Hund, Katze, Krieg
Der Krieg in der Ukraine bedroht nicht nur die Menschen vor Ort. Viele Haustiere müssen notgedrungen zurückbleiben und sind den Schrecken des Krieges schutzlos ausgesetzt. Doch es gibt Menschen und Organisationen, die diesen Tieren neue Hoffnung schenken.
Plötzlich sitze ich mit vier Hunden im Auto, die gerade aus der Ukraine gerettet wurden und nach Ungarn gebracht werden sollen. Noch vor drei Tagen wusste ich nicht, ob es überhaupt eine Möglichkeit geben würde, persönlich bei einer Tierrettung aus der Ukraine dabei zu sein. Nur ein Telefonat, einen Tag voller Planungen, Buchungen und eine Zugreise später bin ich tatsächlich in der Ukraine und hoffe nun, wieder nach Ungarn einreisen zu dürfen. Seit mehreren Stunden befinden wir uns bei 42 Grad am Grenzübergang und rollen langsam von Kontrollstation zu Kontrollstation. Vier Stationen haben wir bereits mehr oder weniger schnell passiert, doch nun steht uns die heikelste bevor. An jener letzten Kontrolle, bevor es wieder nach Ungarn und damit auf EU-Boden geht, werden das Fahrzeug und alle Insassen von ungarischen Soldaten ein letztes Mal komplett überprüft und im Zweifelsfall durchsucht. Alles, was bei dieser Überprüfung gefunden und zumindest für ungewöhnlich erachtet wird, kann die Weiterfahrt und Einreise auf EU-Boden erheblich verzögern. Für die vier Hunde, die in Boxen im hinteren Teil des Transporters untergebracht sind, wird die Situation durch die Wartezeit immer anstrengender. Regelmäßig ist ein Jaulen zu vernehmen. Eine Mischung aus Stress und Angst. Gerne würde ich etwas tun – sie zur Beruhigung streicheln oder mich zu ihnen setzen. Aber im sich langsam fortbewegenden Grenzstau ist das nicht dauerhaft möglich. Nach einer gefühlten Ewigkeit dürfen wir endlich unseren Transporter zur letzten Kontrolle vorfahren, doch eine rasche Weiterfahrt rückt schnell in weite Ferne. Ein überraschender Fund könnte die Einreise sogar komplett scheitern lassen.
Der Krieg und seine Auswirkungen auf Haustiere
Seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine am 24. Februar beherrscht das Thema Flüchtlinge erneut die Medien. Das UN-Flüchtlingskommissariat schätzt die Anzahl der durch den russischen Angriffskrieg geflohenen Ukrainer:innen auf 8,8 Millionen (Stand Anfang Juni). Die Mehrheit der Flüchtenden verließ die Ukraine in Richtung Polen, weitere flohen in die Nachbarländer Ungarn, Moldawien, die Slowakei und Rumänien. Bis Anfang Mai wurden auch in Deutschland bereits etwa 610.000 Flüchtlinge aus der Ukraine registriert. Besonders auffallend: Viele haben ihre Haustiere dabei. Der Bundesverband Gemeinschaft Deutscher Tierrettungsdienste schätzt, dass im Schnitt jede:r zwölfte Ukrainer:in Haustiere auf der Flucht mitnimmt. Dadurch müssen nicht nur die Menschen versorgt und untergebracht werden, sondern auch ihre Tiere. Allerdings können nicht alle Haustiere auf die Flucht mitgenommen werden. Manche müssen notgedrungen zurückgelassen werden, wenn Sirenenalarm oder Raketenangriffe die Menschen zur Flucht zwingen. Ebenso alleingelassen werden Tierheime, weil meist die Kapazitäten fehlen, um alle Tiere aus dem Gefahrengebiet zu bringen. Hier unterstützen internationale Tierschützende, die den Tieren neue Hoffnung und ein neues Zuhause schenken.
