Hinter den Schlagzeilen:
Die Gratwanderung der Verdachtsberichterstattung

Hat Hubert Aiwanger als Schüler ein rechtsextremistisches Flugblatt verfasst? Hat Jérôme Boateng seine Exfreundin geschlagen? Und hat der Rammstein-Frontmann Till Lindemann weibliche Fans sexuell missbraucht? In den letzten 12 Monaten waren Fragen wie diese immer wieder Thema in der Öffentlichkeit. Die Berichte beruhen nicht auf den Ergebnissen von abgeschlossenen Gerichtsverfahren. Sie sind das Resultat investigativer Recherchen von Journalist:innen.

Kristina Wegele Dippold & Julia Gasser

Foto: Pixabay

Am 9. Februar 2021 wird eine junge Frau tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Kasia Lenhardt, bekannt aus der TV-Show „Germany‘s next Topmodel“, stirbt mit 25 Jahren. Die Polizei spricht von Suizid. Ihr Tod löst ein Medienecho aus, denn Lenhardt trennte sich kurz zuvor von Fußballprofi Jérôme Boateng. 15 Monate waren die beiden ein Paar. Bereits während der Partnerschaft kursierten Berichte über toxische Beziehungsstrukturen, weil Boateng gewalttätig gegenüber Lenhardt geworden sein soll. Der Podcast des SPIEGELs “NDA: Die Akte Kasia Lenhardt”, veröffentlicht im März 2024, beleuchtet die Vorwürfe der möglichen Partnerschaftsgewalt. Zum Zeitpunkt der Recherche und Aufnahme des Podcasts laufen mehrere Strafverfahren wegen Körperverletzung gegen Boateng. Ein rechtskräftiges Urteil gibt es noch nicht.

Foto: DER SPIEGEL

Die journalistische Methode solcher Geschichten ist die sogenannte Verdachtsberichterstattung.

Wir wollen mehr darüber erfahren, warum die Medien das Recht haben, über Vorwürfe zu berichten, die sich im Nachhinein auch als falsch herausstellen könnten.

Was rechtfertigt eine Verdachtsberichterstattung? Und worin liegt der Unterschied zu einer Vorverurteilung?

Journalist:innen spielen in unserer Gesellschaft eine sehr wichtige Rolle. Mit ihrer Berichterstattung tragen sie zur Informationsvermittlung für die Bürger:innen bei und klären über relevante und aktuelle Themen auf. Zudem hat der Journalismus aber auch die Aufgaben der Kontrolle und Kritik des Staates. Journalist:innen decken Missstände auf, um eine öffentliche Debatte über gesellschaftlich relevante Themen zu ermöglichen. Auf dieser Grundlage sollen sich Bürger:innen eine eigene Meinung bilden und am demokratischen Diskurs teilnehmen können. Besonders der investigative Journalismus beleuchtet die komplexen und heiklen Fälle. Themen wie Korruption, Machtmissbrauch oder Verbrechen stehen im Fokus.

In Berlin, mitten im belebten Neukölln, treffen wir Gabriela Keller. Keller ist Journalistin und arbeitet für Correctiv. Die Redaktion verpflichtet sich dazu, gemeinwohlorientiert zu arbeiten und sich für die Stärkung der Demokratie einzusetzen. Das gelingt ihnen durch hochwertigen investigativen Journalismus. Die Bauarbeiten in dem modernen sechsstöckigen Backsteingebäude, in dem wir uns verabredet haben, sind noch nicht ganz abgeschlossen. “Publix” lautet der Name der neuen Büroräumlichkeiten, in welche die Redaktion erst kurz zuvor umgezogen ist. Wir haben Glück, dass wir Keller erwischen, denn zwischen Umzug und aufwändigen Recherchen bleibt wenig Zeit. Eine Berichterstattung, an der sie mitgearbeitet hat, schlug Anfang des Jahres besonders hohe Wellen ─ die Recherche zu einem Treffen in Potsdam, bei dem hochrangige AfD-Politiker:innen mit Rechtsextremen die massenhafte Ausweisung von Personen geplant haben sollen. In den Wochen darauf versammelten sich in ganz Deutschland mehr als 1,5 Millionen Menschen auf den Straßen, um gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren.

