Im folgenden Text geht es um sexualisierte Gewalt und Traumaerfahrungen. Wenn du dich mit Inhalten zu diesem Thema unwohl fühlst, überlege dir bitte, ob du den Beitrag lesen möchtest.

Eine Kämpferin auf der Matte und im Leben

Laurien Zurhake ist Kampfsporttrainerin in München und schafft mit ihrem trauma-informierten Konzept einen sicheren Ort für die Teilnehmenden. Sie selbst ist Überlebende von sexualisierter Gewalt.

Jule Herrmann & Anna Koschnick

Laurien Zurhake (34) | Quelle: Koschnick/Herrmann

Boxhandschuhe werden angezogen, im Hintergrund laufen auf einer großen Musikbox Songs von Eminem. Mittendrin eine schlafende Hündin. Die Atmosphäre ist entspannt und zugleich fokussiert. An diesem Donnerstagabend trainieren die Frauen in der Münchener Kampfsportschule Team Laurien und Alex sich selbst zu verteidigen. Gelassen und selbstbewusst tritt ihr Coach in die Mitte: Laurien Zurhake.

Laurien kommt ursprünglich aus den Niederlanden und lebt nun seit zehn Jahren gemeinsam mit ihrem Mann Alex und der Hündin Yuki in München. Die 34-Jährige eröffnete 2018 zusammen mit ihrem Mann ihre eigene Kampfsportschule, das Team Laurien und Alex. Die Kampfsportschule ist für Laurien wie ein zweites Zuhause und ihr ganzer Stolz. Dort befindet sich Lauriens Lebensgeschichte: All ihre Erfahrungen wandelt sie hier in etwas Positives und kreiert einen sicheren Ort für andere und für sich selbst. Einen solch sicheren Ort zu haben, ist für sie keine Selbstverständlichkeit. Laurien ist eine Überlebende von sexualisierter Gewalt.

Ein schwieriger Start

Bereits als Kind ist Laurien sehr sportbegeistert und immer auf der Suche nach einer neuen Herausforderung. Sie erzählt, wie sie schon als kleines Mädchen „Warrior“, also heldenhafte Krieger, bewundert. Dass sie für sich einstehen muss, lernt sie früh: In der Grundschule wird sie von ihren Mitschüler:innen gemobbt, weil sie nicht dem stereotypen Bild eines Mädchens entspricht. Rückblickend schildert Laurien, dass diese frühe Erfahrung Einfluss auf ihre Persönlichkeit und ihren Gerechtigkeitssinn hatte.

Als Laurien etwa zehn Jahre alt ist, fängt sie an, professionell Volleyball zu spielen. Da sie zu diesem Zeitpunkt eine der besten Spielerinnen des Teams ist, engagiert ihr Verein einen Trainer von außerhalb. Dieser Trainer übt sexualisierte Gewalt aus. Es war ein „klassischer Fall von Grooming“, erinnert sich Laurien. Das bezeichnet den schrittweise erfolgenden Vertrauensaufbau, das Bevorzugen und Isolieren des Kindes und in der Folge grenzüberschreitendes Verhalten. Um sich und andere zu schützen, geht Laurien an dieser Stelle nicht auf Details ein. Lauriens Hündin Yuki liegt neben ihr und kuschelt sich an ihr Bein. Dass Yuki bei ihr ist, gibt Laurien Kraft. Sie berichtet weiter, dass es zu einem Wendepunkt kommt, als sie von einem anderen Mädchen in der Umkleide hört, dass der Trainer ihr besonders viel Aufmerksamkeit gebe. Ab diesem Zeitpunkt weiß Laurien: Sie müsse den Trainer anzeigen. „Es war nicht so sehr für mich selbst, sondern viel mehr damit ich andere Frauen und Mädchen vor ihm schützen kann“, erklärt sie. Laurien wendet sich in der Folge an ihre Mutter und erstattet Anzeige gegen den Trainer.

Grooming

Grooming:

Grooming bedeutet, eine sexuelle Grenzüberschreitung geplant vorzubereiten. Das geplante Vorgehen umfasst meist folgende Aspekte: Vertrauensaufbau (auch des Umfelds der betroffenen Person), Bevorzugen, Isolieren, zum Schweigen und Geheimhalten bringen und gefügig machen.