Tierrettung an der polnischen Grenze
Kurz nach Kriegsbeginn schickte der Bundesverband der Gemeinschaft Deutscher Tierrettungsdienste ein Team zum Grenzübergang von Przemysl, um die Lage dort zu sondieren. Aufgrund der hohen Anzahl an Flüchtlingen mit Tieren, errichteten sie zusammen mit dem Deutschen Tierschutzbund zum 10. März das Tierhilfe-Camp Medyka. Hier wurden einen Monat lang rund um die Uhr teilweise bis zu 20.000 Flüchtlinge täglich und ihre Tiere mit Lebensmitteln und Futter versorgt sowie medizinisch betreut. Im April übernahm ifaw, der International Fund for Animal Welfare, das Camp und half mit internationaler Unterstützung. Aber auch aus Deutschland waren Mitarbeiter vor Ort. Was diese genau erfahren haben und welche Eindrücke sie vor Ort gesammelt haben, erfahrt ihr in meinem Podcast.
Tierrettung an der rumänischen Grenze
Von der Tierrettung Niederbayern machte sich im März ein Team auf, um an der rumänisch-ukrainischen Grenze die Lage der ankommenden Flüchtlinge zu evaluieren. Zusammen mit Equiwent, einer deutschen Tierschutzorganisation mit besonderem Fokus auf Pferden in Osteuropa, errichteten sie ein Notfalllager in der Nähe von Siret, um ankommenden Flüchtlingen und Tieren zu helfen. Teilweise wurden diese in Pferdeanhängern geimpft und versorgt, um schnell Hilfe leisten zu können. Nach Errichtung des Lagers konzentrierte sich die Tierrettung Niederbayern vor allem auf die Lieferung von Material und Futter, auch nach Medyka zum Tierhilfe-Camp, weswegen die Organisation vor Ort Equiwent überlassen wurde.
Zwei von ihnen sind Babette und Tom Terveer vom Verein Notpfote Animal Rescue aus Nordrhein-Westfalen. Sie fliegen seit Mitte März jedes zweite Wochenende nach Budapest und fahren von dort aus weiter in die Ukraine, um Tiere und Menschen vor dem Krieg zu retten. Dabei arbeiten sie mit Peta Deutschland und Judith Pein zusammen, einer bekannten Tierschutzdetektivin. Vor Ort organisieren sie die Transporte, welche die Tiere aus der Ukraine nach Ungarn und später teilweise auch weiter nach Deutschland bringen. Babette und Tom sind nicht nur der Vorstand von Notpfote Animal Rescue, sondern leiten in Dormagen und Neuss auch zwei eigene Tierheim und sind dadurch deutschlandweit vernetzt. An diesem Wochenende werden sie von Thomas Schellhaus begleitet, der zum 1. August vor Ort in Ungarn die Tierrettung und den Ausbau eines Partnertierheims unterstützt.
Erwartungen und Vorstellungen habe ich keine an das Wochenende, dafür ist die Zeit zu kurz gewesen. Mir ist bewusst, dass das Gebiet, in das wir fahren, kein Kriegsgebiet ist und wir „nur“ Menschen und Hunde von einem Tierheim in der Grenzregion abholen. Trotzdem hatte ich einen Tag zuvor große Bedenken, ob ich die Reise überhaupt antreten sollte. Was, wenn doch etwas passiert? Könnten wir eventuell festgenommen werden? Diese Fragen ließen mich einige Zeit an meiner Zusage zweifeln. Bis ich zum Entschluss kam, mir diese Chance nicht entgehen zu lassen und die Zugtickets buchte, damit ich auch über Nacht keinen Rückzieher mehr machen konnte.
Der Weg zur Grenze
Auf dem Weg nach Budapest sind meine Bedenken vollständig weg. Meine Sorgen kreisen nun nicht mehr darum, ob ich die Ukraine unversehrt verlassen kann, sondern ob ich die sechs Stunden nach Budapest stehen muss. Alltagsbedenken überdecken meine Befürchtungen. Mittlerweile freue ich mich riesig auf die Erfahrung und die Eindrücke vor Ort. Ab Wien darf ich mich sogar über einen Sitzplatz im Familienabteil freuen, wobei erst hier deutlich hörbar auffällt, dass Budapest in der Ferienzeit ein beliebtes Reiseziel ist. Während die meisten Passagiere auf dem Weg in den Urlaub sind, fahre ich nur nach Ungarn, um von dort weiter in ein Land zu reisen, dass sich im Krieg befindet. Die Differenz könnte nicht größer sein.