Gabriela Keller | Foto: Kristina Wegele Dippold

Für unser Interview hat Gabriela Keller einen eigenen Raum reserviert. Sie wirkt gehetzt, denn sie muss eigentlich zurück an den Schreibtisch. Trotzdem nimmt sie sich eine Stunde Zeit, um die Grundlagen der Verdachtsberichterstattung zu erklären.

Die Journalistin betont die Relevanz ihrer Arbeit. Der Journalismus, als „vierte Gewalt“, muss für die Öffentlichkeit relevantes Fehlverhalten enthüllen – unabhängig von gerichtlichen Urteilen. „Wir können nicht nur Missstände aufdecken, zu denen uns ein Urteil vorliegt“, so Keller. „Die Judikative und der Journalismus sind zwei eigenständige Säulen der Demokratie mit unterschiedlichen Aufgaben. Journalist:innen arbeiten im Auftrag der Öffentlichkeit und leisten Aufklärungsarbeit. Sie überprüfen und hinterfragen den Staat und seine Institutionen und kontrollieren damit auch die Justiz. Unsere Arbeit kann Verfahren begleiten und ergänzen, aber auch zuvorkommen oder initiieren.“

Für die Investigativjournalistin machen Verdachtsberichterstattungen 90 Prozent ihrer Arbeit aus. „Es ist kein eigenes Genre, sondern vielmehr eine Technik, um über einen Vorwurf zu berichten, zu dem es noch keine gerichtliche Verurteilung gibt.“ Voraussetzung für solche Berichterstattungen sind ausreichende Anhaltspunkte und ein erhebliches öffentliches Interesse. In der Vorrecherche wird in Absprache mit der Chefredaktion abgewogen, ob das öffentliche Interesse groß genug ist. Ist dies der Fall, beginnt die eigentliche Recherche, andernfalls brechen die Journalist:innen das Projekt ab. Bei besonders heiklen Fällen zieht die Redaktion rechtlichen Beistand hinzu, erläutert Keller.

Jede Verdachtsberichterstattung ist juristisch riskant. Dieses Risiko ist jedoch nicht immer gleich hoch: „Bei Lobby-Berichterstattungen oder Vorwürfen gegen Politiker:innen gibt es meist viele offizielle Dokumente, anhand derer wir unseren Verdacht darlegen können“, berichtet Keller. Die klassische Recherche ist heikel und aufwändig. Gabriela Keller kennt das vor allem aus dem Bereich von dubiosen Immobiliengeschäften und Geldwäsche, womit sie sich früher viel beschäftigt hat. „Das ist ein relativ harter Bereich, weil diese Leute extrem klagefreudig sind. Das muss man wollen und sich leisten können.“

Ein Fall prägte Keller besonders ─ der, zu einer Berliner Immobilie, die über Jahre hinweg immer wieder verkauft worden war. Letztlich deckte die Recherche auf, wer mit hoher Wahrscheinlichkeit hinter dem Deal gesteckt haben könnte – der Fall hatte mit mutmaßlicher Geldwäsche und Sanktionsumgehung zu tun. Nennen darf man die Ergebnisse der Recherche aber nicht mehr. „Über sechs Monate haben wir zahlreiche Dokumente analysiert, um die Mosaikteile zu einem Bild zusammenfügen zu können.“ Der Käufer klagte und es kam zu einem Gerichtsverfahren. Für Keller war dieser Prozess besonders lehrreich. „Schlussendlich hatten wir tatsächlich so viele Hinweise, dass es zu unserem Nachteil gereicht hat. Den Richtern zufolge sei es unter diesen Umständen für den Leser unmöglich, zu dem Schluss zu kommen, dass dieser Verdacht vielleicht gar nicht stimmt.“

Die Bedeutung einer ausgewogenen Darstellung

Das Ziel einer gelungenen Verdachtsberichterstattung ist eine ergebnisoffene Darstellung der Gegebenheiten. Leser:innen müssen die Möglichkeit haben, sich selbst eine Meinung zu bilden und die Vorwürfe eigenständig einzuschätzen, betont Gabriela Keller. Eine einseitige Berichterstattung entspricht nicht dem journalistischen Selbstverständnis. Zusätzlich ist sie rechtlich unzulässig. Im Fall des Verdachts der mutmaßlichen Hintermänner des Immobiliendeals, mussten die veröffentlichten Beiträge am Ende gesperrt werden. „Das war für mich ein sehr lehrreiches, aber auch typisches und besonders bitteres Beispiel, weil eine so tolle Recherche beerdigt wurde“, erklärt Keller. Diese Erfahrung habe ihr die Bedeutung einer ausgewogenen Darstellung bewusst gemacht. „Bei der Verdachtsberichterstattung müssen wir durchgängig beide Seiten aufzeigen“, beschreibt die Journalistin. „Vielen Journalisten erscheint das nicht intuitiv. Sie möchten natürlich ihre Punkte hervorbringen und diese besonders deutlich beschreiben. Das ist sehr riskant.“

