Eine Fotografin, 80 Portraits, drei Backsteinwände und 180 Nationen: Wie ein Kunstprojekt verbindet und Berufungen zum Beruf werden.

Von Leonie Ballauf

„Was ist Amsterdam für dich?“, fragt Anna über den Lärm der Fahrradklingeln und das Geplauder der flanierenden Windjacken hinweg. Der kleine Junge überlegt nicht lange. Stolz steht er vor der roten Backsteinwand und verzieht sein kindliches Gesicht zu einer lustigen Grimasse. Anna drückt den Auslöser.

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Es folgt eine ältere Dame. Anna stellt ihr mitten im Gespräch die gleiche Frage wie dem Jungen: „Was ist Amsterdam für dich?“ Die ältere Dame schaut sehnsüchtig und liebevoll auf das fröhliche Treiben zwischen den Grachten: „Amsterdam ist Freiheit.“ Durch ihre Linse sieht Anna das Funkeln in den Augen der Dame. Ein Funkeln, das die Seele erleuchtet.

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Eine kanadische Mutter von zwei Söhnen, ein pensionierter Holländer, eine Studentin aus Deutschland, ein Pärchen mit ihrem Hund. 80 Gesichter mit 80 Geschichten. Anna hält sie fest. Durch ihren kleinen schwarzen Kasten mit der großen Linse sind sie alle gespeichert, verknüpft und verbunden.

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Wenn man Anna selbst die Frage stellt, dann ist Amsterdam für sie Freiheit, Freude und Sorglosigkeit. Denn Amsterdam mit all seinen kunterbunten Menschen gab ihr die Kraft, ihren Kindheitstraum neu aufleben zu lassen: das Fotografieren. Seit Anna so klein war wie der kleine Junge, wollte sie verstehen. Ob die Mathe-Formel in der Schule, die Emotionen der Menschen, Religionen oder Konflikte. Wenn möglich gleich die ganze Welt. Also fragte sie. Die Fragen wurden halbherzig beantwortet. Die Mathe-Formel brauchst du für die Schulaufgabe, wenn du fröhlich bist, dann lachst du und Konflikte entstehen durch Missverständnisse. Anna brauchte mehr. Anna wollte Lösungen.

Ihre ersten Lösungen fand sie durch ihre Kamera. „Die Linse ist wie ein Zwiebelschäler. Durch die Linse sehe ich die Menschen. Aber vor allem verstehe ich sie. Ich sehe und verstehe dann das, was hinter der ersten und manchmal erst hinter der zweiten Schicht liegt. Alles, ohne auch nur ein Wort ihrer Sprache sprechen zu können.“ Mit dieser Einstellung startete sie 2015 im Alter von 16 Jahren ihr erstes großes Projekt: „Flüchtlingen ein Gesicht geben.“ Anna dokumentierte die Flüchtlingskrise mit 94 Fotos und mehreren Interviews im Rahmen einer Seminararbeit. Aus einem von vielen fremden Flüchtlingen wurde so Mohammed mit den lieben Augen oder Banna, der mal Arzt war. Sie gab ihnen ein Gesicht. Ein Gesicht – wie deines und meines – das Geschichte hat und ein Leben.

Click Click! – Konfliktartikulation durch Fotografie

Ihr Interesse an Konflikten und der Wunsch, Lösungen zu finden, verleitete Anna dazu, in München Soziologie und Kulturwissenschaften zu studieren, sechs Sprachen zu lernen und fröhlich weiter zu fragen. Immer auf der Suche nach Antworten. 2019 zog sie nach Amsterdam – ein kunterbunter Kultur-Schmelztiegel mit 180 Nationalitäten auf 219 Quadratkilometern. Dort studierte sie International Crimes, Conflict and Criminology. Ihre Kamera sah für all die Zeit nur noch das Innere ihres Kleiderschranks.

Click Click! – Bunte Regenmäntel und Backsteinhäuschen, die Berufung zu Beruf machen

Vor der Kamera steht ein älterer Mann mit weißem Vollbart und den passenden Augenbrauen dazu. Er trägt einen roten Schal um den Hals und riecht nach Pfeifentabak. „Was ist Amsterdam für dich?“, fragt Anna auch ihn. Er schaut seine Frau an. Seine Antwort ist kurz, doch in ihr liegt viel Gefühl: „Sie.“

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2021, am Weihnachtsmorgen, wurde Annas Wohnung ausgeraubt. Die Einbrecher nahmen alles mit – auch ihre Kamera: „Dass meine Kamera gestohlen wurde, traf mich tief im Herzen. Es war wie ein Weckruf. Ich verstand plötzlich, wie wichtig das Fotografieren für mich ist.“ Sie kramte all ihr Erspartes zusammen und kaufte sich eine neue Kamera. Wochenlang sah sie die Welt nur noch durch ihre Linse. Es war mehr als ein Hobby. Das Fotografieren fühlte sich wie ihre Berufung an.

