Im folgenden Text geht es um Alkoholabhängigkeit. Wenn du dich mit Inhalten zu diesem Thema unwohl fühlst, überlege dir bitte, ob du den Beitrag lesen möchtest.

Zwischen Alltag und Abhängigkeit

Bier spielt in Bayern für viele Menschen eine große Rolle. Das manchmal als „Grundnahrungsmittel“ bezeichnete Getränk wird zu vielen Gelegenheiten getrunken und auf Volksfesten zelebriert. Irgendwo zwischen einem „O’zapft is!“ und klirrenden Maßkrügen kommt jedoch eine Frage auf: Wird in Bayern zu viel getrunken? Handelt es sich dabei um ein unhaltbares Vorurteil oder ist da etwas Wahres dran?

Florian Fink & Franziska Schröppl

So sehen viele Mülleimer in Parks in Bayern aus: umgeben von leeren Alkoholflaschen | Quelle: Aleksandr Kadykov auf Unsplash

Josef (Name von der Redaktion geändert) sitzt vor einer Mostschänke in Österreich. Von Zeit zu Zeit wandern seine Hände zum vor ihm stehenden Glaskrug, um einen kräftigen Schluck Apfelmost zu trinken. Josef ist 21 Jahre alt, studiert in Passau Grundschullehramt und kommt – wie er selbst sagt – aus „dem tiefsten bayerischen Wald“. Dort, im ländlichen Bayern, hat er seit seiner Jugend viele Erfahrungen und Erinnerungen mit Alkohol gesammelt. Dementsprechend weiß er, wie Menschen dort trinken und welches Verhältnis sie zu Alkohol haben. Er erzählt aus seinem Leben: „So richtig losgegangen ist es mit 13 oder 14 Jahren, da haben wir angefangen, uns öfter mal zu betrinken.“ Das war aber nicht nur bei Josefs damaliger Freundesgruppe der Fall, sondern auch bei vielen anderen Jugendlichen in seinem Heimatort. Auch im Zusammenhang mit Arbeit spielt Alkohol zuhause bei Josef eine große Rolle: „Wenn es etwas zu tun gibt, gibt es ein Bier dazu.“

Während der Oberstufe hat Josef bei wöchentlichen Besuchen in der örtlichen Dorfdisko angefangen, mehr Alkohol zu konsumieren. Er schätzt, dass er damals etwa drei Flaschen Wein pro Woche getrunken hat. Zu Beginn seiner Studienzeit ist sein Alkoholkonsum zunächst auf einem hohen Niveau geblieben, sagt Josef. Mittlerweile trinke er aber wieder weniger: „Am Anfang hatte ich eigentlich immer einen Kasten Bier in der WG, jetzt habe ich wahrscheinlich schon seit drei Wochen keinen mehr.“ Trotzdem merkt Josef an: „Das ein oder andere kleine Missgeschick hatte ich im Zusammenhang mit Alkohol schon“. Beispielsweise als er sich nachts einmal auf dem Nachhauseweg aus einem Nachtclub in Passau an einem Baum am Ufer des Inns erleichtern wollte. Im Rausch ist er aber am Baum vorbei gelaufen und fiel in den Fluss. Zum Glück war der Inn an dieser Stelle recht flach, so dass er lediglich bis zu den Knien im Wasser stand und seine untere Körperhälfte voller Schlamm war – Josef kam nochmal glimpflich davon, der Abend hätte aber auch weitaus schlimmer enden können.

Im Laufe seines Lebens ist Alkohol zu einem Alltagsbegleiter für Josef geworden. „Für mich ist Bier Teil der bayerischen Kultur“, sagt Josef, „Mir schmeckt es auch einfach gut.“ Manchmal trinke er aber auch, um stressige Momente zu überstehen: „Ich habe Prüfungsangst und trinke deshalb ab und zu vor einer Klausur mal ein Bier und das funktioniert relativ gut.“

Genau so ein Verhalten kann laut Psychologe Thomas Pölsterl von der Suchtberatungsstelle Prop e.V. in Erding der Anfang eines Alkoholproblems sein, da in solchen Momenten aus einem ‚Spaßtrinken‘ ein ‚Entlastungstrinken‘ wird. Auch andere Trinkgewohnheiten können erste Hinweise auf Suchtverhalten liefern. Dabei sind laut Pölsterl zwei Verhaltensweisen besonders auffällig: Betroffene trinken zunehmend zu unpassenden Gelegenheiten, teilweise auch heimlich. Außerdem ordnen sie andere Aspekte ihres Lebens dem Alkoholkonsum unter, beispielsweise indem sie ihre Freizeit nach Trinkgelegenheiten ausrichten.