Insbesondere in der Verdachtsberichterstattung ist es essenziell, die verdächtigte Partei zu Wort kommen zu lassen. “Es gilt der Grundsatz, dass die besten Argumente der anderen Seite berücksichtigt werden müssen”, betont Keller. Häufig würde dieser Grundsatz jedoch von der Gegenseite als Taktik missbraucht, um die Journalist:innen von weiteren Recherchen abzuhalten. “Gerade große Immobilienfirmen überhäufen einen mit sehr langen Dokumenten in der Hoffnung, dass durch den hohen Arbeitsaufwand die Recherchen eingestellt werden”, berichtet Keller.

Gabriela Keller wirft einen Blick auf ihre zwei Telefone. Alle paar Minuten kommen neue Nachrichten an. Wir fragen uns, ob sie bereits den nächsten Verdachtsfall aufarbeitet.

Recherchieren, um zu belegen

Durch das Gespräch mit Gabriela Keller wird uns klar, wie kompliziert und riskant Verdachtsberichterstattung sein kann. Daher kommt die Frage auf, wie Journalist:innen bestmöglich vorgehen können, um Risiken zu minimieren.

Keller hat in ihren Jahren als Journalistin viel Erfahrung gesammelt und erklärt, worauf sie bei ihrer Arbeit achten muss. Der Job des Recherchierenden ist, so viele Belege für den Vorwurf zu finden, wie möglich. Es gibt jedoch keine vorgefertigten Richtlinien, welche oder wie viele Beweise es braucht, um einen Verdacht so weit zu bestätigen, dass sie ihn veröffentlichen darf. Diese Einschätzung beruhe auf den Erfahrungswerten der Redakteur:innen. Die Untersuchung einer Vermutung kann sehr mühsam sein. Da nicht klar ist, wann die Menge der Belege ausreicht, kann es schwierig sein, die Nachforschungen abzuschließen. Aber Journalist:innen sind der Sorgfalt verpflichtet.

Richtlinien der journalistischen Arbeit ─ Der Pressekodex

Journalist:innen unterliegen dem Pressekodex, in dem die Grundlagen für ethische und verantwortungsvolle Berichterstattung festgelegt sind. Dazu gehört die sogenannte Sorgfaltspflicht. Informationen müssen wahrheitsgetreu und im richtigen Kontext wiedergegeben werden. Bearbeitungen, Überschriften oder Bildbeschriftungen dürfen die Aussagen nicht in ein falsches Licht rücken. Unbestätigte Meldungen, Gerüchte und

Vermutungen müssen klar als solche gekennzeichnet werden, um Transparenz zu gewährleisten. Die Sorgfaltspflicht sichert den Schutz der Persönlichkeitsrechte der betroffenen Personen.

“Es ist wichtig, dass wir zwischen der journalistischen und der juristischen Verantwortung unterscheiden“, erklärt Keller. „Stellen Sie sich vor: 15 Frauen kommen zu mir und beschuldigen einen prominenten Mann der sexuellen Belästigung. In den Gesprächen mit diesen Frauen stufe ich jede Einzelne als glaubwürdig ein und kann ausschließen, dass sie sich untereinander abgesprochen haben. Für mich als Journalistin wäre dies eine starke Grundlage für eine Berichterstattung.“ Juristisch sieht diese Situation jedoch anders aus. Vor allem, wenn keine der 15 Frauen vor Gericht aussagen will. Häufig haben Opfer von sexuellen Übergriffen Angst vor den Konsequenzen eines Prozesses. „Auch wenn ich als Journalistin sorgfältig gearbeitet habe und den Quellen vertraue, wäre ich im ungünstigsten Fall vor Gericht die einzige Person, die versichern kann, dass die Gespräche stattgefunden haben“, so Keller. Ihre eigene eidesstattliche Erklärung wäre juristisch eine sehr schwache Grundlage und könnte das Ende der Berichterstattung bedeuten. Aus diesem Grund ist es wichtig, vielseitig zu recherchieren. Dokumente wie ärztliche Atteste, Transkripte aus Therapien oder Nachrichten der beschuldigten Person können die Glaubwürdigkeit der Vorwürfe erheblich stärken. „Je mehr ich habe, desto besser“, unterstreicht Keller.

