Raucher (82), männlich, sucht…

Peter ist offen, direkt und ehrlich. Charaktereigenschaften, die viele Frauen in einem Mann suchen. Wieso der Rentner dennoch die Online-Dating App Tinder nutzt und was er sich hiervon erhofft, erzählt er bei einem Kaffee im Biergarten.

Die grau-blauen Augen leuchten in Peters von der Sonne gezeichnetem Gesicht. Schmierölreste an seinen Händen lassen erkennen, dass er nicht nur beim Daten ein Macher ist

Heute habe ich ein Tinder-Date. Mit den wenigen, dafür charmanten Worten „Guten Morgen hübsche Frau. Bin so ein Typ. Habe schon einiges erlebt. LG Peter” hat der 82-Jährige wieder einmal die Initiative ergriffen. Wieder einmal erfolgreich, denn nun knirscht der Kiesboden im Biergarten unter meinen Füßen und mein Bauch kribbelt vor Aufregung. Jedoch ist die Absicht des Dates keine Liebelei. Ich will mehr über den Rentner erfahren und verstehen, was er sich von Tinder erhofft.

Am Tag der Verabredung bahnen sich nur wenige Sonnenstrahlen ihren Weg durch die Kronen der dicht aneinandergereihten Kastanienbäume. Es ist 10:30 Uhr und ein Großteil der im Schatten gelegenen Tische im Biergarten sind leer. Lediglich drei davon sind vereinzelt von Männern besetzt. Eine im Aschenbecher qualmende Zigarette verrät, wer von ihnen Peter ist: „Ich bin starker Raucher”, erklärte der 82-Jährige bei der Vereinbarung von Ort und Zeit des Tinder-Dates. „Darum sollten wir uns auch im Freien treffen.”

Dating im digitalen Zeitalter

Mit einem Kaffee am Sonntagvormittag ist das Treffen laut ElitePartner Platz eins der beliebtesten Aktivitäten beim ersten Date, dicht gefolgt von einem Essen im Restaurant, dem Spaziergang oder einem Besuch im Kino.

Kaffee eignet sich hervorragend für ein erstes Date und ist für 73 Prozent der Singles die beliebtesten Unternehmung

Vor rund zwanzig Jahren vereinbarte man solche Treffen meist noch persönlich. Heute werden dafür oftmals Online-Dating Anbieter wie Tinder genutzt.

Tinder wurde 2012 auf dem College Campus der University of Southern California in Los Angeles, USA, vorgestellt. In nur zehn Jahren entwickelte sich der Dienstleister zur weltweit beliebtesten App, um die große Liebe, kleine Flirts oder schnellen Sex zu finden. Gefällt ein Tinder-Profil, wischt man nach rechts, bei Desinteresse nach links. Finden sich zwei Menschen in diesem Wischverfahren attraktiv, dann informiert die App: „It’s a match!“. Heute ist Tinder in 190 Ländern und mehr als 40 Sprachen verfügbar, wurde mehr als 505 Millionen Mal heruntergeladen und hat zu mehr als 70 Milliarden Matches geführt.

Für den 82-jährigen Peter ist die App mit der orangefarbenen Flamme inzwischen kein Neuland mehr. Seit dem Scheitern seiner fünfzehn Jahre dauernden, von mangelnder Zuneigung geprägten Ehe vor rund einem Jahr, wischt sich der Rentner mittlerweile täglich durch diverse Online-Dating Portale. Hiermit ist er nicht allein. Laut dem Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (bitkom) nutzt jeder und jede dritte Deutsche für die Partner:innensuche das Internet.

Die Hoffnung auf eine neue Partnerschaft im Alter

Dadurch, dass eine Scheidung für ältere Menschen heutzutage kein Tabu mehr darstellt und auch die Lebenserwartung gestiegen ist, hoffen viele Ältere darauf, die noch vor ihnen liegenden Jahre so glücklich wie möglich zu verbringen.

