Hilfe, Informationen und Warnungen. Von jungen Menschen für junge Menschen. Das ist das Ziel, das sich Milla in den Kopf gesetzt hat. Mit 14 Mitschülern möchte sie auf die Gefahren des Internets aufmerksam machen, denn heutzutage erlebt jedes zweite Kind, das online im Netz unterwegs ist, sexualisierte Gewalt. Täter werden immer hemmungsloser. Milla dreht den Spieß um.
Von Julia Dille
„Na, du Süße. Bock auf Schreiben?“, lautet die Nachricht, die hero_lukas01 Milla zuletzt über Snapchat gesendet hat. Und als er nach kurzer Zeit keine Antwort erhält, folgt ein weiterer Text: „Wie geht’s dir, du Hübsche? I miss u!“
An Nachrichten dieser Art von Fremden wie hero_lukas01 hat sich Milla noch immer nicht gewöhnt. Heute lässt sie ihren Chatpartner etwas warten, was ihm gar nicht zu gefallen scheint. Prompt eine Minute später meldet der Banner auf dem
Sperrbildschirm ihres iPads mit einem tirilierenden Ton eine neue Benachrichtigung von ihm an, die Milla mit leicht zitternden Händen öffnet. Sie weiß nie genau, was auf sie zukommt. Im Vordergrund sieht man eine weiße Boxershorts männlichen Geschlechts, darunter bildet sich unverkennbar ein erigierter
Penis ab.
Gezielte Manipulation Minderjähriger
Milla atmet tief durch, greift nach ihrem iPhone und macht ein Foto vom Bildschirm ihres iPads. Screenshots werden dem Chatpartner auf Snapchat direkt angezeigt und wären zu auffällig, trotzdem muss Milla solche Details festhalten. „Ich schreibe dir später wieder, Süßi.“, tippt Milla schnell zurück und schickt ein rotes Herz hinterher. Hero_lukas01 vermutet hinter ihr ein 13-jähriges Mädchen. Ihre Hobbys sind, wie sie ihm verraten hat, Feldhockey und Bouldern. Diese Angaben der Freizeitbeschäftigungen stimmen mit Millas eigenen überein. Allerdings ist sie 17 Jahre alt und Schülerin der elften Klasse eines humanistischen Gymnasiums im Münchner Westen. Dass sie sich mit einer anderen Identität vorgestellt, ist kein Zufall.
Im Rahmen ihres P-Seminars im Leitfach Psychologie mit dem Titel „Gefahren des Internets für Minderjährige“ haben Milla und die anderen 14 Teilnehmer des Seminars es sich zur Aufgabe gemacht, durch Vorträge in der Unter- und Mittelstufe ihrer Schule auf ebensolche aufmerksam zu machen. Denn oft wird von Kindern und Jugendlichen unterschätzt, welche Personen sich im Internet aufhalten und dass nicht hinter jedem Kompliment eine gute Absicht steckt.
„Zu Beginn des Projekts haben wir uns in verschiedene Gruppen eingeteilt“, erklärt Milla. Sie selbst beschäftigt sich mit dem Thema Cybergrooming. Dieser Begriff bezeichnet die gezielte Manipulation vor allem von Minderjährigen über das Internet mit dem Ziel, an den Opfern sexuell motivierte Übergriffe bis hin zur Vergewaltigung zu begehen.
Neben der Gruppe rund ums Cybergrooming gibt es zudem eine, die sich mit dem Phänomen der Lover Boys beschäftigt sowie eine weitere mit dem Schwerpunkt Cybermobbing. „Anschließend haben sich alle Gruppenmitglieder neue Identitäten durch Fake-Accounts auf verschiedensten Plattformen
erstellt — sowohl auf Social Media wie Instagram und Snapchat als auch in Spiele-Apps mit Chatfunktionen wie zum Beispiel Fortnite, Moviestar Planet und Horse Riding Tales, auf denen wir mit den pädosexuellen Tätern in Kontakt treten können. Diese halten sich dort auf, wo ihre Opfer online sind“, erzählt Milla.
„Merke selbst, wie schnell ich mich mitreißen lasse“
„Natürlich denke ich immer daran, dass ich hier an einem Experiment teilnehme.“ Ihrer Meinung nach sei dieser Schritt wichtig, um den jüngeren Mitschülern später aus Erfahrung berichten und diese mit passenden Beispielen veranschaulichen zu können. Aber umso schlimmer sei die Erkenntnis, dass es so viele unschuldige Kinder und Jugendliche gäbe, die den Fängen der Täter ausgesetzt seien und nicht differenzieren könnten zwischen Tätern und gewöhnlichen Kindern, die einfach nur Kontakt zu Gleichaltrigen suchten. „Ich merke selbst, wie schnell ich mich mitreißen lasse, gerade auch, weil die Täter keine Grenzen kennen. Meist bleiben sie unbestraft, weil die Opfer sich schämen und niemandem anvertrauen.“
Milla seufzt und streicht eine lose Haarsträhne hinter ihr linkes Ohr. Sie ist groß und schlank, hat haselnussbraune Augen, karamellfarbige Haare bis zur Schulter und trägt mit Vorliebe weite Kleidung, am liebsten mit auffälligen Mustern und in schrillen Farben. Es ist Dienstag, der 28. Februar um 15.27 Uhr.
