Eine Familienphilosophie – Gentle Parenting

Gentle Parenting – ein Trendbegriff, der in den sozialen Medien gerade seine Runden macht. Meist junge Eltern zeigen hier, wie sie mit ihren Kindern umgehen. So auch @marliesjohanna:

Von Madleine Mahring und Jana Schiener

Marlies, 26, ist Mama von zwei Kindern. Sie studiert Psychologie und ist Influencerin. Sie zeigt auf TikTok, Instagram und YouTube, wie bedürfnisorientierte Erziehung (Gentle Parenting) im Alltag aussehen kann. Ihren Nachnamen möchte sie weder auf Instagram noch hier im Text nennen. Unter Gentle Parenting versteht sie keinen Erziehungsstil, sondern die generelle Beziehung zwischen den einzelnen Familienmitgliedern und den Umgang mit Menschen im Allgemeinen. Es geht um einen Kontakt auf Augenhöhe. Sie erklärt, dass man in einer bedürfnisorientierten Erziehung „Kindern beibringt, umsichtige Menschen zu werden, indem sie ihre Bedürfnisse kennen, aber auch die Bedürfnisse von andern achten, respektieren und lernen, Bedürfnisse nicht aufzuwiegen, sondern abzustimmen.“

Was hat Gentle Parenting mit Macht zu tun? Marlies antwortet: „Als Elternteil hat man immer eine gewisse Macht über seine Kinder, weil sie, gerade wenn sie noch klein sind, körperlich komplett von ihren Eltern abhängig sind. Bei Gentle Parenting geht es also darum diese Macht, die man selbst hat, zu sehen und verantwortungsvoll damit umzugehen.“

Auch Nele, 39, alleinerziehend und Mutter von zwei Kindern, beschreibt ihre Erziehung als sanft und bedürfnisorientiert. Sie lebt, nach ihren Worten, eine „bedürfnisorientierte Familienphilosophie“. Auch sie möchte ihre Namen und die Namen ihrer Kinder zum Schutz derer nicht hier nennen. Sie heißen in diesem Text Nele, Anna und Max.

Neles Familienphilosophie: Es müssen alle gesehen werden

Neles Wohnung ist bunt. Schon auf den ersten Blick ist klar: Hier wohnen Kinder. Kleine Schuhe stehen an der Garderobe, ein Schulranzen macht sich auf der Bank breit, Kinderbilder schmücken Türen und auf der Terrasse stehen Fahrräder in den unterschiedlichsten Größen.

Nele wohnt mit Anna (8) und Max (3) in Köln. Ihr Credo: „Alle Gefühle sind okay“ und danach lebt sie mit ihren Kindern. Es findet Kontakt auf Augenhöhe statt: „Sie dürfen alles sagen. Sie dürfen mich auch kritisieren. Sie können auch etwas doof finden, aber wir gehen in den Austausch“, zählt Nele auf. Wenn der blaue, vermeintlich falsche Becher einen Wutanfall auslöst, ist Neles Reaktion: „Ja okay, es ist halt grad nicht sein Becher.“ Nele bleibt ruhig. Ihr Verhalten erinnert an Videos in den sozialen Netzwerken, die unter dem Hashtag #gentleparenting laufen. Psychologiestudentin und Influencerin Marlies erklärt: „Bei Gentle Parenting, wenn es um die Bindung zu dem Kind geht, geht man auf die Gefühle ein, begleitet diese. Also benennt sie. Sagt: Hey, du bist grad traurig, du bist grad wütend. Ich versteh, dass dich das wütend macht und dass du dir das anders vorgestellt hast.“

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Prof. Dr. Gottfried Spangler erklärt, dass der Begriff der Feinfühligkeit in der Bindungsforschung richtungsgebend sei für eine gute Erziehung. Er ist Inhaber des Lehrstuhls fürs Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie an der Friedrich-Alexander-Universität (FAU) in Erlangen. Eltern sollten feinfühlig gegenüber den Bedürfnissen, Fähigkeiten und Gefühlen ihres Kindes sein.