Sexualisierte Gewalt

Sexualisierte Gewalt

„Sexualisierte Gewalt bezeichnet jeden Übergriff auf die sexuelle Selbstbestimmung. Die Täter – weit überwiegend sind es Männer, auch wenn sexualisierte Gewalt ebenfalls von Frauen ausgehen kann – zwingen den Betroffenen ihren Willen auf. Es geht also nicht um Lust oder Erotik, sondern um Machtverhalten. Sexualisierte Gewalt wertet Menschen durch sexuelle Handlungen oder Kommunikation gezielt ab, demütigt und erniedrigt sie.“ (Bundesministerium für Familie, Frauen und Senioren)

Sexualisierte Gewalt in Deutschland:

In Deutschland wird jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Betroffene von sexualisierter Gewalt. Für das Jahr 2023 stellte das Bundeskriminalamt 16.375 registrierte Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern fest. Drei Viertel der betroffenen Kinder waren Mädchen.

„Ich fühlte mich immer im Fight-or-Flight-Modus“

Während dieser Zeit entwickelt Laurien eine posttraumatische Belastungsstörung. „Ich war nicht mehr spontan und ich fühlte mich immer im Fight-or-Flight-Modus“, schildert sie. Besonders schwierig sind für sie Begegnungen mit Männern um die 30 Jahre. Ihr Leben will sie sich davon aber nicht bestimmen lassen: „Wenn ich merke, ich habe eine Schwäche, dann will ich mich stärken. Man wird immer Männern begegnen, das kann ich nicht ändern und wollte ich auch nicht ändern.“

Posttraumatische Belastungsstörung

Posttraumatische Belastungsstörung:

Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist eine psychische Erkrankung, die durch traumatische Erlebnisse, wie zum Beispiel Gewalterfahrung, ausgelöst werden kann. Typisch für die Symptomatik ist, dass Erinnerungen an das Erlebte immer wiederkommen und Betroffene stark belasten. Diese wiederkehrenden Erinnerungen werden als Flashbacks bezeichnet. Betroffene können Flashbacks nicht verdrängen und fühlen sich so, als würden sie die traumatische Situation noch einmal erleben. Neben Gefühlen der Angst, Schuld und Scham können auch körperliche Beschwerden wie Schmerzen empfunden werden. Viele Betroffene sind dadurch einem andauernd erhöhten Stresslevel ausgesetzt und befinden sich im Fight-or-Flight-Modus (Kampf-oder-Flucht-Modus). Der Körper bereitet sich also auf eine Gefahrensituation vor, um entweder zu kämpfen oder zu flüchten. Diese Reaktion kann bei Betroffenen von PTBS oft fehlgeleitet auftreten.

Die Suche nach Konfrontation

In den folgenden Jahren durchläuft Laurien viele Therapien und arbeitet hart an ihrem Trauma. Zugleich merkt sie, dass sie die Konfrontation brauche, um heilen zu können. So geht sie mit 15 Jahren das erste Mal in ein Kampfsporttraining: Da viel mehr Männer als Frauen Kampfsport betreiben, sieht sie in der neuen Sportart die Chance, sich ihren Ängsten stellen zu können. Sie beginnt mit Striking, also Kampfsport mit Fokus auf die Präzision in der Ausübung von Tritten und Schlägen. Dieses Training verfolgt sie bis zum Beginn ihres Studiums. In dieser Zeit wechselt Laurien vom Striking zum Sparring, also der realitätsnahen Anwendung von Kampfsport in Partnerübungen. Sie weiß, dass sie diesen Schritt gehen muss, um ihr Trauma gänzlich verarbeiten zu können. „Mir wurde ganz früh klar, dass das noch nicht ausreichend ist, dass ich mich immer noch nicht sicherer fühlte, weil ich nicht wusste, wie ich es anwenden kann“, erklärt Laurien. Dass sie so sehr die Konfrontation sucht und sich nicht mit weniger zufrieden gibt, ist Teil ihrer Persönlichkeit:

Das bin ich – ich bin der Kämpfertyp, ich bin eine, die Konfrontation sucht.

Dennoch ist ihr wichtig zu betonen, dass jeder Mensch anders mit Trauma umgeht und Konfrontation nicht für jeden die perfekte Strategie ist: „Es gibt kein Gut oder Schlecht“.

Laurien Zurhake (34) | Quelle: Koschnick/Herrmann

Vor Laurien stehen nun viele Veränderungen: Sie beginnt ihr Geschichtsstudium und fängt gleichzeitig mit der Kampfsportart Brazilian Jiu-Jitsu an. Beim Brazilian Jiu-Jitsu handelt es sich um Bodenkampf und die Anwendung von Hebel- und Würgetechniken. Es ist ein Vollkontaktsport, der die Fähigkeiten zur Selbstverteidigung schulen kann. Auch im Brazilian Jiu-Jitsu finden Kämpfe in einer sicheren und demnach nicht unbedingt realitätsgetreuen Situation statt. Aber die Realität könne hierbei so gut wie möglich nachgestellt werden, erklärt Laurien. Zudem könne das Gehirn nicht besonders gut unterscheiden, welche Szenarien echt seien und welche nur realitätsnah nachgestellt, so Laurien. Ein sensibles und empathisches Trainingsumfeld im Brazilian Jiu-Jitsu kann also positive Wirkungen auf das Trauma haben. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, können gegenteilige Effekte einsetzen. Entweder Fluch oder Segen.

