Claudia an ihrer eisgekühlten Zitronenlimonade nippt, wandert ihr Blick von den angrenzenden Sträuchern in den wolkenlosen Himmel. Heute ist ein herrlich warmer Sommertag und unter dem weißen Schirm ist es im Garten eigentlich recht angenehm. Doch die 31-Jährige hält es nicht mehr länger auf ihrem Stuhl aus, auch das Sprechen strengt sie zu sehr an. Eine Hängeschaukel wenige Meter entfernt scheint die Erlösung für ihre quälenden Kopfschmerzen und das grippeartige Gefühl zu sein. Aber selbst halb liegend wird ihr schwindelig, der ganze Körper schmerzt und ihr Gehirn fühlt sich so an, als wäre es von einer dichten Nebeldecke umgeben. Die Landauerin muss auch diesen schönen Tag im Bett hinter geschlossenen Jalousien verbringen.

Claudia leidet an einer Erkrankung, die so kompliziert ist wie der Name selbst: Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom oder kurz ME/CFS. Mit diesem Schicksal ist sie nicht allein – deutschlandweit sind es rund 250.000 Betroffene. Zugelassene Medikamente gibt es jedoch keine, von Heilung ganz zu schweigen.

Charakteristisch für die Erkrankung ist eine schwere Erschöpfung, die das Aktivitätsniveau erheblich beeinträchtigt. Hinzu kommen zahlreiche weitere Symptome wie ein starkes Krankheitsgefühl, Herzrasen, Muskel- und Gelenkschmerzen, Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme oder eine Überempfindlichkeit auf Sinnesreize. Als Leitsymptom zählt die sogenannte Post-Exertional-Malaise, eine meist verzögert auftretende massive Verschlechterung des Zustands nach körperlicher oder geistiger Belastung.

Die Schwere der Symptomatik unterscheidet sich zwischen den Erkrankten deutlich. Leicht betroffene Patient:innen können häufig noch arbeiten, müssen sich dafür aber in ihrer Freizeit erheblich einschränken. Für andere Erkrankte können jedoch schon kleine Aktivitäten wie Duschen oder Zähneputzen zur Tortur werden, ein Treffen mit Freund:innen etwa zu tagelanger Bettruhe führen. Das Leben von Schwerstbetroffenen ist für gesunde Menschen kaum vorstellbar: Sie liegen den ganzen Tag abgeschottet von der Außenwelt in dunklen Räumen, haben starke Schmerzen und können meist nicht einmal fernsehen, ein Buch lesen oder sich mit Angehörigen unterhalten. Teilweise führt bei dieser Gruppe schon das Umdrehen im Bett zu einer gesundheitlichen Verschlechterung.

„Ich höre oft, dass es sich so anfühlt, als wäre man lebendig begraben“, kommentiert Claudia Kirschner die schwerste Ausprägung von ME/CFS. Harte Worte, die aber zugleich das Leid dieser Menschen verdeutlichen. „Es ist so wichtig, auch ihnen eine Stimme zu geben“, fügt sie hinzu. Claudia selbst ist glücklicherweise nur moderat betroffen. Aber allein in diesem Zustand ist sie wie die Mehrheit der Erkrankten arbeitsunfähig. „Trotz großer Einschränkungen habe ich es damals noch irgendwie geschafft, mein Abitur zu machen und in München Biologie zu studieren. Wie mir das gelingen konnte, weiß ich bis heute nicht.“ Da sie zu diesem Zeitpunkt schon Symptome hatte, aber noch nichts von ihrer Erkrankung wusste, überwog der Druck, ein normales Leben zu führen. Der eigene Haushalt, das Studium und der Lärm in der Großstadt wurden für sie jedoch schnell zum puren Albtraum. „Fest steht auf jeden Fall, dass sich mein Zustand seitdem sehr verschlechtert hat.“