Schlussendlich müssen die Richter:innen bei jedem Einzelfall entscheiden, was stärker wiegt:

Der Schutz der Persönlichkeitsrechte der beschuldigten Person oder eine Veröffentlichung zur Information der Öffentlichkeit über Missstände.

Das Abwägen der Relevanz der Berichterstattung ist nicht immer einfach und benötigt viel Erfahrung, meint Keller. Insbesondere schwerwiegende und vernichtende Vorwürfe, wie sexualisierte Gewalt oder Kindesmissbrauch, sind mit großer Vorsicht anzugehen. „Je härter der Vorwurf, desto mehr betonharte Belege brauche ich“, sagt Keller. Denn wenn sich Personen von den Recherchen in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt fühlen, haben sie die Möglichkeit, gerichtlich gegen Journalist:innen und ihre Arbeit vorzugehen.

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Der richtige Umgang mit Informant:innen

Um an Informationen zu gelangen, müssen Journalist:innen mit Beteiligten sprechen. Sie wollen Details von den Informant:innen erfahren, die aussagekräftig genug sind, um den Verdacht zu erhärten. Dafür ist ein gewisses Maß an Vertrauen unerlässlich. Trotzdem wahrt die journalistische Seite immer eine gewisse Distanz. „Ein Journalist ist kein Pressesprecher“, betont Gabriela Keller. Auch bei sensiblen Themen, wie Vorwürfen zu sexueller oder häuslicher Gewalt, müssen sie unvoreingenommen berichten. Gerade bei solchen Fällen verbringen Journalist:in und Informant:in viel Zeit miteinander. Vermeintliche Opfer müssen bereit sein, detailliert über ihre Erfahrungen zu berichten. Besonders die unangenehmen und belastenden Erfahrungsberichte sind nötig, um die Vorwürfe für eine Verdachtsberichterstattung zu rechtfertigen. “Die Zusammenarbeit ist meist sehr spannungsgeladen. Daher muss ein gewisses Vertrauen von beiden Seiten bestehen”, betont die Journalistin. Darüber hinaus braucht es viel Einfühlungsvermögen und Zeit, bis die Betroffenen bereit sind, über die eigenen Erfahrungen zu sprechen. Keller hebt hervor, dass Journalist:innen und Informant:innen von Beginn an klare Absprachen treffen müssen. „Ich muss der Informantin deutlich machen, dass ich ihr glaube. Sonst wäre ich nicht hier. Aber ich muss auch sagen, dass ich als Journalistin dazu verpflichtet bin, ihre Aussagen zu prüfen und auch die Gegenseite anzuhören.“ Gabriela Keller erklärt uns, wie wichtig es ist, dass die Informant:innen ihre Herangehensweise verstehen. Ein Fall hat ihr das besonders bewusst gemacht: „Damals hat sich die Person eine andere Darstellung ihrer Geschichte gewünscht, als es die vorliegenden Informationen zugelassen haben. Aus Angst einen Konflikt zu provozieren und meine Quelle zu verlieren, habe ich meinen Standpunkt zu diplomatisch vermittelt und keine klaren Grenzen kommuniziert“, berichtet Keller. Nach der Veröffentlichung sei die Informantin erschüttert gewesen. „Die Berichterstattung war ausgewogen und weder die Informantin noch das Opfer wurden schlecht dargestellt. Trotzdem hatte die Person andere Erwartungen gehabt und fühlte sich in ihrem Vertrauen missbraucht.“ Heute weiß Gabriela Keller, wie essenziell klare Absprachen sind.