Retraumatisierung im Training

Für Laurien entwickelt sich ihre erste Erfahrung im Brazilian Jiu-Jitsu zum Fluch. Ihr Coach schafft kein sicheres Trainingsumfeld und kann nicht mit ihrer posttraumatischen Belastungsstörung umgehen. Laurien beschreibt das Training als sehr hart: Der Coach berücksichtigt Lauriens Gewichtsklasse nicht und lässt sie mit Männern kämpfen, die ihr körperlich deutlich überlegen sind. Auf ihre Bedürfnisse und Grenzen nimmt niemand Rücksicht: „Die wollten nicht gegen ein Mädel verlieren.“ Nach den Trainings hat sie blaue Flecken und Schmerzen. Sie leidet immer wieder an Flashbacks und kommt unter Tränen nach Hause. Als sie ihren Coach auf die Probleme anspricht, entgegnet dieser, Laurien müsse „einfach nein sagen“, wenn ihr etwas zu viel werde. „Was ich damals nicht verstanden habe, aber jetzt schon: Das kann ich nicht. Wenn du einen Flashback hast, kannst du nicht ja oder nein sagen“, erklärt Laurien. Jetzt ist ihr bewusst, dass sie während der Trainings dissoziierte, sich also zum eigenen Schutz von der Realität abspaltete. Laurien kämpft unterbewusst gegen jemanden aus ihrer Vergangenheit, was es ihr schwer macht, in der Situation ihre Grenzen zu kommunizieren.

„Es kann auch einfach Spaß machen“

Ihr Studium schreitet voran und sie bekommt die Möglichkeit, für einen akademischen Aufenthalt an der Universität von Oxford zu studieren. So pausiert sie mit 22 Jahren ihren Trainingsvertrag in den Niederlanden und setzt ihr Kampfsporttraining in England unter neuen Bedingungen fort. Nach all den negativen Erlebnissen in ihrem vergangenen Training kann Laurien in Oxford zum ersten Mal positive Erfahrungen im Kampfsport sammeln. In ihrem neuen Trainingsumfeld werden Lauriens Bedürfnisse berücksichtigt und sie entwickelt Freude am Sport: „Da habe ich festgestellt: Hey, es muss nicht retraumatisierend sein, es kann auch einfach Spaß machen“, erzählt sie lächelnd. Mit diesen neuen positiven Erfahrungen kann Laurien ihrem Trauma etwas entgegensetzen. Sie erklärt, dass die alten Erinnerungen dadurch zwar nicht verschwinden, sie aber ausbalanciert werden können. Stolz berichtet sie von ihren Fortschritten in dieser Zeit:

Ich konnte mit Kampfsport Teile von meinem Trauma erreichen, die ich mit Sprachtherapie nicht erreichen konnte. Nicht eine Therapieform ist besser als die andere, man braucht beides. Für mich kamen durch Kampfsport aber auch Dinge raus, die ich nie durch Sprachtherapie hätte rausfinden können.

In Lauriens Augen lässt sich erkennen, dass sie ab diesem Zeitpunkt den Kampfsport lieben lernt und diese Liebe bis heute nicht verloren hat.

Trauma-informierter Sport

In Oxford lernt Laurien Danielle Begg kennen, die trauma-informiertes Yoga unterrichtet. Das Besondere an einem trauma-informierten Ansatz ist, dass spezifisch auf die Bedürfnisse von psychisch vorbelasteten Teilnehmenden eingegangen werden soll. Der Coach hat dabei den Anspruch, einen sicheren Ort zu schaffen und den Teilnehmenden zu helfen, die Verbindung zwischen Körper und Geist wiederherzustellen. Die Begegnung mit Danielle Begg und ihrem Konzept des trauma-informierten Yogas ist für Laurien ein weiterer Wendepunkt. Von da an weiß sie: Sie möchte diese Idee in den Kampfsport übertragen und damit nicht nur sich selbst, sondern auch anderen Menschen helfen.

„You do what’s right, not what’s easy“

Neben all diesen positiven Erfahrungen wächst auch ihr akademischer Erfolg: Laurien zieht nach Deutschland, um an der Ludwig-Maximilians-Universität in München ihre Doktorarbeit zu schreiben. Bis sie ihren Wunsch eines trauma-informierten Kampfsportkonzeptes in die Praxis umsetzen kann, muss Laurien eine weitere Herausforderung überwinden. Als sie in München Brazilian Jiu-Jitsu trainiert, wird sie erneut mit einem übergriffigen Trainer konfrontiert. Der Trainer sexualisiert die Teilnehmerinnen und sucht gezielt ihre körperliche Nähe. Laurien entgegnet ihm klar, dass er ihre Grenzen überschreite und sein Verhalten nicht in Ordnung sei. Der Trainer reagiert darauf mit Einschüchterungsversuchen. Trotz Widerständen gibt sie nicht auf, Kritik auszuüben und weiterzukämpfen: „You do what’s right, not what’s easy“, fasst sie zusammen.