So wirkt Nele: Sie hat Vertrauen in die Fähigkeit von Max, das große Fahrrad zu fahren und lässt ihn tatkräftig mithelfen, als es darum geht, das Fahrrad fahrtauglich zu machen. Prof. Spangler sagt zudem: „Feinfühligkeit bedeutet, Kinder in ihrer Autonomie zu unterstützen und bei Grenzen einzuschreiten.“ Nele sieht ihre Verantwortung und Macht. Sie beschreibt, dass sie auf Augenhöhe mit ihren Kindern lebt und sie ernst nimmt. Als Elternteil zieht sie jedoch Grenzen, „wenn es beispielsweise darum geht, abends ins Bett zu gehen, damit sie ausreichend Schlaf bekommen.“

In einer bedürfnisorientierten Familienphilosophie müssen alle gesehen werden – auch die Eltern. Nele berichtet aus eigener Erfahrung, dass man als Mutter an seine Grenzen kommt, wenn man „Kinder nur in Watte packt“ und nur auf die Wünsche der Kleinen eingeht. Auch Danielle Graf, Bloggerin, Autorin und Podcasterin, beschreibt das Problem, das auch Nele erkannt hat: „Viele verpassen den Punkt, an dem man sagt „‘So, jetzt bist du aber auch mal dran.‘“. Danielles Passion ist es, die Idee der bindungs- und bedürfnisorientierten Erziehung in die Welt zu tragen. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern im Norden von Berlin. Sie erklärt, dass Eltern häufig zu lange warten ihre Bedürfnisse auch einzufordern „und die Kinder gewöhnen sich dann daran, dass bei jedem kleinsten Quengeln Mama und Papa sofort springen.“ Sie fangen an in eine „Nörgelphase“ zu kommen, weil sie es so gewohnt sind. Das sei einer der größten Fehler, den Eltern machen: Sie berücksichtigen und kommunizieren ihre Bedürfnisse nicht ausreichend. Auch Prof. Spangler schließt sich dieser Kritik an: „Eltern, die sich zum Sklaven des Kindes machen, vergessen die eigene Würde und werden langfristig stark belastet sein.“

Deshalb kommuniziert auch Nele aus Köln ihre Bedürfnisse ganz klar: „So liebe Leute: Die Mama braucht jetzt mal bisschen Ruhe.“ Sie nimmt sich Abende und Wochenenden für sich, während ihre Kinder von einer Babysitterin betreut werden oder Zeit mit ihren Vätern verbringen. Auch im Alltag setzt Nele auf das Verständnis von Anna und Max: „Eine sehr zentrale Fähigkeit, die Kinder lernen müssen, ist Bedürfnisse aufzuschieben, oder Bedürfnisse abzugleichen mit anderen und auch auf die Bedürfnisse anderer einzugehen.“, sagt Prof. Spangler. Grenzen setzen musste Nele erst lernen, denn wie sie das Problem sieht: „Die gesellschaftliche Haltung ist ja: ‚Ach, du bist Mutter?‘ Und plötzlich streichst du alles aus deinem Leben, gehst auf in der Mutterrolle und es befriedigt dich bis ins letzte Haarspitzlein. Das ist verdammt nochmal nicht so!“

Erkenntnisse aus der Wissenschaft

Auch Prof. Dr. Christina Hansen, Lehrstuhlinhaberin des Lehrstuhls für Erziehungswissenschaften an der Universität Passau, kritisiert das Frauenbild, das oftmals im Zusammenhang mit bindungs- und bedürfnisorientierter Erziehung vermittelt wird: „In erster Linie sind Mütter die Bezugspersonen. In erster Linie sind das Vorstellungen aus einer weißen Mittelschicht. In erster Linie gibt es nur eine oder maximal zwei Bezugspersonen. Wir wissen heute, aus der Forschung: Das stimmt so nicht.“ Sie erwähnt die große Gefahr des enormen Drucks, der auf Müttern lastet, die glauben, allein verantwortlich für das Wohl ihres Kindes zu sein. Laut ihr gibt es keine „Toolbox“ für die Erziehung eines „guten Menschen.“