Laut Stefan Woinoff, Beziehungsexperte von 50plus-Treff, kann solch ein nachehelicher Lebensabschnitt sogar einer zweiten Pubertät gleichen, in der man sich auslebt und aus der durchaus noch eine neue Partnerschaft hervorgehen kann.

Doch während Peter seine damalige Ehefrau vor knapp sechzehn Jahren noch unerwartet in einem Tanzlokal kennenlernte, bestimmen heute vorgefertigte Biografien, Algorithmen und GPS-Daten die Treffen mit potenziellen Partnerinnen.

Zu jeder Orts- und Tageszeit prüft der 82-jährige Peter die App Tinder auf neue Matches

Der Rückblick auf die Anzahl seiner bisherigen Dates lässt den Rentner schmunzeln. Die Zigarette im linken Mundwinkel ruhend streift sein Blick die Kronen der Kastanienbäume. „Es waren rund zwanzig.”

Entgegen den Erwartungen sind die Möglichkeiten, auch im hohen Alter noch aktiv jemanden kennenzulernen, groß. Schließlich gibt es viele Menschen, die alleine leben. Gleichermaßen erklärt Woinoff: „Das Bedürfnis nach Liebe und die Fähigkeit, sich zu verlieben und zu lieben, hört nie auf. Nicht mit 60, 70 oder 80 und darüber.”

Dass die Liebe kein Vorrecht der Jugend ist, bestätigt auch der Diplompsychologe und Psychotherapeut Wolfgang Krüger. Jedoch hat sich ein solches Denken erst in den vergangenen Jahrzehnten durchgesetzt, wie der Experte für Beziehungen und das Verlieben im Alter im Podcast folgendermaßen beschreibt:

Neue Aspekte der Beziehungssuche für Senior:innen

Dennoch verändern sich die Beweggründe zur Partner:innensuche im Alter, denn gerade weil Aspekte wie die Familiengründung keine Rolle mehr spielen, treten laut Woinoff Aspekte wie emotionale Bedürfnisse und individuelle Vorlieben mehr in den Vordergrund. Ob mit dem oder der Partner:in gelacht und entspannt Zeit verbracht werden kann, ist dabei ebenso wichtig wie die Frage nach Sinnlichkeit und Sexualität. „Der oder die neue Partner:in soll eine schöne Bereicherung und Ergänzung des eigenen Lebens sein, es aber nicht nachhaltig verändern. Jeder lässt dem anderen viel Freiraum und man macht nur das gemeinsam, was Spaß macht und funktioniert.”

Schmunzelnd an vergangene Treffen denkend geht Peter in sich, zieht eine weitere Zigarette aus der Schachtel und zündet sich diese an.

„Ich mag eben noch Sex. Ich mag ihn gern und es macht mir Spaß.”

Auch wenn der Rentner diesbezüglich wenig Wert auf die Meinungen aus seinem Bekanntenkreis legt, ist er überzeugt, dass diese ihn für sein jugendliches Verhalten beneiden.

Auch Woinoff betont, dass das gefühlte Alter und die gefühlte Jugendlichkeit für Senior:innen zentrale Aspekte bei der Partner:innensuche sind. Hierbei ist einerseits wichtig, sich selbst noch als „attraktiv und sexy” zu empfinden. Andererseits können Hilfsmittel aus der Pharmaindustrie das Liebesleben wieder in Fahrt bringen. Der 82-Jährige macht keinen Hehl daraus, dass er sich seine Potenzmittel beim eigenen Hausarzt verschreiben lässt, statt sie, wie viele andere, der Anonymität wegen, im Ausland zu besorgen.

Zweifel beim Dating im Alter

Im Gegensatz zu Peter verspürt ein Großteil der Senior:innen jedoch Angst und Scham bei der Partner:innensuche, obwohl das Bedürfnis nach Nähe und Zärtlichkeit sehr wohl vorhanden ist. Dass viele Ältere darum die Hoffnung auf eine neue Liebesbeziehung bereits aufgegeben haben, stellt der 82-Jährige auch innerhalb seines Freundeskreises fest. Den Großteil seiner ledigen Altersgenossen beschreibt er als nur „auf der Couch sitzend” und „Fernsehen schauend”.