Mittlerweile lebt die 31-Jährige deshalb wieder in ihrem Elternhaus und ist selbst bei einfachen Tätigkeiten wie Kochen oder Putzen auf die Hilfe ihrer Mutter angewiesen. Dennoch möchte sie zumindest einen Teil ihrer Selbstständigkeit erhalten und übernimmt kleinere Aufgaben im Haushalt. Eine davon steht in diesem Moment neben ihrem Bett, in dem sie völlig erschöpft liegt: ein Korb mit frisch gewaschener Wäsche, die in den Schrank geräumt werden muss. In ihrem heutigen Zustand wird sie es jedoch nicht mehr schaffen, diese Aufgabe zu erledigen. „Ich will, aber ich kann nicht“, bringt es Claudia auf den Punkt. Dieser Satz begleitet sie schon den Großteil ihres Lebens.

Claudia Kirschner zuhause in ihrem Bett Ⓒ privat

ME/CFS beginnt häufig nach einer Infektion, beispielsweise dem Pfeifferschen Drüsenfieber, welches durch das Epstein-Barr-Virus hervorgerufen wird. Jedoch sind auch andere Auslöser wie Unfälle oder Operationen möglich. Nicht selten fällt zusätzlich eine Phase körperlicher Anstrengung oder psychischer Belastung mit dem Krankheitsbeginn zusammen. Die genaue Ursache der Erkrankung ist bislang allerdings ungeklärt. Die meisten Ärzt:innen und Wissenschaftler:innen betrachten ME/CFS als Multisystemerkrankung mit Dysregulation des Immunsystems, des Nervensystems sowie des zellulären Energiestoffwechsels.

Bei Claudia traten die ersten Symptome der Erkrankung bereits in der frühen Jugend auf, vermutlich infolge mehrerer Virusinfektionen und stressreicher Phasen. „Es begann mit ständiger Müdigkeit, Erschöpfung und Kopfschmerzen“, erinnert sich die Landauerin. Dabei blieb es allerdings nicht. So kamen über die Jahre mitunter Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme und eine starke Reizempfindlichkeit hinzu. Claudia suchte mehrere Ärzt:innen auf, eine Erklärung für ihre diffusen Beschwerden hatte jedoch niemand. Erst vor drei Jahren sah sie zufällig eine Dokumentation über ME/CFS und recherchierte weiter. „Als ich dann eine Liste mit den typischen Symptomen durchgegangen bin, ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen: Ich passte zu hundert Prozent ins Bild.“ Sie konfrontierte ihren Hausarzt mit dem Verdacht, selbst an ME/CFS erkrankt zu sein – und erhielt nach 15 Jahren schier hoffnungsloser Suche endlich eine Diagnose.

Die Diagnose ME/CFS gibt der Landauerin zumindest die Bestätigung, die ihr lange fehlte. Schwarz auf weiß kann sie nun jedem beweisen, dass sie sich ihre Beschwerden weder einbildet noch einfach nur faul ist – eine enorme psychische Erleichterung. Doch an ihrem körperlichen Zustand lässt sich nur wenig ändern. Die Forschung auf diesem Gebiet wurde jahrzehntelang vernachlässigt, Medikamente zur kausalen Therapie gibt es daher keine. Selbst grundlegende medizinische Hilfe erhalten die Patient:innen selten, denn deutschlandweit gibt es nur zwei Ambulanzen, die sich überhaupt auf die Erkrankung spezialisiert haben. Diese Missstände kritisiert auch eine von Betroffenen eingereichte Petition, die es im Februar mit fast 100.000 Unterschriften vor den zuständigen Ausschuss des Deutschen Bundestags geschafft hat. Dort machte unter anderem Carmen Scheibenbogen von der Immundefekt-Ambulanz der Berliner Charité auf den immensen Nachholbedarf aufmerksam: „Wir verstehen von der Erkrankung wahrscheinlich so viel, wie wir von anderen vergleichbaren Erkrankungen vor dreißig oder vierzig Jahren verstanden haben.“ Den Grund dafür sieht die Ärztin darin, dass viele Mediziner ME/CFS trotz der großen Anzahl an Betroffenen nicht kennen und dementsprechend wenig daran geforscht wird. Gleichzeitig fehle es hierzu auch an finanziellen Mitteln sowie an Unterstützung der Politik.