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Prof. Hansen geht auf die wissenschaftliche Herkunft bedürfnisorientierter Erziehung ein. Sie erwähnt die Psycholog*innen John Bowlby, der als Begründer der Bindungstheorie gilt, und Mary Ainsworth, die ebenfalls eine Hauptvertreterin dieser Theorie ist. Im Zentrum der Bindungstheorie „stehen besondere Formen der Sozialbeziehungen, die sich durch emotionale Sicherheit und Vertrautheit auszeichnen und mit nur wenigen Personen entstehen“, schreiben Liselotte Ahnert und Gottfried Spangler im Kapitel Die Bindungstheorie in Theorien der Entwicklungspsychologie. Ein Kind baut diese Bindung zuerst mit primären Bezugspersonen wie der Mutter oder dem Vater auf. Erfahrungen mit und innerhalb dieser Beziehung beeinflussen spätere soziale Beziehungen, den Charakter und die Gefühlswelt des Kindes bis ins Erwachsenenalter.

The Attachment Parenting Book: A Commonsense Guide to Understanding and Nurturing your Baby“ vom Kinderarzt William Sears und seiner Frau Mathar, Stillberaterin und Krankenschwester, hat seinen Ursprung in bindungstheoretischen Überlegungen. Sie formulieren die sieben Baby Bs. Diese sind Bonding, Breastfeeding, Baby wearing, Bed Sharing, Belief in your baby’s cry, Beware of baby trainers und Balance. Übersetzt: Kontaktaufnahme nach der Geburt, Stillen, Tragen des Kindes am Körper, Schlafen in Nähe des Kindes, Beachtung des Schreiens, Vorsicht bei Schlaftraining und Balance der Bedürfnisse von Mutter und Kind.

Ähnlich wie Prof. Hansen kritisiert Prof. Spangler diese „Toolbox“: „Vor allem in der Praxis des Attachment Parenting werden nun jedoch oftmals Teilideen herausgegriffen und verabsolutiert, wie beispielweise extremer Körperkontakt mit dem Baby, oder das möglichst lange Stillen.“ Er ergänzt, dass nicht der Körperkontakt zentral sei für eine gute Entwicklung des Kindes, sondern die elterliche Verfügbarkeit. Auch Danielle Graf, Autorin und Bloggerin, sieht die Gefahr von klaren Vorgaben. Eindringlich zählt sie auf: „Attachment Parenting ist: Du musst Folgendes machen, sonst machst du es nicht richtig. Also dieses: Das Kind muss im Familienbett schlafen, es muss Stoffwindeln haben, es darf keinen Schnuller haben, es darf nur bio-selbst-gekochten Brei essen. Es muss natürlich gestillt, getragen usw. werden. Das sind Faktoren, die machen nicht Attachment Parenting aus.“

Das Konzept des Attachement Parenting entstand erst in den 1980er Jahren. Betrachtet man die Geschichte der Erziehung stellt man fest, dass der Umgang mit Kindern davor lange von einer anderen Ansicht geprägt war: der autoritären Erziehung.

Tobis Erziehung – autoritär

Tobi ist 22 und studiert Lehramt. Er konnte nie dem Bild seiner Mutter „des perfekten Sohns in der perfekten Familie“ entsprechen. Druck und Manipulation waren ein stetiges Mittel, um der „perfekten Familie“ so nah wie möglich zu kommen. Der Moment „als die Autotür zuging“, vor dem hatte Tobi immer Angst. In diesen Momenten nach Familienfeiern wurde er zurechtgewiesen und zurechtgeschrien: „Du enttäuschst mich!“ Widerworte oder allein ein verzogenes Gesicht zur falschen Zeit konnten Situationen eskalieren lassen. „Ein Tanz übers Minenfeld“, so beschreibt es Tobi. Verbale Gewalt sei an der Tagesordnung gewesen und auch eine Ohrfeige sei hin und wieder nicht ausgeblieben.