Der Psychologe und Suchtberater Thomas Pölsterl. | Quelle: Thomas Pölsterl

Alkoholabhängige selbst können sich ihr Problem lange nicht eingestehen, weiß Pölsterl: „Es sind nicht selten die Angehörigen, die zuerst zu uns in die Beratung kommen. Wenn Angehörige den Instinkt haben, dass da irgendetwas nicht stimmt, dann liegen sie damit eigentlich so gut wie immer richtig“. „Zwischen ‚Alkoholiker‘ = schwarz und ‚Kein Problem mit Alkohol‘ = weiß gibt es alle möglichen Graustufen“, sagt er und fügt hinzu: „Viele der Menschen, die mich fragen, ob sie selbst alkoholabhängig sind, befinden sich eher im dunkelgrauen Bereich der Skala.“

Die Weltgesundheitsorganisation WHO versteht unter einer Alkoholabhängigkeit in der zehnten Ausgabe ihrer „Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ (kurz: ICD-10) Folgendes: Drei der nachfolgenden sechs Kriterien müssen für eine Diagnose erfüllt sein:

  • Es besteht ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, Alkohol zu konsumieren.
  • Es besteht eine verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums.
  • Es tritt ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums auf.
  • Es kann eine Toleranz nachgewiesen werden, das heißt, es sind zunehmend höhere Dosen erforderlich, um die ursprünglich durch niedrigere Dosen erreichte Wirkung hervorzurufen.
  • Andere Vergnügungen oder Interessen werden zugunsten des Substanzkonsums zunehmend vernachlässigt.
  • Der Alkoholkonsum wird trotz nachweisbarer eindeutiger schädlicher Folgen körperlicher oder psychischer Art fortgesetzt.

Um ein „Entlastungstrinken“, also ein Trinken, um Stress abzubauen, geht es für Josef nur in Ausnahmefällen. Meist stehen für ihn andere Aspekte im Mittelpunkt, wenn er trinkt, wie zum Beispiel die gesellige Atmosphäre, die Alkohol schaffen kann. Mit seinen Mitbewohner:innen geht er gerne in eine Spielebar. Dort trinkt er meistens zwei oder drei Halbe Bier an einem Abend. Seit ein paar Wochen arbeitet Josef nun auch in dieser Kneipe und hat großen Spaß an seiner neuen Aufgabe: „Das Coole an meinem Chef ist, dass ich auch während der Schicht etwas trinken darf, solange ich noch funktioniere.“

Ähnlich hat es auch bei Gabi Salzberger angefangen. Heute ist sie trockene Alkoholikerin. Die mittlerweile 59-Jährige kellnerte in ihren Zwanzigern ebenfalls in ihrer Lieblingskneipe. Zu Beginn war sie dort wegen der guten Stimmung, doch mit der Zeit rückte der Alkohol immer mehr ins Zentrum ihres Lebens. Die Arbeit in der Kneipe war aber nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Gabis Weg in die Sucht begann weitaus früher.

Gabi stammt aus einer suchtbelasteten Familie. Auch ihr Vater und Großvater hatten ein Alkoholproblem und so war insbesondere Bier schon in ihrer Kindheit allgegenwärtig. Den Beginn ihres Lebens beschreibt sie im Nachhinein dennoch als schön. Aufgewachsen ist sie mit ihren Geschwistern auf einem Bauernhof in der Nähe von Eichendorf in Niederbayern.

