Jeder Tropfen ein Tropfen zu viel
Alkohol in der Schwangerschaft – das folgenschwerste Bindeglied zwischen einer Mutter und ihrem Kind. Wie bleibt eine alkoholkranke Mutter trocken? Wie meistert eine Geschädigte eine eigene Schwangerschaft? Von zwei Frauen und ihrem Kampf gegen den Alkohol.
Von Jule Stollberg und Tim Trettwer
Da war die Freude, endlich schwanger zu sein. Mit einem Mann, den sie liebt. Endlich alles geregelt zu bekommen, was sie davor jahrelang nicht geschafft hatte: Schulden abbauen, die Wohnung renovieren, alles schön machen. Als Paula (Name geändert) mit ihrem Sohn schwanger wird, hat sie sich nach einer zehnjährigen Alkoholsucht endlich wieder in ihr Leben zurückgekämpft und freut sich nun auf die Zukunft mit ihrer jungen Familie. „Nach der Langzeittherapie habe ich mein Leben damals umgekrempelt. Dann bin ich schwanger geworden und das haben wir uns dann auch gewünscht“, erklärt Paula. Sie trägt ein grünes, knielanges Wickelkleid mit weißen Punkten. Ihr rötliches Haar hat sie zu einem Dutt gesteckt. Vor sich schiebt sie einen graphitfarbenen Doppelkinderwagen.
Knapp anderthalb Jahre nach ihrer ersten Schwangerschaft wird Paula wieder rückfällig. Streit mit ihrem Freund, mangelnde Kommunikation, graue Gedanken. Er ist depressiv, sie gestresst. „Ich weiß nicht, warum ich damals so zugemacht habe und mir nicht direkt Hilfe geholt habe“, sagt sie. Der Griff zur Flasche ist kein Kurzschlussmoment, viel eher ist er wochenlang geplant. Sie weiß, dass es nach hinten losgeht. Dass es eine schlechte Idee ist. Aber in diesem Moment ist ihr das egal: „Ich hatte keine Hoffnung“, erinnert sich Paula mit ernster Miene. Sie spricht offen über diese Phase, ist gefasst. Es wirkt so, als hätte sie sich in den letzten Jahren viel mit dieser Zeit auseinandergesetzt.
Alkohol als fester Bestandteil der Gesellschaft
Eine Zeit voller Alkohol, der in Deutschland als Kulturgut gilt. Egal ob auf Firmenfeiern, Geburtstagen oder zum Essen – fast täglich begegnen uns Angebote und vermeintliche Anlässe zum Trinken. Doch obwohl immer häufiger auch auf die negativen Folgen des Konsums aufmerksam gemacht wird, ist dieser weiterhin breit in der Gesellschaft akzeptiert. Dabei gilt Alkohol als das meistverbreitete Suchtmittel weltweit. Laut einer Studie der Krankenkasse Barmer aus dem Jahr 2021 liegt die Zahl der Abhängigen in Deutschland über einer Million, davon sind circa 30 Prozent der Betroffenen weiblich.
Paula ist eine von ihnen. Ihr Freund arbeitet im Schichtdienst. Jeden Tag wartet sie, bis er zur Arbeit geht, bevor sie zu dem kleinen grünen Fläschchen mit dem Hirschkopf greift. Sie fängt an, zu trinken. Nie so viel wie früher. Immer nur ein kleiner Jägermeister oder zwei Bier. Sie braucht das, um Motivation zu finden. Motivation, ihrem gerade mal einjährigen Sohn seine Jacke und seine kleinen Schuhe anzuziehen und mit ihm rauszugehen. Sie redet sich ein, dass es nicht schlimm ist, wieder zu trinken, unternimmt viel mit dem Kleinen. Trotzdem hat sie ein schlechtes Gewissen. Auch, weil sie den Konsum vor ihrer Familie versteckt. Tagsüber trinkt sie manchmal auf der Bank im Park, auf der sie auch jetzt gerade sitzt, unter der großen Eiche, neben einer kleinen Lichtung.
Ein halbes Jahr lang geht alles gut, ihr Geheimnis bleibt unentdeckt. Bis ihr Freund eines Abends früher nach Hause kommt und den vertrauten bitter-süßlichen Geruch in Paulas Atem bemerkt. Da war die Enttäuschung in seinem Blick. Sie fühlt sich schuldig.
Fast 450 Kilometer weiter sitzt Anna-Lena auf einer alten Bank im Braunschweiger Richmond-Park und streicht ihr dunkelbraunes, glattes Haar, das ihr weit über die Schulter fällt, aus ihrem Gesicht. Sie trägt ein rosafarbenes T-Shirt mit der Aufschrift „Invent Yourself“, unter dem sich ihr schon gut
erkennbarer Babybauch wölbt. Anna-Lena ist die Tochter einer Alkoholsüchtigen. „Sie hat es mir selbst gesagt, dass sie während der Schwangerschaft getrunken hat. Sie hat auch noch darüber gelacht“, erinnert sie sich an ihr letztes Gespräch mit ihrer Mutter. In ihrer Stimme eine Mischung aus Enttäuschung, Trauer und Wut. Aufgrund des damaligen Alkoholkonsums ihrer Mutter leidet Anna-Lena heute unter der Fetalen Alkohol Spektrums Störung, kurz FASD.