Ein halbes Jahr später besuchte Anna eine Ausstellung in der Kunsthalle München: „JR – Chronicles“. JR ist ein französischer Künstler, der 2011 mit seinem Inside-Out-Projekt den TED Prize gewann. Inside Out ist eines der größten partizipativen Kunstprojekte der Welt. Mithilfe eines umgebauten Kleinlasters porträtiert er Menschen überall vor Ort und druckt die Fotos direkt aus. Die dabei entstehenden Plakate werden an öffentliche Gebäude geklebt. Die Stadt wird zur Leinwand und die Bewohner zum Kunstwerk. Bisher nahmen 483 919 Menschen aus 148 Ländern teil. Er will zusammen mit allen den Blick auf die Welt verändern: „Ich wünsche mir, dass Sie für das einstehen, was Ihnen wichtig ist, indem Sie sich an einem globalen Kunstprojekt beteiligen; so krempeln wir die Welt um … INSIDE OUT.“

Click Click! – für eine verbundenere Welt

Anna sieht viele Parallelen zwischen JR und ihrem Verständnis von Fotografie. Das Gemeinschaftsprojekt „Inside Out“ sprach sie sofort an. Aus einer Eingebung schickte sie ihre Flüchtlingsbilder an JR. Sie erstellte ein Projekt-Konzept für Amsterdam, für die Stadt der 180 Nationalitäten. Ihr Ziel war es, das Team von Inside Out zu überzeugen mit ihr zu kooperieren – ein gemeinsames Projekt in Amsterdam zu starten. „Inside Out in Amsterdam“. Der Ort, der plaudernden Windjacken und der fröhlichen Fahrradklingeln. Das Projekt wird vom JR-Team abgesegnet. Anna soll als Vollzeitfotografin das Projekt erarbeiten, organisieren und selbstständig durchführen. Ihre Berufung wird tatsächlich zum Beruf.

Das Projekt kann beginnen. Anna steigt auf ihr gemütliches Stadtfahrrad. Der große Korb am Lenker ist voller Kameraequipment. Aufgeregt steht sie vor der ersten Backsteinwand. Sie wartet. Ihr Blick schweift die Straße auf und ab. Tagelang hat sie sich überlegt, wie sie die Passanten ansprechen soll. Als Anna dann vor ihrer auserkorenen Backsteinwand steht, vergisst sie all diese Gedanken und folgt ihrem Gefühl.

„Guten Morgen! Ich heiße Anna und bin Fotografin. Hätten Sie Lust, an einem globalen Kunst-Gemeinschaftsprojekt teilzunehmen?“ Die ersten Antworten sind ernüchternd. „Nein, danke.“, „Bin gerade auf dem Sprung, aber viel Erfolg!“ und „Bitte nicht! Ich sehe gerade fix und fertig aus.“ Doch dann kommt Nummer vier. Nummer vier heißt Jillian und kommt gebürtig aus New York. Jillian bleibt nicht nur stehen, sondern hat auch ehrliches Interesse. Sie liebt Kunst und Kultur.
Aber vor allem liebt sie Gemeinschaft. Anna erklärt ihr genau wer JR ist, was das Inside Out-Projekt bewirken soll und welche Rolle ihre Fotografien darin spielen. Anna beschreibt auch das Vorgehen. Schwarz-weiß sollen die Bilder werden.

80 Portraits fotografiert sie in Laufe der nächsten Wochen. Von 80 Amsterdamer mit 80 Geschichten. Jillian ist begeistert: „Die Welt ist gerade stürmischer als die Blizzards in New York. Kunst ist, was uns nicht das Gute aus den Augen verlieren lässt. Und wenn die Welt auch noch gemeinsam Kunst erschafft, dann
entsteht eine kleine Friedensblase, in der für einen Moment alle vereint sind. Alle in Freiheit, Frieden und Fröhlichkeit – zusammen.“

Auf Jillian folgen immer mehr Interessenten – darunter der kleine Junge, die ältere Dame und der Mann mit dem weißen Vollbart und den dazu passenden Augenbrauen. Jeder mit einer einzigartigen Geschichte und einem einzigartigen Gesicht. Vor jedem Bild fragt Anna, was Amsterdam für sie sei, um ihre Reaktion als Bild festhalten zu können. Sie alle wählen Worte wie Freiheit, Gemütlichkeit, Fröhlichkeit, Gemeinsamkeit und Liebe. Liebe unter Freunden, Liebe zur Familie und die Liebe zu den Fremden – den Nachbarn, die man noch nicht kennt

„Amsterdam ist paradox. Es ist ein Dorf der Anonymen. Und das ist positiv! Amsterdam ist kuschelig und klein. Man kennt seine Bars und seine Nachbarn. Amsterdam ist offen und herzlich. Man ist nie einsam, aber hat die Möglichkeit, allein zu sein.“, schildert Erik, der pensionierte Holländer das Amsterdamer Lebensgefühl. Nach zwei Tagen sammeln sich in Annas schwarzen Kasten mit der großen Linse acht Nationalitäten, 15 Gesichter und drei Backsteinwände.

Click Click! – Liebe, Freiheit, Friedensblase

Jillians stürmischer Blizzard namens Welt wütet derzeit mit voller Wucht. Durch all die bedrückenden Nachrichten fühlt sich das Gute, die Güte und die globale Gemeinschaft so fern. Mit Kunstprojekten wie diesem ist man Teil von etwas Großem. Etwas Großem ohne politischen, wirtschaftlichen oder religiösen Hintergrund.

In den darauffolgenden Tagen fotografiert Anna weitere 30 Amsterdamer. Bis zum 25. März werden 35 Bilder folgen und dann reisen die bearbeiteten Fotografien nach New York. Dort werden sie auf das besondere Inside-Out-Plakatpapier gedruckt. Danach wird Anna alle Mitwirkenden kontaktieren und sie zum großen Kleben einladen. Sie alle zusammen werden ein öffentliches Gebäude mit ihren eigenen Portraits verschönern und gemeinsam – ganz nach JRs Kerngedanken –– Amsterdam umkrempeln. Inside Out.

Click Click! – We are Amsterdam. We are Europe. We are one.