Peter lassen solche Zweifel jedoch unberührt. Ganz im Gegenteil beweist er mit seinen regelmäßigen Dates, dass einem das Leben noch bis ins hohe Alter immer wieder neue Überraschungen, Erfahrungen und Erkenntnisse bieten kann.

Ob One Night Stand, Seitensprung, Affäre oder Clubbesuch: Nach langer Enthaltsamkeit gibt Peter in seinem Online-Dating Profil an offen für alles zu sein. Viel Sex und Unterhaltung dürfen dabei nicht zu kurz kommen

Online-Dating: Ein hoffnungsloser Ort für Senior:innen

Trotz allem bemerkte der 82-Jährige recht schnell, dass Tinder nicht die optimale Umgebung für das Finden von Gleichaltrigen ist. Bisher lernte er nur vier seiner Dates über diese Plattform kennen. Sogar die Reduzierung des eigenen Alters um 20 Jahre verbesserten seine Chancen nicht.

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Der Grund hierfür ist, dass Online-Dating für Senior:innen, im Gegensatz zur jüngeren Generation, ein eher untypischer Weg der Partner:innensuche ist. Diese Problematik veranschaulicht der Online-Dating Experte Henning Wiechers im Podcast folgendermaßen:

Die Kernzielgruppe von Tinder ist aktuell die Generation Z, also die 18 bis 25-Jährigen. Ähnliche Zahlen nennt auch bitkom:

Im Vergleich zur jüngeren bis erwachsenen Generation nutzen lediglich 11 Prozent der über 65-Jährigen die Dienste von Online-Dating Anbietern

Worauf ein solch niedriger Anteil an über 65-Jährigen Online-Dater:innen zurückzuführen ist, weiß der 82-Jährige, schließlich bezeichnet er sich selbst als „absolute Ausnahme” was die Nutzung der Dating-App angeht.

Doch auch wenn der Rentner sein Single-Dasein mittels Online-Dating Portalen neu ausleben kann, blickt er wehmütig auf das Kennenlernen im vordigitalen Zeitalter zurück: „Ich habe jetzt schon zwei Mal Frauen getroffen, die unterschieden sich wie Tag und Nacht von ihrem Foto.” Er rückt die Kaffeetasse vor sich zurecht und ergänzt: „Auf dem Foto waren sie noch rank und schlank, und auf einmal kommt eine Frau, die schon total gealtert ist.”

Laut Woinoff können Online-Bekanntschaften, wie jede andere Bekanntschaft auch, enttäuschend sein. Damit muss schlichtweg gerechnet werden. Peter betont jedoch, dass ihm diese Erfahrungen nichts ausmachen, da es ihm eher auf die Ausstrahlung und den Menschen an sich ankomme. Dennoch missfallen ihm andere Aspekte des Online-Datings, wie etwa das hier weitverbreitete Ghosting.

Die Bezeichnung „Ghosting” gehört zu den größten Dating-Phänomenen des 21. Jahrhunderts und bezeichnet einen wortlosen Kontaktabbruch von Beziehungen und Freundschaften. Beim „Ghosting“ verschwindet ein Mensch wie ein Geist (engl. „Ghost“) aus dem Leben. Obgleich es den Begriff des „Ghostings” erst seit 2015 gibt, ist das Phänomen nicht neu und existierte bereits im Briefverkehr. Weil Betroffene mit vielen offenen Fragen zurückgelassen werden, auf die sie vermutlich niemals eine Antwort bekommen, kann es schwerfallen, einen Schlussstrich zu ziehen.

Hierzu erinnert sich der Rentner: Nachdem wir uns beim ersten Treffen ein bisschen unterhalten haben, gab es dann keine Antwort mehr. Nicht mal ein «Nein, danke» oder sonst irgendwas.”