Die Wissenschaft und Autor*innen wie Kurt Lewin oder Diana Baumrind, beschreiben die autoritäre Erziehung als kontrollierend, ablehnend gegenüber dem Kind und elternzentriert. Eltern sind in der Machtposition. Sie bestimmen die Regeln, sie entscheiden. Werden die Regeln gebrochen, oder Entscheidungen hinterfragt, wird bestraft – oftmals in Form von Verboten. Zudem muss das Kind hohen Ansprüchen genügen und seine Bedürfnisse stehen stets unter denen der Eltern. Liebe und Zuneigung spielen eine untergeordnete Rolle.

Marlies beschreibt hier, wenn sich das Kind nicht wunschgerecht verhalten hat: „in der klassischen autoritären Erziehung hat man das Kind weggeschickt bis es sich wieder zu benehmen weiß.“ Tobis Erziehung passt zur Beschreibung des autoritären Erziehungsstils. Er sagt, dass er nie ein liebe- und verständnisvolles Zuhause kennengelernt habe und das obwohl seine Mutter wisse, welche Auswirkungen eine autoritäre Erziehung auf ein Kind hat: Das Selbstwertgefühl leidet. Tobi erzählt, dass sie nicht anders erzogen worden sei, hätte auch verbale Gewalt erlebt, sei angebrüllt, aufs Zimmer geschickt oder geohrfeigt worden. Die Sichtweise von Tobis Mutter kann hier nicht dargestellt werden. Er möchte seine Mutter nicht kontaktieren, da sein Verhältnis zu seinen Eltern heute „schwierig, meist nicht existent“ ist, beschreibt er. Kontakt findet nur selten über das Telefon statt.

Laut Nora Imlau, Journalistin und Best-Seller-Autorin von Erziehungsratgebern, zeigen die Schilderungen von Tobi ein nicht akzeptierbares Verhalten gegenüber Kindern: „Wir haben kein Recht, Kinder schlechter zu behandeln als wir das einem Erwachsenen gegenüber tun würden. Das bedeutet, Kinder haben das Recht, dass wir sie nicht anschreien, ihnen nicht irgendwelche Dinge wegnehmen, sie nicht einsperren, sie nicht bestrafen, sie nicht beschämen.“ Nora Imlau schreibt über Familienthemen mit dem Fokus auf Bindung und Beziehung. Mehr zu Nora Imlau und Adultismus im Podcast:

„Ich habe mich als Kind machtlos gefühlt, weil es egal war, was ich gemacht habe. Es hat nichts verändert“, sagt Tobi. Seit über 20 Jahren versucht er etwas zu ändern, obwohl das als Kind überhaupt nicht seine Aufgabe ist. Die Verantwortung liegt stets bei den erwachsenen Personen. Tobi hat jedoch das Gefühl: „Irgendwer muss mit dem Teufelskreis brechen“. Tobi ist wütend, enttäuscht, nicht glücklich, aber vor allem müde. „Eine Familie wird man aber leider nicht so leicht los“, sagt Tobi etwas verbittert. Der Tanz übers Minenfeld ist es ihm nicht wert.

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Die täglich aus dem Boden sprießenden Beiträge zu Gentle Parenting auf Instagram, TikTok und Co. zeigen jedoch, dass der Erziehungs-Trend in eine andere Richtung geht, als es uns Tobi schildert. Zahlreiche Menschen kommen mit dem Begriffen Gentle Parenting und bedürfnisorientierte Erziehung in Berührung und lassen sich von der Familienphilosophie von Personen wie Marlies, Nele und Danielle Graf inspirieren.