Als Vincent Freytag die Situation ukrainischer Flüchtlinge sieht, beschließt er aktiv helfen zu wollen. Gemeinsam mit Vincent Fottner startet er die Initiative „Youth Pro Ukraine.“ Sie organisieren aus Budapest und Passau Spendenaktionen, evakuieren Geflüchtete von- und bringen Sachspenden an die ukrainische Grenze.

Von Samuel Hüttenberger

März 2022

Es ist später Mittag an einem Parkplatz an der Autobahn nahe der ungarischen Stadt Tata zwischen Wien und Budapest. Vincent Freytag atmet vor Glück und Erschöpfung tief durch, bevor er sich in die Türe des Neunsitzers setzt, mit dem er seit dem Morgen unterwegs ist. „Für sowas macht man das halt dann“, bemerkt er nachdenklich und zündet sich eine Zigarette an. Seit dem Abend vorher war er unterwegs und hat die vielleicht schlimmste Nacht seines Lebens, wie er meint, hinter sich.

„Vielleicht ein bisschen irre, die Idee“

Doch die Geschichte beginnt viel früher. Am 28. Februar, geht Vincent, der gerade ein Auslandssemester in Budapest macht, nach der Uni zum Hauptbahnhof der Stadt. Er will sich einmal anschauen, wie es den Geflüchteten so geht, die dort ankommen. „Das war schon krass“, erzählt er, „ich stand da mit meiner Laptoptasche und da waren Menschen, die hatten auch nur eine Tasche dabei, aber da war halt ihr letztes Hab und Gut drin.“ Als er nach Hause geht, beginnt er zu überlegen, wie er helfen kann. „Geld spenden kann man auch von Deutschland aus. Ich habe mir dann gesagt: Ich schreib jetzt einen Facebook-Post, keine Ahnung was daraus wird, ist vielleicht ein bisschen irre, die Idee. Hier ist ein Paypal-Link, schauen wir mal was draus wird.“

Am Abend ruft ihn Vincent Fottner an und erklärt unbedingt mithelfen zu wollen. Die beiden sind sehr gute Freunde und waren auch gemeinsam politisch aktiv. So organisiert Fottner von Passau aus eine Spendenaktion. Er sammelt Geld und Sachspenden, die er mit der Hilfe eines Clubs und gesponserten Transportern nach Budapest bringt. Währenddessen tritt Vincent Freytag dort in Kontakt mit der ukrainischen Selbstverwaltung. Die ukrainische Minderheit hat in Ungarn ein sogenanntes „Recht auf Selbstverwaltung“, was unter anderem bedeutet, dass schon vor Ausbruch des Krieges etablierte Strukturen in die Ukraine bestanden. So konnte dann schnell und gezielt Hilfe organisiert werden.

In einem Gemeinde- und Kulturzentrum der ukrainisch-orthodoxen Kirche sammelt die Selbstverwaltung auf drei Etagen und in einem weiterem Lager außerhalb der Stadt Sachspenden. Diese werden von dort direkt in die Krisengebiete transportiert. In Räumen, wo normalerweise kleine Konzerte, Lesungen oder anderen kulturelle Veranstaltungen stattfinden, liegen nun Kreuz und Quer Plastiktüten und Kartons. Konstantin Bohorszkij lebt seit 2014 in Ungarn und hilft seit Kriegsbeginn in Vollzeit. Er ist einer von über 200 Ukrainern, die hier mithelfen. „Indem wir helfen, ist es leichter für uns mit dieser Situation umzugehen. Viel schlimmer ist es zu Hause zu sitzen und zu wissen, dass Freunde und Verwandte noch in der Ukraine sind und man dann die Nachrichten von dort sieht.“, beschreibt er. „Wir bekommen von überall Spenden,“ sagt er über die Bereitschaft der Menschen, besonders viel Kleidung und Essen kommt bei ihnen an. Am dringendsten benötigt werden aber Matratzen, Babynahrung, Hygieneprodukte, besonders Medikamente oder am besten Geld, erklärt Konstantin. Denn sie können so dann immer das kaufen, was gerade gebraucht wird.

„Youth pro Ukraine“ soll die Initiative heißen

So haben auch die beiden Vincents 24 Stunden nach dem Facebook-Post mehr als 2.000€ gesammelt. Immer mehr Leute werden auf die beiden aufmerksam und melden sich, dass sie auch helfen wollen. Ein immer dichteres Netzwerk von Personen beginnt sich zu bilden. Auch das Radio fragt an und die Aktion wird immer populärer. Also beschließen sie ihre Arbeit weiter zu professionalisieren und erstellen einen „instagram“-Account, auf dem die Aktionen dokumentiert werden, nennen ihn: „Youth Pro Ukraine“ (YPU). So entsteht auch der Name der Initiative. Auf diesem Account soll zudem den Geflüchteten und deren Einzelschicksalen Aufmerksamkeit geschenkt, sowie Freiwilligen eine Plattform gegeben werden, um zu zeigen, was möglich ist, wenn ein paar junge Leute anpacken.