Eine Kür des Journalismus

Uns ist mittlerweile bewusst, wie komplex die Arbeit hinter einer Verdachtsberichterstattung wirklich ist. Lässt sich somit schlussfolgern, dass diese Methode nur erfahrenen Journalist:innen vorbehalten ist? Wir sind im Rosengarten, einem Park im Süden Münchens. Hier treffen wir Thomas Schuler. Auch Schuler sieht in der Verdachtsberichterstattung ein journalistisches Privileg, welches jedoch mit einer großen Verantwortung einhergeht. Als freischaffender Journalist, führt er seit vielen Jahren regelmäßig Recherchen zu Vorwürfen im öffentlichen Interesse durch. Er hat er neben Correctiv auch für den SPIEGEL, die Berliner Zeitung und die Süddeutsche Zeitung geschrieben. Darüber hinaus ist Schuler Dozent für Recherche an der Katholischen Universität Eichstätt und gründete gemeinsam mit Kolleg:innen die Lehrredaktion ProRecherche. Sie vermitteln Recherchetechniken sowie rechtliche und ethische Aspekte des Journalismus.

Thomas Schuler | Foto: Julia Gasser

Im Jahr 2018 erreichten den Journalisten Hinweise auf Korruption in Ingolstadt. Hintergrund dieser Vorwürfe ist der sogenannte „Bürgerkonzern“ ─ ein Geflecht aus 56 kommunalen Tochterunternehmen, die für Aufgaben wie Sozialwohnungsbau, Müllabfuhr oder Energieversorgung zuständig sind. Die Stadt gründet diese Unternehmen, um Verwaltungsaufgaben auszulagern.

Die Gründung solch eigenständiger Gesellschaften, so genannter Bürgerkonzerne, ist in vielen deutschen Städten und Landkreisen eine gängige Methode. Geleitet werden diese Bürgergesellschaften von Aufsichtsräten. Diese sind in der Regel zur Verschwiegenheit über interne Vorgänge verpflichtet. Entscheidungen, die in den ausgelagerten Verwaltungsunternehmen getroffen werden, sind für die Bürger:innen wenig transparent. Demokratische Kontrollmechanismen fehlen und ideale Voraussetzungen für geheime Absprachen entstehen.

Der Bürgerkonzern IFG, im späteren Correctiv-Artikel als Ingolstadt GmbH benannt, rückte in den Fokus der Ermittelnden, nachdem sie Hinweise auf Korruptionsvorwürfe erhalten hatten. Im Mittelpunkt stehen drei Männer. Der ehemalige Oberbürgermeister Alfred Lehmann soll mit dem Geschäftsführer des Klinikums, Heribert Fastenmeier, Steuergelder veruntreut haben. Obwohl Lehmann aus seinem Amt als Oberbürgermeister ausgeschieden ist und Christian Lösel diesen Posten übernommen hat, soll Lehmann weiterhin für Verwaltungsaufgaben des Klinikums zuständig gewesen sein. Den Stadträten war diese Abmachung nicht bekannt. Wegen Verdacht auf Untreue, Vorteilsannahme und Bestechlichkeit wurde der Klinikchef Fastenmeier in Untersuchungshaft genommen. Nach acht Monaten beging er in seiner Zelle Suizid.

In seinem Rechercheseminar an der Uni Eichstätt lernte Schuler Vinzenz Neumaier kennen. Er studierte zu der Zeit Journalistik und stach mit guten Leistungen aus der Gruppe hervor. Schuler wollte Neumaier die Chance geben, sein Können unter Beweis zu stellen und setzte ihn auf diese Geschichte an. Schnell wurde klar, dass er die Recherche mit allen komplexen Zusammenhängen nicht allein bewältigen kann. „Die Verdachtsberichterstattung ist ein komplizierter Bereich. Wer das noch nie gemacht hat, läuft Gefahr, Fehler zu machen“, erklärt Schuler. Im Bereich der Verdachtsberichterstattung müssen die Recherchierenden strategisch vorgehen, um an ausschlaggebende und haltbare Informationen zu gelangen. Junge Journalist:innen können von erfahrenen Kolleg:innen profitieren. „Diese Arbeit lernt jemand, der neu ist, indem er in einem Team mitarbeitet. Ich habe schon mehrfach Leute bei Interviews dabeigehabt, die dann einfach mitbekommen, wie so etwas abläuft. Sie lernen, wie und vor allem wann solche Anfragen gestellt werden. Es sind eben bestimmte methodische Schritte“.