In Budapest angekommen, geht es direkt weiter zum Flughafen, wo ich auf Babette, Tom und Thomas treffe, die mit einer knappen Stunde Verspätung gegen Viertel nach sechs landen. Mit dem Taxi geht es nun vom Flughafen eine Dreiviertelstunde quer durch Budapest in die Vorstadt. Dort leben Timm und Vicki, die von hier das Tiertransportunternehmen Happy Doxx leiten und die Transporter für die Rettungsmissionen stellen. Timm arbeitet seit über zehn Jahren mit Babette und Tom zusammen und organisierte auch schon vor dem Krieg Tiertransporte aus und nach Ungarn. Da er sein Abitur in Deutschland absolviert hat, ist er auch als Dolmetscher elementar wichtig. Beim Betreten der Wohnung werden wir freudig von mehreren Hunden begrüßt. Auch sie waren früher in einem Tierheim, haben aber bei Timm und Vicki ihr Für-immer-Zuhause gefunden.
Neben den Hunden haben die beiden auch eine Katzenstation auf ihrem Hof aufgebaut. Zurzeit besteht diese aus zwei weißen Wohncontainern, von denen einer als Büro und Lager und aktuell auch als Heimat für zwei nur wenige Tage alte Katzenbabys und ihre Mutter genutzt wird. Der andere Container ist für die Quarantäne und wird von fünf neugierigen Katzen bewohnt. Für einen kurzen Moment vergesse ich, dass diese Katzen bis vor Kurzem noch alleine und verlassen in Kiew oder Charkiw gelebt haben. Das sie aber trotz ihrer Vergangenheit so offen und neugierig auf neue Menschen zugehen zeigt, wie gut sich Timm und Vicki um sie gekümmert haben. Während sie mir die Anlage zeigen, merke ich deutlich, wie stolz sie darauf sind und mit welcher Leidenschaft sie hinter der Tierrettung stehen.
An einem „normalen“ Wochenende wären nun einer oder gar beide der großen, voll klimatisierten und mit festen Boxen für insgesamt 50 Hunde und Katzen ausgestatteten Tiertransporter mit zwei Tonnen Futter beladen und auf den Weg in die Ukraine geschickt worden. An diesem Wochenende werden die Transporter und Fahrer allerdings an anderer Stelle gebraucht, weswegen es nur mit einem kleineren Fahrzeug auf die Straße geht. Voll beladen mit kleinen Transportboxen für das ukrainische Tierheim, machen wir uns bei einsetzender Dunkelheit auf die drei Stunden lange Fahrt in Richtung ungarisch-ukrainischer Grenze. Kurz vor Mitternacht erreichen wir unsere Unterkunft. Noch sind wir etwa eine Dreiviertelstunde von der Grenze entfernt. Mit dem Auspacken und Einchecken wird die Nacht immer kürzer und das Klingeln des Weckers rückt näher und näher. Bei vergangenen Fahrten hätten sie pro Nacht immer nur zwei bis vier Stunden geschlafen, erzählt Babette. „Da sind sechs richtig Luxus“. Ich kann aber trotz des langen Tages nicht sofort schlafen. Obwohl mich viele neue Eindrücke erreicht haben, brauche ich Zeit, wirklich zu realisieren, dass ich mich gerade tatsächlich nicht allzu entfernt von einem Land im Krieg befinde. Es sind keine Befürchtungen wie am Tag zuvor, aber es ist viel, und für mich ergibt sich dadurch doch kein „Luxus“ von 6 Stunden Schlaf, sondern eher die Hälfte.