Die Schülerin sitzt mit überschlagenen Beinen an einem Tisch in dem kalten, mit vielen Postern und Plakaten geschmückten Klassenzimmer, in dem das Seminar seit Beginn des Schuljahres wöchentlich stattfindet und präsentiert nun stolz ihren InstagramFake-Account. Er gehört einer angeblichen Louiise.sophiee, wie der Benutzername zeigt. Den gleichen Namen hat sie auch auf allen anderen Plattformen gewählt. Das Profilbild zeigt ein Mädchen von hinten. Diverse Beiträge spiegeln ihre angeblichen Interesse wider: ein Hockeyfeld, auf dem ein Spiel ausgetragen wird, aber auch einige Bilder der angeblichen Louise (beziehungsweise Milla selbst im Alter von 13 Jahren, aber durch Fotoshop sind ihre Züge fast unverkennbar und stark verzerrt worden) mit Filtern sowie Fotos aus Urlauben und poetische Sprüche, die man genauso auf Tumblr. vorfindet. Alles deutet darauf hin, dass dieses Profil wirklich einer unschuldigen, naiven 13-Jährigen gehört.
Alle Accounts, die zum Zweck des Seminars erstellt worden, sind nicht öffentlich. Trotzdem nimmt Milla zu Forschungszwecken jeden an. Hero_lukas01 hat Louise beziehungsweise Milla vor zwei Tagen über Horse Riding Tales angeschrieben, wo vor allem junge, pferdebegeisterte Mädchen viel Zeit verbringen. Laut
Menschenrechtsaktivistin Inge Bell, die sich seit einigen Jahren unter anderem gegen jegliche sexuelle Übergriffe durch das Internet einsetzt und viele Fachvorträge wie auch zum Thema Cybergrooming hält, gehört er zum Typ der übersexualisierten Täter, die sich durch ihr Vorgehen und ihr Ziel von den Intimitäts-Tätern abgrenzen.
Skrupellose Täter
So hat Hero_lukas01 die Intention, durch viele Komplimente schnelles Vertrauen zu seinen Chatpartnern aufzubauen, um an private Daten zu gelangen, die entweder zum Eigengebrauch genutzt werden oder im Darknet landen. Zudem hat er Milla gefragt, ob er ihren Snapchat-Nutzernamen erhalten könne, um
der Zensierung, die auf Apps wie Horse Riding Tales üblich ist, auszuweichen. Das seien aber nicht die einzigen Ausreden der Täter, so Inge Bell. „Oft fragen sie die Kinder nach einem Videochat, behaupten aber selbst, dass ihre Kamera kaputt sei. Wenn das Kind sich trotzdem dazu überreden lässt, sind Bildschirmaufnahmen von den Handlungen der Opfer nicht unüblich. Übersexualisierte Täter wollen schnell zur Sache kommen. Dadurch werden sie fast schon skrupellos in ihrem Vorgehen und haben keinerlei Scheu.“
Seitdem die beiden über Snapchat kommunizieren, hat Hero_lukas01 Milla schon einige sexuell anzügliche Kommentare und Bilder geschickt, in der Hoffnung, er würde Vergleichbares zurückbekommen. Zwar schreiben Milla und ihre Teammitglieder auch ziemlich provokativ mit den Unbekannten, jedoch habe der Leiter des Seminars, Herr Romero, das Versenden von Bildern jeglicher Art streng untersagt. Die Gefahr, dass das Material in falsche Hände gelänge, sei viel zu groß.
„Allein die Vorstellung, dass solche Unbekannte intime Fotos von mir sehen könnten, bereitet mir eine richtige Gänsehaut“, stimmt Milla zu und verschränkt fröstelnd die Arme vor ihrem Oberkörper. Etwa drei Wochen später, am 14. März, endet die Phase der Kommunikation mit Unbekannten im Internet nach etwa einem Monat. Nächste Woche sollen die gesammelten Daten ausgewertet werden. In der letzten neun Tagen hat Milla den Spieß umgedreht und aktiv den Kontakt zu Fremden auf den verschiedensten Spiele-Plattformen gesucht.
Ihr Fazit: Es seien viele Gleichaltrige von louiise.sophiee unter diesen Menschen gewesen, aber auch einige, die, wie sie durch ihren mittlerweile geschulten Blick festgestellt habe, nichts Gutes im Schilde führen würden. „Mir fällt schon eine Last von den Schultern, jetzt, wo nur noch die Vorbereitung der Vorträge auf dem Plan steht“, gibt Milla erleichtert zu. Wieder sitzt sie an dem gleichen Platz wie zwei Wochen zuvor. „Es war ein spannendes Seminar bisher, wenn
auch ziemlich gruselig. Seit Beginn des Projekts habe ich aber immer mehr den Wunsch, mich nach dem Abitur beruflich in diese Richtung zu bewegen. Am liebsten als Psychologin, die sich mit Pädosexualität auseinandersetzt.“ Und damit sind gleich zwei Ziele erreicht, denn das Seminar soll nicht nur ein Projekt
durchführen, sondern auch eine Orientierung für die berufliche Weiterbildung bieten. Und dass die Vorträge, die zu Beginn des nächsten Schuljahres angesetzt sind, ein voller Erfolg werden, da ist sich Milla zu hundert Prozent sicher. Wenn sich jemand mit ganzem Herzblut für das Gelingen des Seminars und weniger
Sexual-Opfer im Netz einsetzt, dann ist das definitiv sie!
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