Gabi Salzberger war acht Jahre Alkoholikerin | Quelle: Franziska Schöppl

Im Laufe ihrer Kindheit und Jugend sind viele Menschen in ihrem Bekannten- und Familienkreis gestorben. Über diese Trauer wurde zuhause nie gesprochen. „Die Bedürfnisse von mir und meinen Geschwistern sind diesbezüglich immer hinten angestellt worden“, erzählt Gabi. Und so lernte sie nie mit diesem Gefühl umzugehen. In späteren Jahren findet sie einen anderen Weg, um diese Gefühle zu verdrängen: den Alkohol. Schon als sie ihren ersten Rausch hat, verspürt die damals 17-Jährige diese, wie sie sagt, „grandiose Wirkung: Auf einmal ist der schreckliche Schmerz in meinem Inneren betäubt.“

Kurz bevor Gabi in der besagten Kneipe zu arbeiten beginnt, kommt ihr guter Freund Ernst ums Leben. Er verstirbt nach einem Abend mit Gabi bei einem Autounfall, als er allein nach Hause fährt. Ihr selbst kommt keine Schuld zu – und doch wird sie sich noch Jahre später die Schuld dafür geben. Wenn sie von diesem Abend erzählt, hat Gabi noch heute Tränen in den Augen: „Und bei mir war nur das Gefühl da: Schon wieder stirbt jemand.“ Der Weg in die Sucht ist meistens ein langsamer, doch nach Ernsts Tod ging es bei Gabi sehr schnell. In der Kneipe, in der sie arbeitete, wurde immer viel getrunken und für die Angestellten waren die Getränke kostenlos. Deshalb hat sie dort angefangen, Bacardi-Orange zu trinken und wieder spürte sie diese Wirkung: „Wie schnell geht das, dass ich an all das nicht mehr denke.“ Den Orangensaft hat sie nach kurzer Zeit weggelassen und ist umgestiegen auf Jim Beam pur. Nach nur einem Jahr hat sie bei einer Schicht eine ganze Flasche Jim Beam getrunken und konnte danach noch Auto fahren. Acht Jahre lang sollte es bei Gabi so weiter laufen.

Manchmal ist Gabi betrunken aggressiv geworden. Das passierte zum Beispiel dann, wenn ihr jemand den Autoschlüssel abnehmen wollte – dann flog im Streit ab und zu das ein oder andere Glas. Allgemein geht Alkoholkonsum oft mit Aggressivität einher, was sich auch in der polizeilichen Kriminalstatistik widerspiegelt. Laut dem Bundesministerium für Gesundheit stehen in Deutschland etwa 26 Prozent aller Gewaltverbrechen in Zusammenhang mit Alkohol. So werden zum Beispiel 18 Prozent aller Morde und 33 Prozent aller Fälle von Totschlag unter Alkoholeinfluss begangen, wodurch in Deutschland jährlich etwa 750 Menschen sterben.

Da Gabi zusätzlich zu ihrem Job als Kellnerin eine weitere Arbeit hatte, ist es schon mal vorgekommen, dass sie direkt von der Kneipe zur Firma fuhr und danach wieder ins Lokal zum Bedienen. Trotzdem bemerkte ihren zu hohen Konsum in den ersten Jahren niemand, auch wenn sie während der Arbeit manchmal eingeschlafen ist und geschwitzt und gezittert hat – die typischen körperlichen Symptome eines Alkoholentzugs. Weil sie sich aber nie Urlaub genommen hat, nie krank gewesen ist und nie unentschuldigt gefehlt hat, sprach sie ihr damaliger Chef nie auf ihr Problem an. Sie hat noch zu gut funktioniert. „Es waren aber auch andere Zeiten,“ erklärt Gabi, „viele hatten damals einen ähnlichen Konsum.“

Tatsächlich geht der Bierkonsum in Deutschland seit Jahrzehnten statistisch stark zurück. Lag der Jahresverbrauch pro Kopf im Jahr 1980 noch bei 146 Litern, betrug er im Jahr 2023 nur noch 88 Liter. Laut dem bayerischen Brauerbund ist dieser Rückgang in Bayern bei weitem weniger stark ausgeprägt als im Rest Deutschlands: Hier liegt der Jahresverbrauch pro Kopf noch immer bei etwa 120 Litern.

Wie hoch der Anteil der Frauen und Männer ist, die in Deutschland einen schädlichen Alkoholkonsum haben, siehst du im folgenden Diagramm.