Außerdem beklagt Peter, dass Tinder den von ihm angegebenen Entfernungsradius nicht einhält, weswegen er bereits Matches mit Frauen aus Frankreich, England oder gar Nairobi hatte. Die Ursache dafür kennt der Online-Dating Experte Henning Wiechers: Tinder möchte nicht die besten Matches finden, sondern „dass der Suchprozess weitergeht, damit man möglichst lange auf der Plattform verweilt.”

Entsprechend ist der Algorithmus darauf ausgerichtet, Nutzer:innen Profile aus weiter entfernten Gegenden vorzuschlagen, wenn sie bereits alle im Umkreis verfügbaren Profile durchwischt haben. Hieraus schlussfolgert Wiechers, dass Tinder eher Entertainment, als Partnersuche ist.

Tinders Geschäft mit der Hoffnung

Auch den Nutzen der kostenpflichtigen Tinder-Gold Version bezweifelt Peter. Damit können etwa falsche Wischer rückgängig gemacht, oder Profile ohne vorheriges Match angeschrieben werden.

Vielmehr erzürnt es den Rentner, dass die App hierdurch im ersten Quartal 2022 Umsatzzahlen in Höhe von rund 10,7 Millionen Euro erwirtschaftet hat, er jedoch noch immer alleinstehend ist. Sichtlich verärgert über das offenkundig profitable Geschäft mit der Hoffnung auf Zweisamkeit drückt er seine Zigarette im Aschenbecher aus und kritisiert die Unseriosität der App. Vielmehr könne man Tinder „in der Pfeife rauchen”, da der Online-Dating Anbieter bloß sein Geld wolle.

Wieso der Rentner solche Unannehmlichkeiten trotzdem in Kauf nimmt ist simpel, denn „vielleicht findet sich ja doch noch jemand“, äußert er sich hoffnungsvoll.

Beziehungen als Schutz vor Einsamkeit

Obwohl es keinen Anspruch auf und keine Garantie für das Finden einer neuen Beziehung gibt, sollten Senior:innen laut Woinoff die Hoffnung nicht aufgeben, weil gerade im hohen Alter eine Partnerschaft der beste Schutz vor Einsamkeit ist. Hierzu ergänzt er: „Verschiedene Krankheiten wie Herzerkrankungen, Depressionen, Schlafstörungen und schnellerer kognitiver Abbau im Alter können Folgen von Einsamkeit sein.” Im Gegensatz hierzu bekräftigt Woinoff, dass der positive Einfluss von Zärtlichkeit auf die Gesundheit wissenschaftlich erwiesen ist.

Dennoch betont Woinoff, dass das Online-Dating nicht zum Dauerstress werden sollte, sondern man sich vielmehr „Zeit lassen und sich emotional nicht mit zu vielen Dates überfordern” sollte. Das sieht auch Peter so, der nach eigener Aussage „nicht jeden Tag eine andere haben” muss.

Vielmehr sehnt sich der Rentner nach einer zweisamen Zukunft, da er seiner Ansicht nach nun in einem Alter ist, in dem er „eigentlich zur Ruhe kommen sollte”. Nach einem tiefen Zug an seiner Zigarette fügt er hinzu: „Aber wenn es eine Beziehung wird, dann wieso auch nicht?”

Hoffnungsvoll in eine zweisame Zukunft

Die Suche nach Zweisamkeit wird für den 82-Jährigen weitergehen. Grundsätzlich bedarf es hier laut Woinoff auch künftig eines „gesellschaftlichen Wandels, damit Liebe und Sexualität im Alter wieder als etwas ganz Normales angesehen werden.”

Der Rentner drückt seine letzte Zigarette im mittlerweile vollen Aschenbecher aus. Beim Aufrichten klopfen die groben, noch immer schmieröligen Hände die verbliebenen Aschereste von seiner Hose. Ein kurzer Check der Tinder-App zeigen ihm, dass sich auch während unseres Gesprächs kein neues Match ergeben hat. Peter steckt sich sein Handy in die linke Hosentasche und bedankt sich für die Gesellschaft. Insgeheim hofft er, beim nächsten Tinder-Date vielleicht doch die Eine zu treffen.