Auch aus Deutschland kommen viele Spenden an. Über die große Hilfsbereitschaft in Deutschland ist Dr. Michael Weigl, Dozent an der Uni Passau und Experte für politische Teilhabe, nicht überrascht. Sie ist immer dann besonders hoch, wenn man das Gefühl hat, dass „von einem Konflikt potenziell auch eine Bedrohung für einen selbst ausgeht“, erklärt er. Anders als zum Beispiel 2015 ist dies zurzeit so. Merkt aber in Bezug zur Hilfsbereitschaft an: „Es ist in dieser Form etwas Neues, was wir so in Deutschland noch nicht gesehen haben.“

Nun ist auch die Kontaktaufnahme zu Hilfsorganisationen, Helfern und Betroffenen leichter. So gelingt YPU zum Beispiel die Evakuierung von acht geflüchteten Waisenkindern von der ungarisch-ukrainischen Grenze nach Deutschland. Die beiden Vincents sind gerade an dieser Grenze, als sie einen Anruf von der ukrainischen Selbstverwaltung bekommen: In 2 Tagen werden mehrere Kinder einen Transport nach Deutschland brauchen und man braucht jemanden der diesen organisiert. YPU nimmt sich sofort darum an. Der logistische Aufwand war dabei enorm, erzählt Vincent Freytag: „Wir haben jeden Kontakt zu den Medien, den wir hatten, genutzt. Wir standen in Kontakt mit Anwälten, mit der Botschaft, mit Airlines.“ Schließlich konnte Domokos Kovács, ebenfalls Passauer Student und Ungar, seine Kontakte ausnutzen und ein Busunternehmen dazu bewegen einen Kleinbus zu sponsern, der die Kinder sicher nach Deutschland bringen konnte.

Diese Aktion zeigt auch sinnbildlich, wie viel Zusammenarbeit nötig ist, damit die Projekte von YPU gelingen. Vincent betont immer wieder, dass es eine Initiative Vieler ist und er allein nicht weit gekommen wäre. „Es ist ein wachsendes Projekt, das mit immer mehr Leuten immer besser gelingt.“

Sandwichs belegen im Akkord

So auch zu sehen bei einer gemeinsamen Aktion von YPU mit „Spanish for Ukraine“, einer Initiative spanischer Erasmus- Studierende in Budapest. Basco Velasco Rengifo, einer der sechs Initiatoren, erzählt, dass befreundete Studenten in Krakau eine Ukraine-Hilfsaktion starteten und sie sich daraufhin fragten, ob sie nicht das gleiche tun wollen. Mittlerweile sind sie schon 14 Leute und haben 17.000€ an Spenden aus ihrer Heimat bekommen. Basco erfuhr über die Uni von Youth Pro Ukraine und fragte nach einer Kooperation. Nun haben sich die Initiativen zum Ziel gesetzt 1.000 Sandwiches zu belegen und zur Erstversorgung an den Grenzübergang zu fahren.

In den frisch renovierten Räumlichkeiten des deutsch-ungarischen Jugendwerks mit Stuckdecken, weißen Doppeltüren und einem fast raumhohen, braungefliesten Kachelofen, werden nun in einem Sprachengewirr aus englisch, spanisch und deutsch Sandwiches zubereitet. Kiloweise Brot wird an verschiedenen Tischen von ungefähr 30 Personen beider Initiativen beschmiert, belegt und als Sandwich mit Schokoriegeln in 1.000 kleine Tüten verpackt. Es ist eine sehr lebhafte Atmosphäre. Es läuft spanische Musik, man kommt ins Gespräch, tauscht sich über vergangene und geplante Aktionen aus. Obwohl viele der Freiwilligen teils sehr anstrengende Tage hinter sich haben ist die Stimmung gut. Alle scheinen beflügelt von dem Geist etwas ausrichten zu können, an vorderster Front zu helfen. Schließlich steht der ganze Eingangsbereich voller großer Einkaufstüten, gefüllt mit den fertigen Lunchpaketen zur Erstversorgung.

Am Abend macht sich Vincent Freytag mit Amelie und Julie, zwei Freiwilligen von YPU, mit einem von Spendengeldern gemieteten Neunsitzer mit samt den 1.500 Sandwiches auf zur Grenze. Auf der Rückfahrt nach Budapest wollen sie dann sechs Geflohenen die Mitfahrt ermöglichen. Einer dieser sechs wird Vasilij (74) sein. Seine Tochter Julia, die in Deutschland lebt hat nämlich bereits Kontakt zu YPU aufgenommen und darum gebeten, ihrem Vater zu helfen, nachdem sie die ukrainische Selbstverwaltung auf die Initiative verwies.