Unerwartete Probleme beim Grenzübertritt
Eigentlich sollte es schon früh losgehen, doch wir müssen noch Futter für das Tierheim kaufen. Deshalb heißt es nun warten – und das auch an der Grenze, denn es ist jedes Mal aufs Neue ungewiss, wie viel Zeit die Kontrollen in Anspruch nehmen. Mit einem großen Transporter voller Tiere dauert die eigene Kontrolle erfahrungsgemäß länger, aber auch die Grenze überquerende Ukrainer*innen mit großen Fahrzeugen verzögern die Kontrollen. „Wir standen dort auch schon mal 17 Stunden“ macht Babette wenig Hoffnung auf einen schnellen Grenzübertritt. „Und dann durften wir nicht mal rüber und mussten wieder umdrehen.“ Mit dem kleinen Fahrzeug und wenigen Tieren war die Hoffnung auf eine schnellere Rückreise groß, durch die Verzögerung beim Futterkauf schwindet diese Hoffnung allerdings schnell wieder. Bei Fressnapf angekommen, kaufen wir vier weitere große Transportboxen, von denen es für die Transporte aus den Kriegsgebieten nicht genug geben kann, eine Packung Leckerlis, zwei Paletten hochwertiges Dosenfutter und zwölf Säcke Hundefutter im Wert von über 1.000 Euro. Das klingt vielleicht nach viel, aber „in Deutschland wäre es noch deutlich teurer gewesen, daher kaufen wir immer erst in Ungarn“ erzählt Babette mir. „Normalerweise haben wir unweit der Grenze ein großes Lager, wo wir unsere Fahrzeuge mit Futter für den Grenzübertritt beladen, aber durch die Transporte letztes Wochenende ist kaum noch welches vor Ort.“ Mit einer Verspätung von knapp zwei Stunden geht es nun an die Grenze.
Auf dem Weg zum Grenzübergang muss Tom eine Ladeliste ausfüllen, aus der hervorgeht, welche Güter mitgeführt werden. Diese dient zum Verzollen der Ware und kann bei den Grenzsoldaten bei Verdacht auf Falschangaben auch zur Durchsuchung des Fahrzeugs und Beschlagnahmung der Ladung führen. Durch die regelmäßigen Reisen in die Ukraine ist das Ausfüllen der Liste Routine geworden. An der ungarischen Seite der Grenzkontrolle ist es bei unserer Ankunft relativ leer, nur ein Fahrzeug wartet am Grenzposten. Hier steht auch nur eine Kontrolle auf dem Weg in die Ukraine an, auf der ukrainischen Seite hingegen werden drei Stempel von mehreren Stationen benötigt. Bei der Überfahrt fallen sofort die infrastrukturellen Unterschiede auf. In Ungarn sind die Straßen geteert, Rasenflächen und Gebäude sind in einem guten Zustand. Auf der ukrainischen Seite: Schotterwege und teils baufällige Gebäude. Der Unterschied zwischen einem EU- und einem Nicht-EU-Land wird deutlich. Es wirkt fast absurd, wie verschieden zwei direkt aneinandergrenzende Länder auf wenigen Metern sein können. Positiv auffallend ist aber, wie gut die ukrainischen Grenzsoldaten gelaunt sind. Obwohl ich davon ausging, dass die Stimmung durch den Krieg getrübt sei, scheint dies zumindest hier nicht der Fall zu sein. Die Kontrollen sind nicht weniger streng, jedoch ist niemand dabei unfreundlich. Untereinander wird sogar gescherzt und gelacht. Die Hoffnung scheint groß zu sein, sich dem Angriff Russlands weiter zu erwehren und den Krieg gewinnen zu können. Dieses überraschend positive Stimmungsbild macht auch mir Hoffnung für unsere Mission und darauf, dass auch die Tiere nach ihrer Rettung in einem neuen Zuhause neue Hoffnung finden können.