Strategie und Sorgfalt – die Kernessenz der Recherche

In Schulers und Neumaiers Fall begann ihre Recherche zu dem Zeitpunkt, als die Vorwürfe bereits seit zwei Jahre vage in der Öffentlichkeit standen. Andere Journalist:innen hatten vergeblich versucht, an Akten und Informationen über geheime Absprachen und Ermittlungen zu kommen. Schuler und Neumaier stiegen in die Recherche ein, indem sie öffentliche Sitzungen des Stadtrats besuchten. Die beiden beobachteten, welche Personen sich auf welche Art und Weise über den Bürgerkonzern und die öffentlichen Vorwürfe äußerten. So bekamen sie eine Ahnung davon, wer für ihre Recherche nützlich werden könnte.

„Ein Journalist, der es mit einem solchen Fall aufnimmt, muss strategisch vorgehen“, erklärt Schuler. Verdachtsberichterstattung ist mehr als ein bloßes Sammeln von Informationen. Es ist eine Kunst, die nach verschiedensten Fähigkeiten verlangt. „Es besteht die Gefahr, durch eine Herangehensweise Quellen zu verschließen. Man kann sich Recherchewege sehr schnell verbauen, wenn man nicht im Kopf hat, wie zielführend eine gewisse Reihenfolge aussehen kann“, betont er. Journalist:innen müssen genau planen, zu welchem Zeitpunkt sie Interviewanfragen stellen. Es bringe nichts, direkt bei der ersten Kontaktaufnahme mit einer Quelle nach vertraulichen Informationen zu fragen. Mögliche Informanten reagieren nur verschreckt und würden dann nicht mehr aussagen. Besser ist es, in einer E-Mail um ein Hintergrundgespräch zu bitten, das im Artikel nicht zitiert wird. „Wenn man diese Hintergrundgespräche öfter geführt hat, wird man früher oder später immer an den Punkt kommen, an dem die Gegenseite mehr erzählt.“ Auch das Timing während eines Interviews ist äußerst wichtig, erklärt Schuler: „Ich muss wissen, wann ich welche Informationen nutzen kann, um einen gewissen Druck aufzubauen.“

Während unseres Gesprächs wird klar, wie tief Schuler und Neumaier in die Geschichte eingestiegen sind. „Die Ermittlungsakten das das waren viele Hunderte Seiten! Und da ging es nicht darum, ein Papier zu haben. Wir wollten alles haben“, betont Schuler. Diese konnten einen groben Überblick geben, reichten jedoch nicht aus, um den Verdacht zu stützen. Der nächste notwendige Schritt musste weitaus tiefer gehen, erklärt Schuler: „Der Weg, um Belege anzuhäufen, läuft so: Befragungen, öffentlich zugängliche Dokumente und dann ─ sehr viel komplizierter und aufwändiger ─ Dokumente, von denen die Betroffenen niemals wollen, dass sie ans Licht kommen.“ Der Umgang mit dieser Informationsflut erfordert neben Geduld auch einen geschulten Blick. In ihrem Fall fanden sie Notizen in Fastenmeiers Tischkalender, welche die Zusammenarbeit mit dem Ex-Oberbürgermeister Lehmann belegten.

Nicht alle Hinweise, die Journalist:innen während der Recherche sammeln, werden veröffentlicht. Im Laufe der Untersuchungen stoßen sie häufig auf intime Details, die für die eigentliche Geschichte nicht relevant sind. Sensible Informationen, die nicht notwendig für die Berichterstattung sind, dürfen nicht veröffentlicht werden. Das widerspricht der journalistischen Moralvorstellung, meint Schuler. „Das wäre so, als würden die intimsten Gespräche aus ihrer Beziehung an die Öffentlichkeit kommen. 80 Prozent der Recherche werden nicht publiziert. Die braucht es für die Geschichte nicht. Wir müssen nur die Vorwürfe erhärten“, erklärt er uns.

Ein Jahr lang arbeiten Schuler und Neumaier an der Geschichte. Die Recherche war turbulent ─ drei Strafverfahren wurden gegen Unbekannt eingeleitet, um ihre Recherche zu verlangsamen und die Informant:innen zum Schweigen zu bringen. Im Juli 2019 veröffentlichten sie das Ergebnis der intensiven Recherche in Zusammenarbeit mit Correctiv unter dem Titel “Die Ingolstadt GmbH”. Schuler freut sich, dass er Vinzenz Neumaier an so einen komplexen und spannenden Fall heranführen konnte. „Es ist kein Sandkasten-Projekt. Aber Vinzenz zeigt, dass man nicht 30 Jahre im Geschäft sein muss. Diese Arbeit kann man leisten, wenn man bestimmte Techniken befolgt. Man muss wissen, wie es geht.“