Auch am Rande einer Allgäuer Kleinstadt sitzen drei Frauen auf einer alten Bank, die vor einem weißen, großen Bauernhaus mit hellbraunen Fensterläden steht. Über ihnen ein grauer, quietschender Sonnenschirm. Sie sind alle circa Ende 30. Im Gespräch vertieft ziehen sie abwechselnd an ihren Zigaretten. Das Haus hinter ihnen ist die Fachklinik für suchtmittelabhängige Frauen in Legau. Hier ist Platz für bis zu 30 Patientinnen, die mithilfe einer Entgiftungstherapie einem suchtmittelfreien Leben wieder ein Stück näherkommen wollen. Zehn von ihnen sind mit ihren Kindern angereist. In therapeutischen Einzelgesprächen sowie Gruppentherapien lernen die Patientinnen hier ihren Alltag wieder konsumfrei zu bewältigen, Konflikte, aber auch ihr Leid zu teilen und sich selbst in ihrer Rolle als Mutter wiederzufinden.
Die Klinik Legau
Auch Paula war mit ihrem Sohn in Legau. Doch bevor sie es schafft, sich Hilfe zu holen, nimmt ihr Alkoholkonsum nochmal richtig zu: „Ich habe mich ganz arg schlimm gefühlt. Deshalb war es auch so schwer, das wieder zu lassen“, erzählt sie mit zitternder Stimme und glasigen Augen. Auch jetzt belastet sie das Thema noch ziemlich.
„Die Frauen haben oft einen großen Leidensdruck und würden wahrscheinlich gerne aufhören. Viele kriegen aber einfach nicht in den Kopf, dass Sucht nichts ist, was man rein mit dem Willen steuert, sondern einfach eine biopsychosoziale Erkrankung“
– Thomas Richter.
Thomas Richter ist therapeutischer Leiter der Fachklinik für suchtmittelabhängige Frauen in Legau. Aus seinen Erfahrungen weiß er: Viele Betroffene schaffen es nicht, allein aus der Abhängigkeit zu kommen und benötigen Hilfe. Angehörigen rät Richter daher, offen über die Sucht zu sprechen und ihnen das schlechte Gewissen zu nehmen.
Raus aus der behüteten Klinik, rein in den turbulenten Alltag
Paula hat die Zeit in Legau als sehr angenehm empfunden: „Die waren alle total lieb und nett. Auch meinem Sohn hat es da richtig gut gefallen“, erinnert sie sich. Vier Monate verbringt sie mit ihrem Sohn in der Klinik. Es ist wichtig für sie, rauszukommen und den Kopf freizukriegen. Auch den Austausch mit den anderen Frauen genießt sie sehr. Es ist fast ein bisschen wie Urlaub.
Doch der Sprung von der kleinen, behüteten Idylle in die kalte, reale Welt gestaltet sich schwieriger als gedacht. Gerade die ersten sechs Wochen sind hart für Paula: „Ich war irgendwie in so einem Loch drinnen. Da wieder einen Rhythmus zu finden, das dauert immer.“ Nur dreieinhalb Monate nach ihrem Aufenthalt in Legau wird Paula wieder schwanger. So kurz nach der Entwöhnung stellt sie das erneut auf die Probe. Denn gerade im ersten Jahr nach der Entwöhnungstherapie ist die Rückfallwahrscheinlichkeit besonders hoch. Sie beugt sich über den Kinderwagen, in dem zwei kleine Mädchen mit hellbraunen Haaren liegen und schlafen. Beide tragen eine Blümchenhose mit einem pinken Langarmshirt und nuckeln friedlich an ihren Schnullern. Es sind Zwillinge.
Rückfallrisiko und Alkoholabhängigkeit
Die Auffassungen, was genau man unter einem Rückfall versteht, sind verschieden. Orientiert man sich an der engen Definition, so zählt jeder konsumierte Tropfen Alkohol. In diesem Fall liegt die Rückfallwahrscheinlichkeit bei einer Alkoholsucht zwischen 70 und 90 Prozent. „Insbesondere wenn ich schwanger werde, wenn ich wieder zurückgeworfen werde in hilfsbedürftige Situationen, kommen Flashbacks und alte Bilder wieder hoch und dann ist man auf einmal unfähig, sein Leben zu regulieren“, erklärt Thomas Richter.
Mit einer Sucht gehen häufig sogenannte „Komorbiditäten“ einher. Darunter versteht man Begleiterkrankungen, die zusätzlich zu der Sucht auftreten können. Patient*innen haben zum Beispiel häufig mit Traumafolgestörungen oder Depressionen zu kämpfen. Während der Entwöhnungstherapie in der Frauenklinik Legau wird daher auch viel Wert auf die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit gelegt. Richter erklärt: „Gut die Hälfte unserer Patientinnen hat einzelne, mehrfache oder über die Jahre laufende Traumata erlebt.“ Auch wenn die Opfer auf den ersten Blick körperlich unversehrt sein mögen, hinterlassen solche schrecklichen Erlebnisse dennoch Spuren. „Man steckt das irgendwie weg, aber in ungewohnten Situationen kommt es wieder hoch“, sagt Richter. Um diesen aufkommenden Gedanken und Gefühlen standzuhalten und zu funktionieren, greifen einige Frauen in solchen Situationen wieder zur Flasche. Und das kann verheerende Folgen haben.
