Wie gehen wir mit Straßen, Plätzen oder Gebäuden um, deren Namensgeber überzeugte Nazis waren? In vielen Kommunen der Bundesrepublik werden darüber erbitterte Debatten geführt, in denen es oft nur schwarz oder weiß zu geben scheint. Ein Blick ins niederbayerische Passau zeigt, dass das zu kurz greift.

Von Nils Fleischmann

 

Neun Tage sind es bis zum Holocaust-Gedenktag, an dem die Umbenennung stattfinden wird. „Höhe 15, Länge 57“, sagt Rosa Grünspan (Name v. d. Redaktion geändert), bevor sie das Maßband einrollt und von der Gartenmauer zurück auf die Straße springt. Ginge es nach Rosa, würden die braunen Namen Matheis, Stockbauer und Watzlik und der Nazimythos Langemarck in Passau längst keine Rolle mehr spielen. „Aber leider kriegt die Stadt die Umbenennung nicht hin. Deswegen müssen wir das machen.“, meint Rosa und grinst. Mit zwei anderen Aktivisten misst sie die Straßenschilder aus, um die Alternativen aus Plastik gleich groß drucken zu können. So soll etwa aus dem Watzlikring der Sophie-Scholl-Ring werden. Zumindest für ein paar Stunden, mit etwas Glück einen Tag.

Weibliche Widerstandkämpferinnen statt Nazi-Sympathisanten

Es ist Mitte Januar, durch die dunklen Straßen pfeift ein eisiger Wind. Auf zur nächsten Straße. Als in der Max-Matheis-Straße eine Passantin in Sichtweite kommt, treten alle drei zügig in eine Einfahrt. Bloß keine Aufmerksamkeit erregen. Noch nicht. Nachdem alle Maße genommen sind, ist die Stimmung spürbar gelassener. Auf der Rückfahrt fragt jemand: „Das ist maximal eine Ordnungswidrigkeit und kein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr, oder so? Also bloß, falls wir erwischt werden.“

In den nächsten Tagen wird alles weitere über eine Gruppe auf Signal besprochen, einem besonders sicher verschlüsselten Messenger-Dienst. Die Route steht, die Schilder müssen in den Druck. Kurz bricht Hektik aus, weil Rosas Mitbewohnerin ihr Auto jetzt doch nicht zur Verfügung stellen will. Ein anderer springt ein. Alle gesendeten Nachrichten werden nach wenigen Tagen automatisch gelöscht. Ist das nicht etwas paranoid?

„Nein“, meint Rosa. Einige aus der Gruppe wollen später mal in den Staatsdienst, da gehen sie kein Risiko ein. Auch sie hat noch viel vor. Der Vorschlag von Rosa, alle Straßen nach weiblichen Widerstandskämpferinnen und Jüdinnen zu benennen, kommt gut an. Zwei bekannte sind dabei, Sophie Scholl und Anne Frank. Die jüdische Schriftstellerin Gertrud Schloss und die weltweit erste weibliche Rabbinerin Regina Jonas, beide von den Nazis im KZ ermordet, kennt dagegen wohl kaum jemand. Rosa macht das wütend. Spricht sie über geschichtliche Aufarbeitung und Antifaschismus, merkt man sofort, wie sehr sie das Thema bewegt. Für Rosa sind Nazistraßen keine Nebensache, sondern eine Verhöhnung der Opfer des Holocausts.

Stadtrat will Hinweistafeln statt Namensänderung

Ein Blick über den Passauer Tellerrand zeigt, dass die Frage nach dem Umgang mit den Nazistraßen beinahe jede betroffene Stadt entzweit. Bis es zu Entscheidungen kommt, vergehen oft Jahre. Am Schluss steht meist eine von drei Möglichkeiten: Einfach belassen, um die Geschichte nicht zu verfälschen. Belassen, dafür aber mit einem Zusatzschild versehen, das auf den schwierigen Hintergrund des Namensgebers hinweist. Oder umbenennen, weil nach Nazis benannte Straßen einfach aus der Zeit gefallen sind. Konkrete Kriterien, nach denen Straßen bewertet werden können, gibt es nicht. Eine 2015 ins Leben gerufene Zusammenarbeit der Stadt mit der Uni Passau konnte keine Empfehlung zum Umgang mit den lokalen Problemstraßen geben.

Im November 2021 bewegt sich etwas: Der Kulturausschuss des Stadtrats beschließt mit den Stimmen von SPD, CSU, FDP und Freien Wählern einen Antrag, nach dem die Max-Matheis-Straße und der Watzlikring bleiben sollen, aber mit einer Hinweistafel versehen werden. Die Umsetzung liegt jetzt bei der Verwaltung. In ähnlichen Fällen soll „in gleicher Weise verfahren werden, soweit wegen der Schwere der Verstrickung nicht eine Straßenumbenennung geboten erscheint.“ Aber wie braun ist zu braun?

Um 0 Uhr treffen sich Rosa und die anderen am Holocaustgedenktag in Rosas Wohnung. Die dunkelblauen Plastikschilder mit den weißen Straßennamen müssen noch gelocht werden, damit sie später mit Kabelbinder schnell an den Straßenschildern befestigt werden können. Die Gruppe wird sich aufteilen: Zwei Straßen fahren Rosa und ein Aktivist mit dem Auto an, zu den anderen beiden geht es mit dem Fahrrad. Passiert etwas, soll über Signal Bescheid gegeben werden.