Die ersten beiden Kontrollstationen passieren wir schnell und problemfrei. Auch wenn die Kommunikation auf Englisch und Ukrainisch nicht immer reibungslos funktioniert, kennen Babette und Tom durch ihre regelmäßigen Reisen einige der Grenzbeamten, was die Einreise meist beschleunigt. Heute allerdings ist keiner dieser Soldaten am Grenzübergang und der dritte Stempel verzögert sich erheblich. Ein neu eingeführtes Dokument und ein ungünstig getimter Schichtwechsel verlängern die Kontrollen weiter. Statt einer Dreiviertelstunde warten wir mittlerweile über eineinhalb Stunden an. Auf der Gegenseite, von der Ukraine nach Ungarn, staut sich eine lange Schlange an Fahrzeugen, die sich immer wieder auffüllt und nie vollends abebbt. Auch wenn es Vormittag ist, liegen die Temperaturen bereits über der 30 Grad-Marke. Die Fahrzeuge und ihre Insassen variieren von Einzelpersonen in leeren Kleinwagen zu großen Familien in voll bepackten Vans. Neben den Fahrzeugen gibt es auch viele Fußgänger, die die Grenze überqueren. Für sie verläuft der Übertritt schneller, da nur ihre Pässe und kaum Gepäck kontrolliert werden müssen. Viele von ihnen tragen Sandalen und Sommerkleider und sehen damit aus, als wollten sie zum Strand. Ein überraschender Kontrast zu den aus den Medien oft üblichen Bildern von Flüchtenden. Nicht nur diese Gruppe an Menschen überquert die Grenze, sondern auch viele Familien mit Kindern. Ob unter ihnen oder den Menschen in den Fahrzeugen Flüchtlinge sind, lässt sich anhand des äußeren Erscheinungsbildes nicht immer abschätzen. Da es nur ein kleiner Grenzübergang ist, an dem wir uns befinden, ist nicht zwingend von Flüchtlingen auszugehen, es allerdings auch nicht ganz auszuschließen. Viele gingen auch nur zum Einkaufen über die Grenze, erklärt Babette mir während der Wartezeit. Beim Anblick des ukrainischen Ortes in der Ferne für mich keine Überraschung. Nach fast zwei Stunden kommen Tom und Thomas mit dem letzten Stempel aus dem Grenzgebäude zurück. „Zum Schluss hatten wir ihn mit meinem Charisma, da hat er kurz gelächelt. Warte ab, bis ich dauerhaft hier bin, dann scherzen wir bald zusammen.“ Nun öffnet der letzte Grenzsoldat die Schranke und der Einfahrt in die Ukraine steht nichts mehr im Wege. Für die drei absolute Routine und nichts Besonderes mehr, wie sie selbst sagen – für mich dagegen eine ganz neue Erfahrung. Das mulmige Gefühl im Magen, das ich noch auf dem Weg zur Grenzstation hatte, ist positiver Aufregung gewichen.
In der Ukraine
Die Erwartungen aus der Ferne an den ukrainischen Grenzort bestätigten sich beim Näherkommen. Die Straßen sind Schotterwege, die Schlaglöcher haben teils einen Durchmesser von einem halben Meter. Die Fahrt geht im Slalom dahin. Tankstellen an der Straße sind entweder geschlossen oder nur für Snacks und Getränke geöffnet. Benzin verkauft hier fast keiner mehr – Engpässe aufgrund des Krieges. Nur an einer Tankstelle ist eine Zapfsäule geöffnet und eine lange Schlange hat sich vor ihr gebildet. Die Häuser hingehen sehen teilweise sehr gepflegt und modern aus, doch laut Thomas ist aktuell nur noch etwa jedes sechste von ihnen bewohnt. Ich fühle mich in meinen Erwartungen bestätigt, wobei mich der Zustand der Häuser erstaunt, gerade im Kontrast zum Grenzposten. Sie scheinen mir fast zu schön und zu intakt zu sein. Ob sie allerdings noch zu den bewohnten oder unbewohnten Häusern gehören, lässt sich nicht ausmachen. Ich ertappe mich zwischendurch selbst, wie ich die Bedingungen des Ortes den Folgen des Krieges zuschreibe, dabei wütet dieser so weit im Südwesten der Ukraine überhaupt nicht. Sirenen und Raketenangriffen sind erst hunderte Kilometer weiter östlich oder nördlich der traurige Alltag. Und doch bedeutet das nicht, dass nicht auch hier etwas passieren kann, wie etwa die vergangenen Angriffe auf Schytomyr, einer Großstadt 140 Kilometer westlich von Kiew, zeigen.