Seit etwa zwei Jahren schöpfen Betroffene nun allerdings neue Hoffnung: Die Corona-Pandemie hat ME/CFS etwas aus seinem Schattendasein herausgeholt und mehr in den gesellschaftlichen Diskurs gerückt. „Im Zuge von Long-COVID sprachen plötzlich alle Leute über Erschöpfung und viele weitere Beschwerden“, erinnert sich Claudia. Da sich die Symptome beider Erkrankungen ähneln, wurde medial auch über ME/CFS berichtet. Gleichzeitig schien die Erforschung des Coronavirus und seiner Langzeitfolgen wichtiger zu werden – was nun auch ME/CFS-Betroffenen zugutekommen könnte.

Einem Ärzteteam des Universitätsklinikums Erlangen ist es im Sommer letzten Jahres nämlich gelungen, vier Long-COVID-Patient:innen in individuellen Heilversuchen auf den Weg der Besserung zu bringen. Im Rahmen einer einmaligen Infusion mit dem Medikament BC 007 von Berlin Cures konnte zunächst ein 59-jähriger Mann aus Oberfranken erfolgreich behandelt werden. Nach seiner Corona-Infektion litt er unter anderem an starker Erschöpfung, Konzentrationsschwäche und Bluthochdruck. Teilweise schlief er einfach am Tisch ein oder konnte Gesprächen nicht mehr folgen. Zum Erstaunen der Mediziner normalisierten sich alle Beschwerden bereits kurz nach der Gabe des Medikaments. „Es hat sogar besser gewirkt, als wir uns jemals erhofft hätten“, sagt die beteiligte Augenärztin und Molekularmedizinerin Bettina Hohberger.

Der eigentlich für die Herzmedizin geplante Wirkstoff macht spezielle Autoantikörper unschädlich, die bei vielen Betroffenen für die anhaltenden Beschwerden nach der Corona-Infektion verantwortlich sein könnten. Da die Forscher nun Parallelen zwischen Long-COVID und ME/CFS sehen, sollen Ende des Jahres klinische Studien für beide Patientengruppen stattfinden. Nach teils jahrzehntelangem Leiden und erlebter Perspektivlosigkeit sind die Erwartungen vor allem bei den ME/CFS-Betroffenen besonders groß: „Auch ich setze meine ganze Hoffnung auf BC 007“, sagt Claudia Kirschner.

Doch die Freude über den langersehnten Lichtblick aus der Forschung ist nur von kurzer Dauer. In einem Update auf Twitter gibt Bettina Hohberger bekannt, dass der Hersteller das Medikament für die Long-COVID-Studie zwar wie besprochen liefern werde. „Anders sieht es leider für die ME/CFS-Studie aus. Hier hat sich die Meinung von Berlin Cures geändert.“ Ein herber Schlag ins Gesicht für die Betroffenen. Noch dazu macht sich Unverständnis breit, denn das Unternehmen liefert zunächst keine Erklärung für die Absage, später seien dann fehlende Kapazitäten der Grund. „Ich fühle mich ehrlich gesagt diskriminiert, wenn wir trotz längerer Leidensgeschichte hintenanstehen müssen“, ärgert sich Claudia Kirschner. Hohberger zeigt sich dennoch zuversichtlich: „Unser Team und ich haben die letzten Wochen intensiv genutzt, um die ME/CFS-Studie anderweitig stattfinden zu lassen. Vielleicht geht ja die ein oder andere Tür auf. Wartet ab.“

Ob und wie vielen Patient:innen das Medikament letztendlich hilft, wird sich erst in Zukunft zeigen. Trotzdem ist es ein Hoffnungsfunke, an den sich Betroffene wie Claudia Kirschner klammern. Bis eine Behandlung für ME/CFS verfügbar ist, wird sie jedoch noch viele Sommertage in ihrem dunklen Schlafzimmer verbringen müssen, während die Spatzen vor ihrem Fenster fröhlich zwitschern und das Leben draußen weitergeht.