Das Ziel: Debatte anstoßen

Dann geht es los. Rosa ist aufgeregt, freut sich aber auch. Was erhofft sie sich? „Dass in Passau eine neue Debatte über die Nazistraßen angestoßen wird.“ Eine Pressemitteilung hat die Gruppe schon vorbereitet. An einer Ampel nähern sich Xenonlichter von hinten. Entwarnung, keine Polizei. Im Watzlikring angekommen scheint alles ruhig. Einer soll aufpassen, die andere die Schilder anbringen. Doch schon das erste Schild hängt zu hoch. Auch eine Räuberleiter scheitert. Rosa ärgert sich. Das hätten sie bedenken müssen. Zum Glück steht wenige Meter weiter eine Mülltonne, auf der man hoch genug steht. Kabelbinder eins, Kabelbinder zwei. Watzlikring wird zu Sophie-Scholl-Ring. Ein Textschild darunter erklärt, warum die Gruppe eine Umbenennung fordert. Schnell ein Foto, dann weiter. Auch bei der anderen ist alles ruhig. „Gut, dass wir so spät angefangen haben. Die Straßen sind frei.“ Nachdem die Max-Matheis-Straße zur Anne-Frank-Straße geworden ist, geht es nach Hause. Kurz vor 3 Uhr schreibt Rosa in die Gruppe: „Danke, dass ihr dabei wart. Lasst uns auf gute Reaktionen hoffen.“

Auf den ersten Blick hat Hans Göttler wenig mit Rosa gemeinsam. Trifft man ihn, wird man von einem heiteren Niederbayern mit Hut und einem zupackenden Handschlag begrüßt. Göttler ist promovierter Germanist, Professor wollte er allein schon deshalb nicht werden, weil er nie von daheim wegwollte. Seinen Gästen zeigt er stolz Bilder seiner Urgroßväter und ein hauseigenes Schwimmbecken, das statt Wasser einen Liegestuhl und große Pappkartons gefüllt mit Büchern enthält. „Sogar im Backofen waren Bücher. Das hat mir meine Frau aber jetzt verboten“, witzelt er. Spricht man ihn auf die Passauer Nazistraßen an, wird er nachdenklich.
Besonders Max Matheis treibt ihn schon lange um: Nichtsahnend hatte Göttler 1994 den Nachlass des Dichters durchgesehen, um eine Ehrung anlässlich des 100. Geburtstag vorzubereiten. „Dann habe ich die tiefbraunen Flecken auf der weißblauen Heimatweste entdeckt“: In vielen Gedichten findet sich blanker Judenhass und Nazipropaganda.

Bereits 1933 wurde Matheis Mitglied der NSDAP, 1937 stieg er zum Sturmführer der SA auf. Genau 30 Jahre später benannte die Stadt eine Straße nach ihm und erklärte Matheis zum Ehrenbürger. Wie war so etwas möglich? „Die Passauer wollten einen großen Heimatdichter. Der Nazihintergrund war vielen bekannt, wurde aber unter den Tisch gekehrt.“ Auch Watzlik und Stockbauer wurden ungeachtet ihrer Verbindungen zum NS-Regime geehrt.

„Man kann die Geschichte durch Ausradieren nicht ungeschehen machen“

Wegschauen, Kleinreden, Verharmlosen. Für Göttler war das viel zu lange die Devise. 2016 verfasst er ein Buch, in dem er sich mit Matheis und seinen Werken kritisch auseinandersetzt. Sein Schluss: Für das weltoffene Passau sind die Nazistraßen eine Schande. Er hat allen im Stadtrat ein Exemplar geschickt. „Die meisten haben es wahrscheinlich nicht mal gelesen.“

Siegfried Kapfer, Fraktionsvorsitzender der Freien Wähler im Stadtrat, hat das Buch gelesen. Er ist trotzdem gegen eine Umbenennung der vier Straßen. Oder gerade deshalb? Vor der Abstimmung hat er sich intensiv mit dem Vorgehen anderer Städte beschäftigt. An die zwanzig ausgedruckte Artikel und Fotos liegen ausgebreitet auf seinem Schreibtisch, manche sind mit handschriftlichen Notizen versehen. Auf einem ist ein Ausschnitt aus Orwells Roman „1984“ abgedruckt, in dem die totalitäre Partei alle Straßen, Gebäude und Denkmäler umbenennt.

Der ehemalige Kriminalhauptkommissar erzählt, er habe das Buch zigmal gelesen. „Man kann die Geschichte durch Ausradieren nicht ungeschehen machen.“ Kapfer wählt seine Worte mit Bedacht, hält manchmal einige Sekunden inne. Auch er sieht den jahrzehntelangen unkritischen Umgang mit den Namensgebern als Fehler. Durch die Hinweistafeln soll die Geschichte lebendig bleiben, auch als Mahnung für die kommenden Generationen. Gleichzeitig versteht er, dass es jungen Menschen schwerfällt, wenn Nazistraßen bleiben.

Schilder hängen nur wenige Stunden

Zurück bei Rosa. Sie wirkt ein bisschen enttäuscht. Der Bauhof war schnell, alle Schilder waren schon mittags wieder abgehängt. Nachdem sich die Gruppe zu der Aktion bekannt hat, bekommen sie eine Rechnung über 341,30€ für die Entfernung. In der Höhe hat Rosa das nicht erwartet. Gut, selbst schuld, könnte man sagen. Rosa und die anderen wollen das so aber nicht hinnehmen. In der Presse und auf Instagram kritisiert die Gruppe die Stadt: In ihren Augen ist es scheinheilig, dass sich Passau für die eigene Gedenkkultur rühmt, aber Gedenkaktionen mit hohen Strafen belegt. Glaubt Rosa noch an eine Umbenennung? Sie zuckt mit den Schultern. „Die Message ist leider gar nicht angekommen. Aber wir machen weiter.“