Dieser Fall illustriert, wie mangelnde Transparenz und eine Machtkonzentration in wenigen Händen zur Manipulation und zum Missbrauch öffentlicher Ressourcen führen können. Kontrollinstanzen, wie der Stadtrat, hatten wenige bis keine Einblicke in die tatsächlichen Abläufe, was die Aufklärung und die demokratische Kontrolle erheblich erschwerte. Am 22. Oktober 2019 sprach das Landgericht Ingolstadt den ehemaligen Oberbürgermeister Alfred Lehmann in zwei Fällen der Vorteilsannahme und Bestechlichkeit schuldig und verhängte eine zweijährige Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Mit ihren Recherchen deckten Schuler und Neumair auf, was andere Medien nicht erfassten – die Absprachen zwischen dem amtierenden und dem ehemaligen Oberbürgermeister von Ingolstadt. Ohne ihre Berichterstattung wären die entscheidenden Korruptionsvorwürfe, die wegen des Suizids des beschuldigten Geschäftsführers des Klinikums nie vor Gericht kamen, nicht bekannt geworden.

Eine Verdachtsberichterstattung kann Einfluss auf die Öffentlichkeit nehmen. Warum dies notwendig ist, wird am Beispiel der Ingolstadt GmbH deutlich, erklärt Schuler. Recherchen wie diese seien von hoher Relevanz für die öffentliche Meinungsbildung. „Vorwürfe gegen politische Akteure müssen öffentlich gemacht werden, damit Wähler:innen eine informierte Entscheidung treffen können“, betont der Journalist.

Der Fall Hubert Aiwanger sorgte Ende August 2023 für erhebliches Aufsehen in der deutschen Öffentlichkeit. Die Süddeutsche Zeitung (SZ) berichtete, dass der bayerische Wirtschaftsminister in seiner Schulzeit ein antisemitisches Flugblatt verfasst oder zumindest verbreitet haben soll. Die dazu veröffentlichten Artikel lösten eine breite Diskussion über seine Vergangenheit und die politischen Implikationen aus. Der Verdacht basierte auf Aussagen und Dokumenten aus seiner Schulzeit, die Fragen zu seiner Eignung für ein hohes öffentliches Amt aufwarfen. Der SZ-Artikel war kurz vor den bayerischen Landtagswahlen veröffentlicht worden, weshalb Aiwanger und seine Anhänger die Berichterstattung als „Schmutzkampagne“ bezeichneten. Auch andere Journalist:innen diskutieren über die Verdachtsberichterstattung. ÜberMedien kritisierten den Beitrag der SZ scharf. Er erwecke den Eindruck, dass die Redaktion eine politische Agenda verfolgt, insbesondere kurz vor den Wahlen. Autor Stefan Niggemeier betont, dass der Artikel dazu führte, dass sich viele Gegner des etablierten Journalismus in ihrer Ablehnung stark bestätigt fühlten. Dies sei ein journalistischer Fehltritt, der vermeidbar gewesen wäre.

