Die Berlinerin Erika Krüger ist 17 Jahre alt, als im September 1939 der zweite Weltkrieg beginnt. Heute, 85 Jahre später, spricht sie über ihre Erlebnisse. Über den Warnschuss einer Zeitzeugin.
Von Lea Griesbeck
Berlin, November 1943. Erika Krüger sitzt am Boden eines ihr fremden Kellers. Es ist dunkel. Ihr dünner Körper zittert. Sie trägt nur ihre Schwesternuniform. Vor ein paar Minuten schlenderte die 22-Jährige am Bahnhof Zoo entlang, wollte nach Feierabend Geschäfte erledigen. Ein wenig Normalität spüren. Doch Sirenen heulten auf, dröhnten durch die Berliner Straßen. Fliegeralarm. Erika begann zu rennen.
Wo ist ein Bunker? Vor ihren Augen stand plötzlich ein verwundeter Soldat auf Holzkrücken. Er flehte die junge Frau an, ihn nicht zurückzulassen. Sie suchten gemeinsam weiter, nach einer Chance zu überleben. Fremde boten ihnen einen Platz in ihrem Keller an. Dort verharren sie nun. Ohne Essen, ohne Trinken, ohne Toilette. Sechs Stunden vergehen. 360 Minuten, bis die Nachricht eintrifft: Es ist vorbei.
Erika schlägt den Nachhauseweg nach Berlin-Adlershof ein. Sie traut ihren Augen kaum: Zwischen zerstörten Häusern und Nazi-Flaggen bahnt sich ein Elefant seinen Weg. Der Berliner Zoo ist getroffen. Die Tiere sind auf freiem Fuß.
In dieser Nacht sterben hunderte Tiere. Soldaten. Zivilisten. Erika überlebt. Sie überlebt jeden der Tage, an denen zweiter Weltkrieg herrscht.
Die 102-Jährige turnt jeden Tag
Bad Kötzting, Dezember 2023. „Huhu, hier bin ich“, ruft Erika von Weitem. Sie wartet auf ihrem Rollator gestützt, winkend vor der Eingangstür zu ihrem Eigenheim. Zimmer 212. Seit fast 16 Jahren ist das betreute Wohnen des mittelbayerischen Rehabilitationszentrum Bad Kötzting, einer kleinen Stadt in der Oberpfalz, das Zuhause der Berlinerin. Dort, in der Cafeteria, hat die Seniorin am 14. November ihren 102. Geburtstag gefeiert. „Mensch, ich würd gern wissen, wie ich es geschafft habe, so alt zu werden“, sagt sie und nimmt Platz auf einem Stuhl in ihrem Schlafzimmer, direkt vor der Balkontür. Die Sonne scheint in ihr Gesicht, ihre großen, blauen Augen glänzen. Ein Lächeln ziert ihr schmales, aber farbiges Gesicht. Die Seniorin sprüht vor Energie. Nicht nur heute. Jeden Tag turnt sie, isst zwei Kugeln Eis, genießt die Aussicht auf die gelben Blumen auf ihrem Balkon, die an ihrem Geburtstag aufgeblüht sind. „Mein Leben ist wunderschön.“
„Wir sind wieder so weit. Nein, es ist noch schlimmer“
Erika zählt mit ihren 102 Jahren zu einer der wenigen noch lebenden Augenzeuginnen des Krieges. „Früher hat man den Krieg vergessen. Man wollte ihn vergessen“, erinnert sie sich. „Heute darf man ihn nicht vergessen. Es muss darüber gesprochen werden. Denn wir sind wieder so weit. Nein, es ist noch schlimmer.“ Erika meint den Krieg in der Ukraine. Bald 700 Tage sind seit der russischen Invasion durch Machthaber Wladimir Putin vergangen. Tausende mussten ihr Leben lassen, müssen es in diesen Minuten lassen. Die Ukraine liegt in Trümmern. Dennoch ist die Aufmerksamkeit auf den Krieg hier zu Lande geschrumpft. Erika sieht sich die Bilder aus dem Kriegsgebiet nicht an. Nicht aus Desinteresse, sondern weil sie nicht kann. Zu sehr erinnern sie die Gefechte an den zweiten Weltkrieg. „Wieder ein Krieg in Europa. Nur ein paar hunderte Kilometer entfernt von uns.“ Sie schüttelt ihren Kopf. „Wieder heißt es Mann gegen Mann. Wieder müssen so viele junge Männer an der Front stehen.“
„Sei ganz vorsichtig. Dieser Brief ist wichtig“
Wie damals ihr Günther. Ein Bild im Wohnzimmer zeigt ihn als jungen Mann in Uniform. 1940 lernt Erika Günther bei einem Treffen bei Verwandten kennen. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Doch kurze Zeit später muss Günther in den Krieg. Es heißt Abschied nehmen. „Das Letzte, das er mich gefragt hat, war: Schreibst du mir Briefe?“ Diesen Wunsch erfüllt ihm Erika. Die beiden schreiben hunderte Zeilen hin und her. Ohne zu wissen, ob sie sich je wieder sehen. Im Mai 1942 kämpft Günther gerade an der russischen Front, als ein Brief bei Erika eintrifft. Günther schreibt: „Sei ganz vorsichtig. Dieser Brief ist wichtig.“ Erika blickt ins Kuvert. Ein Antrag auf Fernheirat liegt darin. Erika tritt schließlich am 29. Mai 1942 vor den Altar. Sie heiratet ihren Mann aus der Ferne, während er kämpft. Nach der Hochzeit bekommt Günther Urlaub, das Paar verbringt endlich gemeinsam Zeit. 1944 ist Günther endgültig vom Kriegsdienst befreit. Zuhause wartet auf ihn sein sechs Monate alter Sohn. Zum ersten Mal sehen sich die beiden. „Ich war immer alleine. In der Schwangerschaft, dann die sechs Monate bis Günther nach Hause kam. Es war hart.“ Jetzt ist er endlich zurück, doch Günther ist schwer verwundet. Eine Panzerfaust hat sein Gesicht getroffenen. Seine Haut ist verbrannt und offen. Es sieht nicht gut aus. Erika pflegt ihn. Wochenlang. Er überlebt.
Das Paar wandert Jahre später nach Amerika aus, lässt den Krieg hinter sich. Die Zeit des Überlebens ist vorbei, ein Leben fängt wieder an. 55 Jahre sind die beiden verheiratet, bis Günther schließlich mit 75 Jahren an einer Nierenerkrankung stirbt. „Ich hatte das Glück, dass mein Mann zurück gekommen ist, dass wir uns vom Krieg erholt haben“, meint Erika. Doch so viele andere hatten es nicht. Haben es nicht. Werden es nicht haben. „Ich frage mich, wieso noch niemand Putin um die Ecke gebracht hat. Wegen einer Person, das alles. Die Politik ist das dreckigste Geschäft der Welt.“ Sie seufzt. „Der Ukraine-Krieg betrifft uns alle.“ Er könne nicht toleriert werden, er müsse gestoppt werden. „Ein Krieg, darf nicht mehr sein.“
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