Die Chance auf Erfolg und Wohlstand. Die Definition von „The American Dream“. Nicht in den USA, sondern in Deutschland will João Pedro, ein Student aus Brasilien, diese Chance haben.

Von Fernanda Braga

Rio de Janeiro, Februar 2022. Es ist Sommer in Rio. Die Winterjacke, die an João Pedros Rucksack hängt, hebt sich vom sonnigen Himmel der Stadt ab. Er atmet tief durch und steigt ins Flugzeug. Ein paar Reihen weiter hinten sitzen seine Eltern. Sie wollen João Pedro in den ersten Tagen helfen. Die Flugbegleiter schließen die Tür des Flugzeugs. Der Pilot kündigt den Start an. 3, 2, 1. Das Flugzeug fliegt über Rio de Janeiro.

João Pedro blickt aus dem Fenster. Er weiß nicht, wann er zurückkommt. Sein Ziel ist die Universitätsstadt Marburg. Dort absolviert João Pedro das zweite Semester des Studienkollegs an der Philipps-Universität Marburg. Das Studienkolleg ist ein Kurs, den Universitäten in Deutschland anbieten. Es bereitet Studenten mit Schulabschlüssen von außerhalb der Europäischen Union auf eine Prüfung vor, die den Zugang zu einem Studium ermöglicht. João Pedro hat das erste Semester online absolviert. In dem Flugzeug geht ihm nur eines durch den Kopf: die Angst. „Ich fühlte so viele Emotionen, die ich vor lauter Sorge nicht verarbeiten konnte“, erinnert er sich.

Er will der brasilianischen Realität entkommen

Passau, März 2024. João Pedro sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer seiner Wohnung. Zwei Jahre sind seit seiner Ankunft in Marburg vergangen. Im Juli 2022 schloss er das Studienkolleg erfolgreich ab. Im September 2022 nahm die Universität Passau ihn als Student der „Business Administration and Economics“ an. Heute ist João Pedro 20 Jahre alt. Der gebürtige Brasilianer ist er in Rio de Janeiro aufgewachsen. Er hat den Studiengang gewechselt und studiert nun Wirtschaftsinformatik in Passau. João Pedro ist einer von mehr als 370.000 internationalen Studierenden, die an deutschen Universitäten eingeschrieben sind. Motiviert durch die Unsicherheit, die wirtschaftliche Instabilität und die dekadente Lebensqualität in seinem Heimatland, ist ein Studium in Deutschland seiner Meinung nach die naheliegendste Entscheidung, um der brasilianischen Realität zu entkommen. „Als Jugendlicher wollte ich in einem Land leben, in dem ich
nach dem Studium ein anständiges Leben führen könnte“, erzählt er. Deutschland war die einfachste Wahl für ihn. Er hat Deutsch in der Schule gelernt. Außerdem gibt es hier keine Studiengebühren.

Bücher auf Portugiesisch, ein Fünf-Real-Schein, das Trikot seiner Lieblingsfußballmannschaft. Wenn man sich umschaut, ist die Wohnung von João Pedro voller kleiner Fragmente Brasiliens. Für ihn ist es wichtig, diese Erinnerungen in der Nähe zu haben. Auch nach zwei Jahren in Deutschland sagt João Pedro, dass Kulturschock, Bürokratie, Studium und Einsamkeit Schwierigkeiten sind, die man als ausländischer Student in Deutschland täglich überwinden muss. „Sich an die Kultur anzupassen, ist schwer. Ich glaube nicht, dass man sich jemals vollständig anpasst. Momentan bin ich genug angepasst, um hier zu leben“, sagt er. Er lässt sich auf dem Sofa nieder, schaut auf den Boden und seufzt. Eine traurige Erinnerung kommt ihm in den Sinn.

An seinen ersten Tagen in Marburg musste João Pedro mit dem Bus zu seinem Unterrichtsort fahren. Zum ersten Mal stand er vor der Frage: Welchen Knopf muss er drücken, um die Türen zu öffnen? Sein Blick wanderte von einem Knopf zum nächsten. Er hatte noch eine Haltestelle vor sich. Der Bus bog um die Ecke und er konnte die Haltestelle schon sehen. In ein paar Metern würden sie dort sein. Der Bus hielt an. Mit einer raschen Bewegung drückte er einen Knopf. Die Türen öffneten sich nicht. Stattdessen erschien der Fahrer durch die Hintertür.

„Ich müsse lernen, wie man hier lebt“

„Der Fahrer schrie mich an. Er hat mir auf die Hand geschlagen, als ich ihm den Knopf zeigte, den ich gedrückt habe, und sagte, dass es falsch war. Er sagte, ich müsse lernen, wie man hier lebt.“ Trotzdem zieht es João Pedro vor, eine positive Einstellung zu bewahren. Er wendet seinen Blick wieder dem Fenster vor dem Sofa zu und sagt, dass er aus seiner Erfahrung heraus sagen kann, dass die problematischen Menschen meist zur älteren Generation gehören.

Auf einem Tisch in der Eingangshalle von João Pedros Wohnung liegt ein kleiner Stapel Briefe, die er jede Woche mit der Post erhält. „In einem entwickelten Land wie Deutschland dachte ich, dass man manche Dinge mit Technologie und über das Internet lösen könnte“, erklärt er. „Trotzdem bin ich in einem Land, wo Faxgeräte noch Teil der Realität sind.“ Die deutsche Bürokratie war für João Pedro von Anfang an eine Herausforderung.