So hoch ist der Anteil der Frauen und Männer, die einen schädlichen Alkoholkonsum haben in den einzelnen Bundesländern. | Quelle: Alkoholatlas Deutschland 2022, Diagramm: Florian Fink

Auch im regionalen Marketing werden Bier und die Brauerei-Tradition aufgegriffen und zu Imagezwecken genutzt. So bezeichnet sich beispielsweise der Untere Bayerische Wald im Dreiländereck Bayern-Österreich-Böhmen selbst als „Bierkulturregion“.

Wie viele Brauereien gibt es in Bayern?

Die räumliche Verteilung der Brauereien in Deutschland scheint diese Selbstvermarktung zu bestätigen: Laut Daten des Deutschen Brauer-Bundes und des Vereins Privater Brauereien Bayern gab es im Jahr 2023 in Deutschland 1.492 Brauereien. Davon befanden sich 622 im Bundesland Bayern, was einem Anteil von über 40 Prozent entspricht – und das, obwohl der Freistaat nur etwa 15 Prozent der deutschen Bevölkerung ausmacht.

Gabi und Josef kommen beide aus ländlichen Gegenden Bayerns. Alkohol ist aber keineswegs nur auf dem Land für viele Menschen ein täglicher Begleiter. In den Städten sitzen an warmen Sommertagen in Parks Gruppen von Menschen und trinken ganz selbstverständlich Alkohol mit ihren Freund:innen. An einem Samstagnachmittag im Juli bei über 30 Grad Celsius, sitzt auf einer Wiese in der bayerischen Universitätsstadt Passau auch Max (Name von der Redaktion geändert) mit Freund:innen – natürlich mit einem Bier in der Hand. Um 17 Uhr geht es auf eine Bootsparty, deshalb stimmt sich die Gruppe zusammen ein. „Vorglühen“ gehört für viele junge Menschen zu jeder Feier dazu. Später soll es noch gewittern. „Bei so einem Wetter müssen wir noch mehr trinken, sonst macht es ja gar keinen Spaß“, erklärt ein Freund von Max. Außerdem sei das Bier auf dem Boot viel zu teuer. Deshalb bereitet die Gruppe einen Flachmann vor – im Hosenbund können sie den ganz leicht auf das Boot schmuggeln. Das hält Max aber nicht davon ab, sich auf dem Boot vier Gläser Weizen zu bestellen. Bier trinken und Freund:innen treffen – das gehört für Max zusammen. „Im Laufe der Jugend hat sich das einfach so entwickelt, dass man sich vor allem zum Feiern mit Freunden getroffen hat“, sagt Max. Das ist aber nicht nur in seinem Freundeskreis so gewesen, sondern eigentlich bei jedem, den er kenne.

Max ist 25 Jahre alt und studiert Grundschullehramt in Passau, genau wie Josef. Sein erstes Bier hat er mit 14 probiert. Seit er 16 ist, hat er dann regelmäßig gemeinsam mit Freund:innen getrunken. Danach sei es stetig mehr geworden, erklärt Max. Bis zu seinem 22. Geburtstag: „Das war wahrscheinlich der Höhepunkt.“ In diesem Jahr wurde er mit 2,17 Promille im Blut auf dem Fahrrad erwischt. Daraufhin musste er eine Medizinisch-Psychologische Untersuchung absolvieren. Besser bekannt ist diese unter der Abkürzung MPU oder speziell in Niederbayern auch als „Depperl-Test“. Der Test prüft, ob er geeignet ist, weiterhin einen Führerschein zu besitzen. Einige Monate musste sich Max darauf vorbereiten, mit einem speziell darauf ausgerichteten Kurs. Der Kurs ist nicht verpflichtend, ohne ist ein Bestehen der Tests aber weitaus schwieriger. Bei der Prüfung erzählt man einem:einer Psycholog:in eine Geschichte, die beweisen soll, dass man sich gebessert hat und verantwortungsvoll trinkt, erklärt Max. So hat er von seiner Beziehung zu seinen Eltern und Geschwistern erzählen müssen und inwiefern dort der Ursprung seines Alkoholkonsums liegen könnte. Außerdem hat er bei dem Test Freund:innen genannt, mit denen er viel getrunken hat und angegeben, dass er heute keinen Kontakt mehr zu ihnen hat. Diese Geschichte war teilweise erfunden, teilweise hat sie aber Bezug zur Realität gehabt, so Max. „Das Ganze soll ja glaubwürdig sein.“ Nach der MPU hat er weniger getrunken, mittlerweile ist sein Alkoholkonsum aber wieder angestiegen.