Vasilij sieht sehr gefasst aus, als er am Mittag des nächsten Tages in der warmen Sonne neben Vincent, Amelie und Julie auf einem Parkplatz am Budapester Bahnhof steht. Die Nacht war für alle vier eine Belastungsprobe, eine Grenzerfahrung im doppelten Wortsinn. Vincent erzählt von der Übernachtung bei zweistelligen Minusgraden im Auto: „Als wir aufgewacht sind, hatten wir Krämpfe in den Beinen.“ und von dem Moment als Vasilij über die Grenze kam und auf sie traf: „Man merkte richtig wie ihn die Lebensgeister wieder überkamen.“ Nun wird Vasilij seine Tochter bald wieder sehen. Auf dem Weg zum vereinbarten Parkplatz berichtet er mit Hilfe eines Online-Übersetzungsprogrammes, denn er spricht kaum deutsch oder englisch, dass er 40 Jahre Sportlehrer war. Die Schule, in der er unterrichtete, wurde nun zerbombt. Er zeigt Fotos von seinem zerstörten Haus in Charkiw, neben dem wenige Meter entfernt eine Rakete einschlug. Er redet offen drüber, wirkt zutiefst traurig und gefasst zugleich. Richtig emotional wird es beim Zusammentreffen mit seiner Tochter auf eben jenem, zu Beginn erwähnten Parkplatz nahe Tata. „Ihr seid jetzt auch seine Kinder“, sagt Vasilijs Tochter in Richtung Vincent und Amelie. [5]

Viel Zeit all das sacken zu lassen bleibt den beiden nicht. Schon am nächsten Tag lenkt Vincent das gemietete Auto wieder über immer schlechter werdenden Straßen und durch die immer eintönigere Landschaft nach Osten in das Grenzstädtchen Tiszabecs. Er will dort gespendete Medikamente abgeben, die von dort in die Ukraine gefahren werden und auf dem Rückweg wieder Geflohene nach Budapest mitnehmen. Die lokale Grundschule dient als Auffanglager. „Es ist ganz seltsam“, beschreibt Vincent, „eigentlich ist es ein glücklicher Ort, aber der Anlass ist so traurig.“ Im Eingangsbereich des Gebäudes stehen Helferinnen bereit, die den Ankommenden Essen anbieten.

Viele ältere Geflohene sitzen schweigend auf Bänken, während die vielen Kinder gespendete Boxen voller Spielzeug durchsuchen. Obwohl der Raum voller Leute ist, ist es still. Still ist es auch bei der Rückfahrt nach Budapest. Eine fünfköpfige Familie aus Kiew, eine Mutter mit einem Baby und eine Katze sitzen im hinteren Teil des Autos. „Mit ihnen sind es jetzt 40 Menschen, die wir evakuiert haben“ bemerkt Vincent, während er konzentriert auf die nächtliche Autobahn schaut.

November 2022

Noch bis Mitte August unternimmt Vincent Freytag zahlreiche dieser Fahrten. Ein Privatmann aus Deutschland entleiht Youth Pro Ukraine sein Auto, so hat die Initiative ein eigenes Gefährt inklusive gelb-blauem Namensaufdruck. Vincent schätzt, dass er mindestens zwanzig Mal an der Grenze war und dabei etwa 70 geflüchteten Menschen eine Fahrt nach Budapest ermöglichte.

Doch schon ein paar Wochen nach dem Ausbruch des Krieges lässt die Hilfs- und Spendenbereitschaft auch bei YPU spürbar nach. Vincent versucht aber gerade deshalb weiterhin möglichst viel für die Menschen in der Ukraine zu erreichen. Und es gelingen noch viele Aktionen wie die Mithilfe an der Einrichtung einer Flüchtlingsunterkunft oder die Ermöglichung der Wiedereröffnung von 50 Bildungseinrichtungen in der Westukraine. Dies gelang mit vergleichsweise geringen Mitteln. „Es hat sich herausgestellt, dass sie keine Materialien mehr haben“, erklärt Vincent. „Es gibt die Schüler, es gibt die Lehrer, es gibt die Schulgebäude. Es es gibt eben keine Stifte, keine Kreide, kein Papier und deswegen kann kein Unterricht stattfinden.“ Durch Domokos Kovàcs, der als Jugend- Delegierter Ungarns bei den UN auch in der Ukraine mit dortigen Behörden vernetzt ist, gelingt es in Zusammenarbeit mit einem ungarischen Verein 3 Tonnen Papier, 20.000 Stifte und 10.000 Kreiden an Bildungseinrichtungen in der Westukraine zu liefern. So kann der Schulbetrieb für ein ganzes Jahr möglich gemacht werden.

Mittlerweile ist es Herbst und Vincent Freytag ist wieder in Passau und schreibt an seiner Bachelorarbeit. Auch diese hat mit dem Ukrainekrieg zu tun, der weiterhin mit aller Grausamkeit andauert. Vincent ist sehr besorgt über die Lage der Zivilisten im Land. Durch die kaputte Infrastruktur und vielen Geflüchteten innerhalb der Ukraine, ist die Angst dort vor dem herannahenden Winter groß. Obwohl es „Youth Pro Ukraine“ in  Budapest nun nicht mehr gibt, steht Vincent immer noch in Kontakt mit den Personen der ukrainischen Selbstverwaltung dort. Auch sie sind sehr besorgt, zumal sie fast gar keine Spenden mehr erhalten. Das Schicksal der Ukrainerinnen und Ukrainer beschäftigt Vincent noch immer sehr. Gerade plant er eine Weihnachtspaketaktion für ein Waisenhaus in der Westukraine. „Das lässt einen dann doch nicht los“, meint er in nachdenklichem Ton.