Nach etwa zehn Minuten geht es aus dem Ort hinaus in eine etwas ländlichere Gegend, wo nach wenigen Minuten ein metallenes Tor eines größeren Anwesens erscheint. Durch dieses hindurch geht es auf einem engen, nicht befestigten Feldweg, vorbei an einem alten, mutmaßlich unbewohnten Herrenhaus und einem See, bis plötzlich das Tierheim erscheint – ganz unerwartet und versteckt. Beim Öffnen der Autotüren macht es sich jedoch akustisch deutlich bemerkbar. Auf einer riesigen Freifläche sind gerade um die zwanzig Hunde unterwegs und freuen sich lautstark über unsere Ankunft. In den Innengehegen der Gebäude links und rechts der Freifläche befinden sich noch bis zu 150 weitere Hunde. Eines der Gebäude ist der alte Stall eines Bauernhofs. Wo früher Schafe, Schweine, Ziegen und Kühe untergebracht waren, leben nun mehrere Gruppen von Hunden. Das andere Gebäude ist ebenfalls eine altes Bauernhofgebäude mit einem großen hölzernen Anbau, in dem sich weitere kleine Hundegruppen befinden. Hier leben Hunden jeden Alters, die aus den Kriegsgebieten gerettet wurden und nun auf ihren Transport nach Ungarn warten. Auf einen Transport, der sie hoffentlich in ein neues und besseres Leben bringt. Beim Näherkommen laufen die meisten Hunde der Freifläche direkt zum Zaun, beschnuppern uns und wollen gestreichelt werden. Als wir die Fläche betreten, um uns das Gelände, die Hunde und die anderen Gebäude anzuschauen, werden wir freudig angesprungen und von einigen gar nicht mehr alleingelassen. Die Gehege der Hunde im Stall wirken durch die alte Konstruktion etwas kalt und trostlos und das laute Bellen überschlägt sich im Hall des Gebäudes. Das bedeutet aber nicht, dass es den Hunden dort schlecht geht, ganz im Gegenteil. Andszelika und Alexandra, die das Tierheim leiten, kümmern sich liebevoll um die Hunde und kennen alle Namen und Besonderheiten der Hunde, die sie uns zeigen.
Die Hunde, die aktuell hier leben, werden von ukrainischen Tierschützer:innen vom Verein animal rescue Kharkiv vorrangig aus Charkiw und Kiew gerettet, den beiden größten Städten der Ukraine. Beide Metropolen wurden seit Kriegsbeginn immer wieder beschossen. Direkt aus diesen Kriegsgebieten holen sie die Hunde und Katzen vorrangig von der Straße, aus Wohnungen und Häusern oder Tierheimen, die nicht die Kapazitäten haben, um alle Tiere aufzunehmen. Das ist teils eine lebensgefährliche Aufgabe, wie der Fall von Anastasiia Yalanskaya zeigt. Sie war mit zwei Kolleginnen Anfang März mit Futter für ein Tierheim nach Bucha unterwegs. Der Ort knapp 30 Kilometer entfernt von Kiew erlangte aufgrund der Kriegsverbrechen der russischen Armee traurige Berühmtheit. Seit drei Tagen waren dort die Reserven aufgebraucht und die Tiere am Hungern. Auf dem Rückweg aus Bucha wurden alle drei von russischen Soldaten erschossen. Warum, ist unbekannt. Allen Tierschützenden, auch von Notpfote, ist seitdem umso mehr bewusst, dass ihr Einsatz ihr Leben kosten kann. Trotzdem fahren sie immer wieder tief in die Kriegsgebiete und riskieren ihr Leben, um das von zurückgelassenen Haustieren zu retten. In regelmäßigen Abständen bringen sie diese zum Tierheim an der Grenze, wo die Hunde entweder untergebracht oder direkt in Transporter nach Ungarn verladen werden. Dieser Prozess dauere normalerweise um die vier Stunden, da mehrere Transporter mit je 35 oder mehr Tieren umgeladen würden, schildert Babette den üblichen Ablauf dieser Wochenenden. Zudem gäbe es listenlange Anmeldungen, dass Tiere hier untergebracht werden dürften, die aufgrund der fehlenden Kapazitäten nur nach und nach abgearbeitet werden könnten. Die Nachfrage dürfte bei einem Angriff auf westlichere Gebiete der Ukraine nur noch weiter steigen. Es verdeutlicht, wie wichtig die Arbeit von Notpfote und wie viel Hilfe vor Ort noch nötig ist.