Der Abend auf dem Fahrrad war aber nicht der schlimmste ‚Absturz‘ von Max, nur der folgenreichste. Am stärksten betrunken war er wahrscheinlich an seinem 21. Geburtstag. „Da habe ich irgendwann angefangen Vodka pur zu trinken“, erzählt er. Wie viel er genau getrunken hat, weiß er nicht mehr. Schließlich musste er mit dem Krankenwagen in ein Krankenhaus gebracht werden. Expert:innen bezeichnen solch ein Trinkverhalten als episodisches Rauschtrinken. Darunter zählen laut dem Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit, Pflege und Prävention Abende, an denen mehr als fünf alkoholische Getränke getrunken werden, da diese und höhere Mengen als besonders problematisch gelten. Laut dem Epidemiologischen Suchtsurvey 2021, einer Studie zum Konsum von legalen und illegalen Drogen in Deutschland des Instituts für Therapieforschung, hatten im Durchschnitt 38,3 Prozent der Männer und 21,6 Prozent der Frauen in Bayern innerhalb von 30 Tagen einen solchen Abend – aber nicht alle davon enden mit einem Krankenhausbesuch.

Die Menge, die Max in einer Woche trinkt, fällt sehr unterschiedlich aus. Es gibt Wochen, in denen er nur ein bis zwei Bier trinkt. In anderen Wochen trinkt er an drei bis vier Abenden. „Das können mal zwei, mal drei und bei einer Feier auch mal acht oder mehr Getränke sein“, erzählt Max. Der Samstag auf der Bootsparty ist auch so ein Tag mit acht oder mehr Getränken für ihn. Jedem:jeder wird sofort ein Bier angeboten und wenn dieses ausgetrunken ist, ist Max der Erste, der ein Neues anbietet. Auf dem Weg zur Bootsparty muss es schnell gehen: Die Gruppe hat noch zu viel Alkohol dabei. Auf den letzten Metern kippen alle noch schnell ihr Getränk hinunter. Nach der Ticketkontrolle auf dem Boot gehen Max und seine Freund:innen direkt an die Bar und bestellen sich alle ein Glas Weizen. So geht es über den ganzen Abend hinweg: Die Freundesgruppe tanzt und bestellt Bier. Nach der Party auf dem Boot geht es noch in einen Club – natürlich wird auch dort weiter getrunken. Hier aber nicht nur Bier, sondern auch den ein oder anderen Cocktail.

Max betont, dass er eigentlich so gut wie nie alleine trinkt, sondern nur mit Freund:innen und Mitbewohner:innen. Auch Gabi Salzberger hat nur in Gesellschaft getrunken. In ihrer eigenen Wohnung hatte sie auch nie Alkohol. „Nur wenn wir weg waren – und wir waren halt fast nur weg – haben wir getrunken“, sagt Gabi. Auch Gabi musste in ihrem Leben eine MPU machen, da sie betrunken vier Autounfälle verursacht hat. Sie hat bei diesen Unfällen nur sich selbst verletzt, doch der Letzte sollte ihr Leben nachhaltig verändern. Er bewegte sie dazu, sich Hilfe zu suchen und so entdeckte sie den Kreuzbund für sich, eine katholische Selbsthilfe- und Helfergemeinschaft für suchtkranke Menschen und ihre Angehörigen, die deutschlandweit tätig ist.