Gegen die Problemstrukturen im Kampfsport

Laurien kritisiert die Strukturen im Kampfsport stark:

Nur weil man einen Schwarzgurt im Brazilian Jiu-Jitsu hat, heißt das noch lange nicht, dass man auch ein guter Trainer ist.

Laut Laurien ergehe es vielen Menschen mit Vorbelastung ähnlich. Die Menschen gingen ins Training, um sich sicherer zu fühlen und der Coach verschlimmere deren Situation durch Übergriffe oder fehlende Empathie. Genau das möchte Laurien ändern. Zusammen mit ihrem Mann Alex, den sie während des Trainings in München kennenlernt, erfüllt sie sich diesen Traum. Gemeinsam erarbeiten sie ein trauma-informiertes Konzept basierend auf Studien der Psychologie und Neurobiologie. Ihr Ziel ist es, dass sich jeder wohlfühlen könne und niemand negative Erfahrungen wie Laurien machen müsse. Im Jahr 2018 ist es dann endlich so weit: Die beiden eröffnen ihre eigene Kampfsportschule in München, das Team Laurien und Alex. Mittlerweile unterrichten Laurien und Alex knapp 200 Mitglieder und bieten verschiedene Kursformate an.

Immer mit dabei ist ihre Hündin Yuki: „Sie ist Bestandteil der Kampfsportschule“, quasi ein dritter Coach. Laurien beschreibt, wie Yuki durch ihre sensible Art sofort anzeige, wenn es einem Mitglied nicht gut gehe. Die Hündin unterstützt Laurien und Alex in ihrer Arbeit. Neben der Kampfsportschule gründen die beiden die Online-Plattform Off the Zone, um ihr Wissen über trauma-informierten Kampfsport an andere Coaches und Kampfsportler:innen weiterzugeben.

Weiterkämpfen

Ob Laurien stolz auf sich und ihren Weg ist, beantwortet sie mit Bescheidenheit: „ich glaube schon.“ Laurien denkt nicht viel über sich selbst nach, sie möchte Probleme lieber aktiv lösen. Der Kampfsport spielt dabei eine zentrale Rolle: „Kampfsport ist für mich problem-solving. Das ist, was ich mein Leben lang gemacht habe: Probleme lösen.“ Jetzt gibt Laurien ihre Lösungen weiter an andere, sei es in der Kampfsportschule oder auf ihrer Plattform Off the Zone. Das Trauma begleitet Laurien weiterhin: „Es geht rauf und runter.“ Aber sie habe kaum noch Flashbacks und wenn doch, wisse sie damit umzugehen. „Zwar ist ein Trauma eine Verletzung, die man immer mitschleppt, aber das bedeutet nicht, dass sie dir dein Leben wegnimmt.“ Laurien erzählt von dem Song „The Boxer“ von Simon & Garfunkel. Darin geht es um die Kämpfe und Enttäuschungen eines jungen Mannes, die er mit den Herausforderungen eines Boxers vergleicht. In der letzten Strophe singt er:

“In the clearing stands a boxer

And a fighter by his trade

And he carries the reminders

Of every glove that laid him down

Or cut him till he cried out in his anger and his shame

´I am leaving, I am leaving´, but the fighter still remains”

“Im freien Feld steht ein Boxer 

Und ein Kämpfer von Beruf 

Und er trägt die Erinnerungen 

An jeden Schlag, der ihn zu Boden brachte 

Oder ihn so sehr verletzte, dass er vor Wut und Scham aufschrie 

´Ich gehe, ich gehe´, aber der Kämpfer bleibt dennoch.”

Der Mann im Song steht trotz aller Rückschläge und der Härte des Lebens wieder auf und kämpft weiter. Das bedeutet für Laurien Stolz. Man müsse nicht immer erfolgreich sein und alles ohne Probleme meistern, „es geht vielmehr darum, dass man weitermacht und niemals aufgibt.“

Aus datenschutzrechtlichen Gründen benötigt YouTube Ihre Einwilligung um geladen zu werden.
Akzeptieren

Anna Koschnick & Jule Herrmann

Uns haben die vielen starken Frauen begeistert, die wir während unseres Projekts kennenlernen durften. Vor allem, wie sie unermüdlich für ihren Stolz kämpfen!