©animal rescue Kharkiv
Aufgrund des kleineren Fahrzeugs bei dieser Fahrt geht die Umladung deutlich schneller voran als an den anderen Wochenenden. Nun steht die schwierige Frage an, welche Hunde mitdürfen. Jeder der Hunde hier hätte es verdient, nach Ungarn und in ein besseres Leben gebracht zu werden. Viele haben unverschuldet die Schrecken des Krieges erlebt, wurden plötzlich von ihren Besitzerinnen getrennt oder können von ihnen nicht weiter mitgenommen werden. Doch in den Laderaum passen nur vier Boxen. Letztendlich entscheiden sich Babette und Andszelika für eine Gruppe aus dem Stall. Die vier Hunde passen in die neu gekauften Boxen und verstehen sich gut, was ihre Unterbringung im neuen Tierheim erleichtert. Nacheinander werden die vier in die Transportboxen geführt und sicher im Laderaum verstaut. Mit Spannriemen wird sichergestellt, dass keine Box umfallen oder verrutschen kann und jeder Hund bekommt noch eine Schale Wasser. Andszelika steigt zu uns und damit endet die Stippvisite in die Ukraine auch schon wieder und es geht zurück zum Grenzübergang, der wir erst vor knapp einer Stunde verlassen haben. Schneller, als ich es mir vorgestellt hatte. Aber um den Transport für die Hunde so stressfrei wie möglich zu gestalten, darf nicht noch mehr Zeit verloren gehen. Außerdem steht uns eventuell eine Wartezeit von mehreren Stunden bevor, die beim Anblick des Staus an der ersten Kontrollstation gedanklich steigt und steigt.
Die Arbeit von Notpfote
Während wir warten, spreche ich mit Babette, Tom und Thomas über Notpfote: „Planung ist das Allerwichtigste, deswegen sind wir auch nicht direkt zum Kriegsbeginn in die Ukraine gefahren. Wir wollten vermeiden, aufgrund schlechter Vorbereitung auf Probleme zu stoßen oder Kapazitäten zu binden, die wir an anderer Stelle sinnvoller einsetzen werden könnten.“ Am 10. März, etwa drei Wochen nach Beginn des Krieges, fuhren sie mit drei Privatwagen das erste Mal an die ungarisch-ukrainische Grenze, um Futterspenden in die Tierheime zu bringen und erste Tiere und Flüchtende mit nach Deutschland zu nehmen. Jeder der Privatwagen war mit jeweils einer Tonne Futter beladen. Zusätzlich brachte noch ein 18-Tonner Spenden zur Grenze. Dafür mieteten sie im Vorfeld ein Lager unweit der Grenze an, um die Futterspenden lagern und nach und nach an die Tierheime verteilen zu können. Damals legten sie die komplette Entfernung mit dem Auto in über 15 Stunden Fahrt zurück, durch das Hilfsnetzwerk, was Babette und Tom aufgebaut haben, ist die Reise heute sowohl für Mensch als auch Tier zumindest etwas entspannter.
Die Mission #TierbrückeUkraine von Notpfote ist langfristig angelegt und keine Tierrettung im herkömmlichen Sinne. Die Tiere werden nicht nur aus den Kriegsgebieten geholt und in das nächstmögliche Tierheim gebracht, sondern sollen auch auf Dauer ein besseres Leben haben und an neue Besitzer vermittelt werden, wie Babette betont: „Wir haben ein Netzwerk aus aktuell acht Tierheimen, sieben in Ungarn und eines in der Ukraine. Je nachdem wie die Verfügbarkeiten aussehen, bringen wir die Tiere aus dem ukrainischen Tierheim in die unterschiedlichen Partnertierheime und drei Monate später weiter nach Deutschland.“ Aufgrund der hohen Nachfrage an Plätzen soll das Netzwerk noch um zwei weitere Tierheime in der Grenzregion erweitert werden. Notpfote arbeitet dabei nach dem sogenannten Dreier-Konzept: „Zum ersten wollen wir hier Hilfe zur Selbsthilfe leisten“, erläutert Babette es. „Wir wollen die Tierheime unseres Netzwerkes auf den Europäischen Standard bringen, sodass sie auch ohne unsere Hilfe den Aufgaben und Anforderungen gewachsen sind.“ Der zweite Punkt umfasst, die Hunde aus den Tierheimen nach Deutschland zu bringen. Hier könne eine gute und sichere Vermittlung besser gewährleistet werden. An letzter Stelle müssen die Tierheime mit den Bedingungen von Notpfote konform sein. Darunter fallen Aspekte wie legales Arbeiten, die Kastration der Tiere, ein liebevoller Umgang und große Zwinger und Gehege für die Tiere. „Wenn diese Bedingungen nicht erfüllt werden, können wir nicht mit diesem Tierheim zusammenarbeiten.“ Schließlich tragen sie auch alle anfallenden Kosten der Tierheime.