Wenn du mehr über Gabis Weg aus der Sucht und über den Ablauf eines Entzugs erfahren möchtest, hör hier in unsere Podcast-Folge rein:

Gabi hat das Schreiben von eigenen Gedichten bei ihrem Weg aus der Sucht sehr geholfen. Hier kannst du dir ihr Gedicht namens „Kamishibai“ anhören:

Die wenigsten Menschen nehmen komplett freiwillig Hilfe in Anspruch, erklärt Psychologe Thomas Pölsterl, der die Beratungs- und Behandlungsstelle Prop e.V. in Erding leitet. Erst nach einem Führerscheinentzug suchen viele Personen mit einem Alkoholproblem, wie Gabi, eine solche Beratungsstelle auf. Ein weiterer Grund ist oft ein:eine Ehepartner:in, der:die den:die Betroffene:n zwingt, sich Hilfe zu suchen. Ungefähr 60 Prozent der Patient:innen der Suchtberatungsstelle sind dort aufgrund von Problemen mit Alkoholabhängigkeit. Pölsterl betont, dass es keine typischen Personen mit Alkoholproblemen gibt. „Süchtig werden kann jeder“, so Pölsterl. „Bei uns sind vom Professor bis zum Hilfsarbeiter alle möglichen Menschen als Patienten“, erklärt Pölsterl.

Du glaubst, dass du selbst ein Alkoholproblem hast und weißt nicht, an wen du dich wenden sollst? Der erste Schritt ist für viele Betroffene der schwierigste, aber gleichzeitig ist er der wichtigste von allen. Hier findest du ein paar Hilfsangebote und erste Anlaufstellen, bei denen du dich informieren oder beraten lassen kannst:

  • Im Suchthilfeverzeichnis der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen findest du Beratungsstellen in deiner Nähe: https://www.dhs.de/service/suchthilfeverzeichnis
  • Die BZgA bietet ein anonymes Infotelefon zur Suchtvorbeugung an, bei dem du dich von Montag bis Donnerstag von 10 bis 22 Uhr und von Freitag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr beraten lassen kannst. Auch bei einer schon bestehenden Sucht.
    • Rufnummer: 0221 89 20 31
  • Informationen dazu, wie der Weg aus der Sucht abläuft und welche Angebote es in deiner Nähe gibt, findest du auf der Website ‚Suchtportal.de‘: https://dassuchtportal.de/alkoholsucht/erste-schritte-aus-der-alkoholsucht/
Aus der beruflichen Praxis im Umgang mit alkoholabhängigen Menschen kann auch Professor Norbert Wodarz berichten. Er ist Chefarzt des Zentrums für Suchtmedizin der Medizinischen Einrichtungen des Bezirks Oberpfalz (kurz medbo). Allgemein sieht er nicht nur die Menschen selbst in der Verantwortung für ihren Konsum, sondern auch gesellschaftliche Normen und die Politik, die seiner Meinung nach beide einen zu lockeren Umgang mit Alkohol pflegen. Beispielsweise ist die 0,5 Promillegrenze beim Autofahren für Wodarz aus medizinischer Sicht nicht begründbar. Durch die aktuelle Gesetzeslage versteht er seine eigene Rolle als Chefarzt eines Zentrums für Suchtmedizin so: „Ich betrachte mich als jemanden, der die Scherben von diesem Vorgehen dann immer wieder aufkehren muss, mit den ganzen schwer betroffenen Menschen, die an Alkoholproblemen leiden.“

Professor Dr. Norbert Wodarz, Chefarzt des Zentrums für Suchtmedizin am medbo Bezirksklinikum Regensburg | Quelle: medbo KU / Matthias Eckel

Speziell in Bayern sei es oft der Fall, dass Menschen zum Alkoholkonsum sozialisiert werden, sagt Wodarz. Zudem herrsche in ganz Deutschland eine sogenannte ‚Ambivalenzkultur‘ vor, in der Alkoholkonsum einerseits ein fester Bestandteil des Alltagslebens ist und sich Menschen, die keinen Alkohol trinken, rechtfertigen müssen. Andererseits werden alkoholabhängige Personen aber ebenfalls stigmatisiert und von der Gesellschaft ausgegrenzt. Wodarz formuliert es drastisch so: „Das Ganze funktioniert ungefähr nach dem Motto ‚Saufen ist schon okay, aber wenn dann jemand eine Abhängigkeit entwickelt hat, dann wollen wir mit ihm auch nichts mehr zu tun haben‘.“ Deshalb glaubt Wodarz, dass es für Betroffene umso schwieriger ist, sich ihr eigenes Suchtproblem einzugestehen und sich Hilfe zu suchen, je gesellschaftlich akzeptierter eine Droge ist.