In Marburg wartete er sieben Monate lang auf eine Antwort von der Ausländerbehörde. Von Tag zu Tag wuchs seine Unruhe. Er plante bereits seinen Umzug nach Passau, und es gab keine Antworten auf seinen Visumsantrag. Er beschloss, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. João Pedro fragte eine Freundin, ob sie eine E-Mail schreiben könnte, um herauszufinden, was mit seiner Aufenthaltserlaubnis geschah. Sie nahm Kontakt mit der Ausländerbehörde auf. Die Ausländerbehörde beantwortete ihre E-Mail innerhalb eines Tages. Ein paar Tage später bekam er seinen Termin. „Zufall oder nicht – ihr Name ist im Gegensatz zu meinem jedenfalls leicht als europäisch zu erkennen“, erzählt er.

In Passau verlaufe das Verfahren im Vergleich zu Marburg schneller. Trotzdem sei es immer noch kompliziert: „Das letzte Mal, als ich meinen Aufenthaltstitel in Passau abholen musste, hat mir der Beamte gesagt, dass ein Dokument fehlt, von dem ich noch nie gehört habe. Ich musste nach Hause rennen und meine Unterlagen durchsuchen. Zum Glück habe ich es gefunden und bin rechtzeitig zurückgekommen. Es war zum Verzweifeln.“

Auf einem Tisch im Wohnzimmer fällt etwas ins Auge. Ein Buch auf Deutsch. Man erkennt, dass es mindestens 400 Seiten dick ist. Um ein solches Buch lesen zu können, benötigt man eine gewisse Sprachbeherrschung, die João Pedro seit seiner Schulzeit hat. Auch wenn er über fortgeschrittene Sprachkenntnisse verfügt, ist die deutsche Sprache für João Pedro immer noch ein Hindernis an der Universität. An seinem ersten Vorlesungstag in Passau fühlte er nur Angst und Unruhe. Er betrat den Hörsaal, setzte sich und packte seine Unterrichtsmaterialien zusammen. Der Professor stellte sich vor und begann zu sprechen. Wort für Wort klangen die Sätze des Professors wie eine Sprache, die João Pedro an Deutsch erinnerte. Er konnte aber nichts verstehen. „Ich hatte das Gefühl, dass ich mein Studium nicht abschließen werde. Das fühle ich bis heute.“ Der Prozentsatz ausländischer Studenten, die ihr Studium abbrechen, spiegelt diese Angst wider. 40 Prozent der internationalen Studenten in grundständigen Studiengängen brechen ihr Studium ab, während es bei den deutschen Studenten circa 30 Prozent sind.

Er träumt von einem friedlichen Leben in Deutschland

Neben den akademischen Schwierigkeiten gibt es auch emotionale. Freunde zu finden, Einsamkeit und Heimweh zu bekämpfen sind schwierige Aufgaben. Nach zwei Jahren in Deutschland sagt João Pedro, dass er diese Fähigkeit bisher nicht beherrscht. Mit der Zeit ist es aber möglich, sich besser zu fühlen und die Einsamkeit zu akzeptieren. Im Wohnzimmer seiner Wohnung sieht man, dass er sich darum bemüht. Er hält sich an seine Hobbys. Ein Fernseher, um Fußballspiele und Serien zu schauen, Bücher, Videospiele, ein Klavier und eine Gitarre. Sie sind für ihn unerlässlich, um einen schlechten Tag in der Einsamkeit zu überbrücken. „Sich an die Einsamkeit zu gewöhnen, ist für mich hier immer noch die größte Herausforderung“, erklärt er, während er sich vom Sofa erhebt und sich vor das Klavier setzt. „Die Anpassung an das Leben allein und in einer anderen Kultur zur gleichen Zeit kann eine Menge sein.“

Das Geräusch der vorbeifahrenden Züge hallt durch die Wohnung. Er schaltet den Bildschirm seines Handys ein und es erscheinen mehrere Nachrichten von Freunden und Verwandten. Nicht selten hat er das Gefühl, dass die Anforderungen der Universität, die Einsamkeit, der Kulturschock und die Bürokratie riesige Monster sind, die ihn bei lebendigem Leib verschlingen können. Wenn das passiert, ist sein größter Wunsch, sein Studium in Deutschland aufzugeben und nach
Hause zurückzukehren. Indem er mit seinen Freunden und seiner Familie in Brasilien spricht und sich auf seine Hobbys konzentriert, bleibt er stark. „Ich versuche mein Bestes, um nicht das Gefühl zu haben, dass ich allein bin. Wenn du dieses Gefühl jeden Tag hast, wirst du zerbrechen.“

So kompliziert das Leben als Student in Deutschland auch ist, João Pedro hat nicht vor, nach Abschluss seines Studiums nach Brasilien zurückzukehren. Deutschland wird langsam zu seinem Land. In Rio heißen die Wärme und die offenen Arme von Christus, dem Erlöser, João Pedro weiterhin jedes Jahr willkommen. Der Traum von einer erfolgreichen Karriere und einem friedlichen Leben in Deutschland ist für ihn aber lebenswerter.