In eines der Tierheime, das diese Bedingungen außerordentlich gut erfüllt, sollen die vier Hunde heute gebracht werden. Falls wir die Grenze überqueren dürfen – denn die gefundenen Papiere und Gegenstände werden anscheinend besonders ausführlich kontrolliert und eine Minute gleicht gefühlt einer Stunde. Die Anspannung unter allen lässt sich mittlerweile deutlich spüren, war doch bei nur vier Hunden und einer Ukrainiern eigentlich nicht mit größeren Problemen gerechnet worden. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen, auch wenn ich innerlich immer nervöser werde. Die Alternativen wären, zu einem anderen ungarischen Grenzübergang zu fahren und es dort zu probieren oder zur rumänischen oder slowakischen Grenze zu fahren. Doch auch dort gibt es immer wieder Probleme, erklärt Babette. Notfalls müssen wir die Hunde zurück ins Tierheim bringen – der worst case.
Eine neue Hoffnung
Als sich die Tür des Häuschens öffnet, der Grenzsoldat unsere Reisepässe hereinreicht und sich die Schranke erhebt, weicht die Anspannung und ein Gefühl von Erleichterung und Euphorie macht sich breit. Es ist geschafft. Weitere Hunde konnten aus der Ukraine gerettet werden. Völlig unwichtig, dass es dieses Wochenende nur vier sind – jedes Tier zählt schließlich.
Auch in mir kommt das Gefühl auf, etwas verdammt Gutes und Richtiges getan zu haben. Wer weiß, was die vier Hunde auf ihrem Weg alles erlebt haben, welchem Schrecken und welchem Stress sie ausgesetzt waren. Nun kann ihnen nichts mehr passieren und ihr Leben nimmt wieder eine bessere Wendung. Sie bekommen eine neue Hoffnung. Als wäre es ihnen selber bewusst, dass sie es nun geschafft haben, schließen auch sie sich der kollektiven Ruhe an, die seit dem Grenzübertritt herrscht. Jeder scheint in seinen Gedanken zu sein oder der Musik zu lauschen, die sich der positiven Stimmung, dem Wetter und der vorbeiziehenden Landschaft anzupassen scheint und das Glücksgefühl bis zum Erreichen des Tierheims aufrechterhält. Kaum angekommen, können es die Hunde kaum erwarten, aus den Boxen gelassen zu werden. Einer nach dem anderen wird aus dem Laderaum gehoben und an die dortigen Mitarbeiterinnen übergeben. Schwanzwedelnd und neugierig machen sie sich auf, ihr neues Zuhause zu erkunden. Auf, in eine neue Hoffnung.
Nach der Abgabe der Hunde hört die Arbeit nicht auf. Andere Tierheime müssen überprüft, mögliche neue Partnertierheime besichtigt und die nächsten Transporte und Reisen geplant werden. Die Arbeit ruht hier nie und Babette und Tom stecken ihre gesamte Zeit in das Projekt, um unverschuldet in Not geratenen Tieren neue Hoffnung zu schenken. An meinem letzten Abend, zurück in Budapest, mache ich mir noch lange Gedanken darüber. In meinem Kopf befinde ich mich immer noch auf der Straße oder im Tierheim. Solange der Krieg weitergeht, halten solche Missionen und die Arbeit dieser Menschen den Glauben an die Menschheit hoch. Vor allem die Tierschützer:innen in der Ukraine, die dafür ihr Leben riskieren, sind mir besonders im Kopf geblieben. Ich selbst nehme für meine Rückreise und mein weiteres Leben nicht nur unfassbar viele Eindrücke und Erfahrungen mit, sondern vielleicht sogar noch etwas mehr: In einem der Tierheime werden vier Katzenbabys gefüttert und versorgt, die vor Kurzem erst alleine und ohne Mutter an der Straße gefunden wurden. Wenn sie in ein paar Wochen alt genug und gesund sind, können sie nach Deutschland gebracht werden. Und wer weiß, vielleicht kann auch ich bald einen kleinen Beitrag leisten, einigen Tieren ein besseres Leben schenken zu können, wenn vier Katzenbabys bei mir ihr neues Zuhause finden.
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