Wie, wann und warum eine Abhängigkeit entsteht, ist sehr individuell und es handelt sich dabei um einen komplexen und vielschichtigen Prozess. Bei den meisten abhängigen Personen spielen biologische, psychologische und soziale Faktoren zusammen und beeinflussen sich gegenseitig. Bei den biologischen Aspekten geht es darum, dass es zu Veränderungen im Gehirn kommt, wenn man regelmäßig Alkohol trinkt. „Unser Gehirn erlernt Sucht“, sagt Wodarz dazu knapp.

„Stellen Sie sich vor, Sie haben einen stressigen Job und merken, dass es Ihnen abends immer besser geht, wenn Sie nach der Arbeit ein oder zwei Gläser Wein trinken. Wenn Sie das dann ein paar Mal machen, lernt Ihr Gehirn, dass es Ihnen nach dem Alkoholkonsum besser geht. Wenn Sie das lange genug so machen, kommt das Gefühl, dass Sie sich jetzt schon richtig auf Ihr Glas Wein nach der Arbeit freuen, dann automatisiert auf, auch wenn Sie das selbst eigentlich gar nicht möchten. Das passiert deswegen, weil Ihr Gehirn gelernt hat, in bestimmten Gefühlszuständen die angenehme Wirkung von Alkohol zu erwarten.“

Professor Norbert Wodarz, Chefarzt für Suchtmedizin

Auch die Umgebung spielt bei der Entstehung von Sucht eine Rolle und beeinflusst Verhaltensweisen im Zusammenhang mit Alkohol. Stressige und belastende Situationen im Leben, beispielsweise eine Trennung, ein Todesfall in der Familie oder der Verlust des eigenen Arbeitsplatzes können dazu führen, dass sich Menschen in die angenehme Wirkung von Drogen flüchten – so auch bei Alkohol.

Wenn man das eigene Risiko abschätzen möchte, empfiehlt Wodarz einfache und schnelle Tests, die man auch im Internet findet. Um herauszufinden, wie besorgniserregend ihr Konsum ist, haben wir deshalb die beiden Studenten Max und Josef gebeten, einen solchen Test zu machen. Dieser ist Teil eines Projekts der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), welches über legale und illegale Drogen informiert.

Du möchtest dein eigenes Konsumverhalten hinterfragen?

Im Laufe des Tests wird der Alkoholkonsum von Josef und Max in den vergangenen sieben Tagen genauer unter die Lupe genommen. Sie sollen angeben, wie viel sie getrunken haben. So hat Josef an vier Tagen der Woche getrunken. Max muss erst eine Zeit lang überlegen, bis er sich an all die Male erinnert, an denen er in der vergangenen Woche Alkohol getrunken hat – letztlich kommt er auf fünf Tage.

Nach ein paar weiteren Fragen kommt der Test bei Max und Josef zu unterschiedlichen Ergebnissen. Das Testergebnis verrät, dass Josef einen riskanten Alkoholkonsum hat. Er hat im Durchschnitt, wenn er getrunken hat, ungefähr 31 Gramm reinen Alkohol zu sich genommen. Mit einem solchen Konsumverhalten ist er in Bayern nicht alleine. Laut dem Epidemiologischen Suchtsurvey 2021, einer Studie des Instituts für Therapieforschung, haben hier 24,6 Prozent der Alkohol konsumierenden Frauen und 23,2 Prozent der Alkohol konsumierenden Männer einen riskanten Alkoholkonsum. Max hatte in dem Test sogar einen schädlichen Alkoholkonsum. Er hat an den fünf Tagen, an denen er alkoholische Getränke zu sich genommen hat, durchschnittlich ungefähr 66 Gramm reinen Alkohol pro Tag getrunken. Zum Vergleich: Ein Schnapsglas, das mit 40-prozentigem Schnaps gefüllt ist, enthält etwa 13 Gramm reinen Alkohol. Damit liegt Max in einem schädlichen Bereich. Auch dieses Ergebnis ist in Bayern nicht unüblich. Laut dem Epidemiologischen Suchtsurvey 2021 haben 26,1 Prozent der Männer und 10,7 Prozent der Frauen hier einen solch problematischen Alkoholkonsum.