Verdachtsberichterstattung versus Rufmord

Für Journalist:innen, die über einen Verdacht berichten, gibt es viel zu beachten. Sie müssen äußerst gründlich arbeiten und immer mit dem Risiko einer gerichtlichen Auseinandersetzung rechnen. Sie tragen eine große Verantwortung gegenüber den verdächtigten Personen. Keller und Schuler scheinen sich dieser bewusst zu sein, ebenso wie der Macht der Medien. Aber es gibt auch immer wieder Kritik an Verdachtsberichterstattungen. „Insbesondere wenn über Gewalt gegen Frauen oder rechtsextreme Netzwerke berichtet wird, müssen wir mit Hasswellen im Internet rechnen“, erklärt Gabriela Keller. Stehen prominente Männer im Fokus, würden Journalist:innen besonders häufig des Rufmordes und der Vorverurteilung bezichtigt. Aus Kellers Sicht würde der Begriff des Rufmordes in vielen Fällen pauschal vorgeschoben, um zu vermitteln, dass das zweifelhafte oder gar rechtswidrige Verhalten einer prominenten Person gar nicht thematisiert werden darf. Keller wertet dies als Versuch der Beeinflussung der Berichterstattung, das häufig nicht nur von begeisterten Fans, sondern auch von teuer bezahlten Krisen-PR-Profis eingesetzt wird, um Journalist:innen zu diskreditieren. „Wir versuchen uns davon nicht einschüchtern zu lassen. Solche Hasswellen und Angriffe dürfen Journalisten nicht davon abhalten sich einem Thema anzunehmen“, betont die Journalistin. Auf der anderen Seite dürfen die Macht und die Reichweite der Massenmedien nicht unterschätzt werden. Fälle wie Kasia Lehnhardt, Fynn Kliemann oder Hubert Aiwanger machen dies deutlich. Für die Verdächtigten hatten die Berichterstattungen Auswirkungen auf ihre Karriere, aber auch auf ihr persönliches Leben. Fynn Kliemann sah sich dem Beitrag im ZDF Neo Magazin Royal einer massiven Hasswelle im Netz ausgesetzt. In einer Episode des Podcasts „Baby got Business“ im Mai 2023 spricht Kliemann mit Ann-Katrin Schmitz über die Folgen für sein Privatleben. Er sehe ein, dass er Fehler gemacht habe. Aber auch nachdem das Strafverfahren abgeschlossen war, erhielt er weiterhin viel Hass: „Ich hatte Angst, das Haus zu verlassen und in die Stadt zu gehen. Ich dachte, ich werde angespuckt, wenn ich rausgehe.“

Im Mai 2022 wurde der Verdacht auf Greenwashing des Influencers und Unternehmers Fynn Kliemann durch das „ZDF Magazin Royal“ öffentlich gemacht. Die Recherchen der Investigativ-Journalist:innen legten nahe, dass seine Geschäftspartner und er Masken als „fair“ und „in Europa produziert“ verkauften, obwohl sie teilweise aus Indien und Bangladesch stammten. Der Verdacht auf Täuschung und Betrug führte zu weiterer intensiver Berichterstattung und löste öffentliche Diskussionen um die Person Fynn Kliemann aus. Nach mehreren öffentlichen Statements, in denen er die mediale Darstellung seiner Person kritisierte, überrollte Kliemann ein massiver Shitstorm.  Im Juli 2022 trat er vorübergehend als Geschäftsführer des von ihm gegründeten Kreativprojekts “Kliemannsland” zurück und zog sich selbst aus der Öffentlichkeit. Die Staatsanwaltschaft ermittelte nach dem Medienecho gegen Kliemann. Das Strafverfahren wurde jedoch gegen eine Zahlung von 20.000 Euro eingestellt. Im April 2023 trat Kliemann wieder in die Öffentlichkeit.

Vermischt sich Verdachtsberichterstattung mit Sensationsjournalismus, kann dies für die Verdächtigten erhebliche Folgen haben. Raffaele Sollecito hat dies am eigenen Leib erfahren. Im Jahr 2007 wird er gemeinsam mit seiner damaligen Freundin Amanda Knox in Italien des Mordes verdächtigt. In seinem Buch „Honour Bound“ beschreibt er, wie er diese Zeit wahrgenommen hat. In einem Gespräch mit uns berichtet er davon, wie Berichterstattungen sein Leben nachhaltig verändert haben.

Wer über einen Verdacht berichtet, bewegt sich in einem ständigen Spannungsfeld. Sie ist ein notwendiges Instrument, um Missstände aufzudecken und die Öffentlichkeit über relevante Themen zu informieren. Gleichzeitig birgt sie das Risiko der Vorverurteilung und Rufschädigung der betroffenen Personen. Die Balance zwischen investigativer Neugier und ethischer Verantwortung ist dabei von essenzieller Bedeutung. Journalist:innen müssen sorgfältig recherchieren, beide Seiten beleuchten und den Pressekodex beachten, um die Integrität ihrer Arbeit zu wahren. Trotz aller Sorgfalt bleibt die Gratwanderung bestehen – zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Information und dem Schutz der Persönlichkeitsrechte. Verdachtsberichterstattung ist somit ein unverzichtbares, jedoch hochsensibles Werkzeug im Arsenal des investigativen Journalismus.

Julia Gasser & Kristina Wegele Dippold

Es war für uns als Journalistik-Studentinnen total spannend, so viel über Verdachtsberichterstattungen zu erfahren. Die Arbeit in den Medien ist sehr vielseitig, bringt jedoch auch eine Verantwortung mit sich.