In Bayern schätzen die Menschen oft falsch ein, ab welchen geringen Mengen Alkohol bereits gesundheitsschädlich sein kann, erklärt Professor Wodarz, Chefarzt des Zentrums für Suchtmedizin der Medizinischen Einrichtungen des Bezirks Oberpfalz in Regensburg. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab als Richtwerte für einen risikoarmen Konsum bis vor wenigen Jahren noch einen Richtwert von 24 Gramm Reinalkohol bei Männern und zwölf Gramm bei Frauen pro Tag an. In diesem Diagramm siehst du, welche Gläser Alkohol ungefähr zehn Gramm Reinalkohol entsprechen:

Diese Gläser enthalten ungefähr zehn Gramm Reinalkohol. | Quelle: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V., Diagramm: Franziska Schröppl

Vor einigen Jahren hat die WHO noch empfohlen, nicht mehr als einen halben Liter Bier pro Tag zu trinken, mittlerweile rät sie zu einem Alkoholverzicht. „Alkohol ist ein Zellgift. Deshalb ist prinzipiell jeder Alkoholkonsum mit einem gesundheitlichen Risiko verbunden und der einzige risikofreie Konsum läge bei Null. Aber das ist in Bayern in dieser Form nicht vermittelbar“, erklärt Wodarz. Max und Josef liegen mit ihrem Trinkverhalten über dem, was die WHO als risikoarmen Konsum versteht, von einer Abhängigkeit kann man im Moment aber noch nicht sprechen.

Wie sich aus den Ergebnissen des Epidemiologischen Suchtsurveys 2021 erkennen lässt, sind die Testergebnisse von Josef und Max in Bayern nicht ungewöhnlich. Der Alkoholkonsum im Freistaat scheint demnach auch in gesundheitlich riskanten oder sogar schädlichen Mengen weit verbreitet zu sein. Gerade unter jüngeren Menschen gehört laut Josef und Max das Trinken bei sozialen Ereignissen oft einfach dazu: „Es hat sich in meinem Umkreis eigentlich bei jedem so entwickelt, dass man sich ab einem gewissen Alter zum Feiern und zum gemeinsamen Weggehen getroffen hat“, so Max, teils in großen Mengen, wie etwa auf den in Bayern besonders beliebten Volksfesten. Dort wird deutlich, welchen Stellenwert Alkohol und insbesondere Bier für viele Menschen im Freistaat hat.

Wenn du sehen möchtest, wie der Alkoholkonsum bei einem typischen Volksfest in einer bayerischen Kleinstadt aussieht, schau dir dieses Video an:

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Das Vorurteil über Bayern als besonders trinkfreudiges Bundesland, in dem Bier eher als Grundnahrungsmittel statt als Rauschmittel gesehen wird, trifft also zu. Obwohl das Trinken von Alkohol im bayerischen Alltag fest etabliert ist, werden abhängige Menschen von der Gesellschaft trotzdem stigmatisiert. Psychologe Pölsterl erklärt diese Einstellung so: „Wir sind eine sehr alkoholaffine Gesellschaft und auch hochproblematisches Trinken ist noch gesellschaftlich akzeptiert. Dann gibt es aber plötzlich einen gewissen Kipppunkt, an dem die Betroffenen dann ‘aus der Rolle fallen’, indem man die Arbeit oder den Führerschein verliert und dann ist man plötzlich Alkoholiker. Das passiert in der Wahrnehmung der Menschen oft quasi von einem Tag auf den anderen und erschüttert auch das Selbstverständnis der Betroffenen“. Dabei entsteht die Abhängigkeit dieser Betroffenen nicht aus Eigenverschulden heraus, sondern aus vielen verschiedenen Gründen – und auch die bayerische Gesellschaft und ihr lockerer Umgang mit Alkohol tragen ihren Teil dazu bei.

Florian Fink & Franziska Schröppl

Das Thema Alkohol in Bayern hat uns begeistert, weil wir beide in Niederbayern aufgewachsen sind und deshalb unser Leben lang von Bier umgeben waren. Deshalb hatten wir das Gefühl, dass es uns alle betrifft.