Denn FASD ist eine der häufigsten Auslöser geistiger Behinderungen. Nur bei 20 bis 30 Prozent der Betroffenen ist die Krankheit auch äußerlich – im Gesicht – erkennbar. Daher wird die Störung häufig sehr spät oder gar nicht erkannt. Auch, weil viele Mütter aus Scham nicht zugeben, während der Schwangerschaft getrunken zu haben. Gleichzeitig lässt sich nicht sagen, ab welcher Menge Alkohol das Kind welche Schäden davonträgt. Untersuchungen in diesem Bereich werden nur an Tieren durchgeführt, da sie andernfalls ethisch nicht vertretbar wären. Feststeht jedoch, dass auch schon kleine Mengen Alkohol dem Ungeborenen schaden können. „Jeder Tag, an dem sie (schwangere Frauen) konsumieren, ist zu viel“, stellt Thomas Richter fest.
Wie Anna-Lena mit ihrer Erkrankung umgeht und wie sie ihre Kindheit als Tochter von Alkoholabhängigen erlebt hat, erfahrt ihr in unserem Videoprojekt:
Schwanger oder frisch verliebt?
Häufig kommt es bei betroffenen Frauen dazu, dass der Körper während der Schwangerschaft eine Art Schutzbedürfnis entwickelt. Werdende Mütter möchten ihr Ungeborenes hormonell bedingt möglichst von allem schlechten fernhalten, damit es gesund aufwachsen kann. Einige Süchtige hören deshalb instinktiv von selbst auf zu trinken oder holen sich Hilfe. Auch Paula bemerkt solch positive Veränderungen. „Es ging mir psychisch nie besser als in meiner ersten Schwangerschaft. Ich war nie schlecht gelaunt. Ich hatte sonst mal Panikattacken und Angstzustände, aber in der Schwangerschaft hatte ich davon wirklich gar nichts“, erinnert sich die Mutter, die die Zeit als ziemlich unbeschwert wahrgenommen hat. Eines der beiden Mädchen ist wach geworden. Paula beugt sich liebevoll über den Kinderwaagen und nimmt die Kleine in den Arm. „Hallo“, flüstert sie und gibt ihr einen Kuss auf den Kopf. Das Mädchen schaut ihre Mutter mit großen blauen Augen an, ist nun ganz ruhig und nuckelt an ihrem Daumen.
Diese Glücksgefühle, die Paula beschreibt, können sich in einigen Fällen aber auch nachteilig auf die Therapie mit schwangeren Abhängigen auswirken. Durch ihr Schutzbedürfnis können Betroffene ihre Traumata meist weniger tief verarbeiten und emotional weniger zulassen. „Das ist ein ähnlicher Zustand, wie wenn man frisch verliebt ist. Da kann man mir auch erzählen, dass die Welt um mich rum kaputt geht. Das interessiert mich nicht. In dem Moment gerade ist ja alles gut“, merkt Thomas Richter an. Laut dem therapeutischen Leiter sind das nicht gerade die besten Voraussetzungen für eine Therapie. „Trotzdem ist es unheimlich wichtig, dass die Patientinnen zu uns kommen, dass sie nicht während der Schwangerschaft konsumieren und das Kind möglichst ohne zusätzliche Vergiftung im Bauch wachsen kann“, stellt er klar. Im Jahr kommen circa fünf Schwangere nach Legau. Einige von ihnen auch, um sich im nüchternen Zustand darüber klar zu werden, ob sie das Kind wirklich bekommen wollen.
Wodka in der Milchflasche und Türme aus Bierdosen
Anna-Lenas Eltern wollten keine Kinder. Da ist sie sich sicher. „Aber wenn man im Alkoholsuff ist und nicht auf Verhütung achtet, dann passiert das“, erklärt die Schwangere. Als sie von ihrer Kindheit erzählt, wird ihre Stimme plötzlich brüchig und ihre Miene verdunkelt sich. Mit ihren Fingern streicht sie über das schon etwas morsche Holz der Bank. Im Park ist es ruhig, am Himmel hängt eine graue Wolkendecke und es weht ein lauer Wind.
Anna-Lena erzählt von ihrer Kindheit, die keine Kindheit war. Sie erinnert sich an den kleinen Couchtisch aus Glas im Wohnzimmer, auf dem unzählige grüne Bierdosen standen. An ihre Mutter, die auch in der zweiten Schwangerschaft trank und an ihren aggressiven Vater, der Anna-Lena Wodka in ihre Milchflasche kippte, weil sie ihm als Kind zu viel schrie. Sie schaut hilfesuchend zu ihrem Freund. Er sitzt ihr gegenüber und wirft ihr einen beruhigenden Blick zu. Dennoch liegt auch Sorge darin.
„Manchmal habe ich Phasen, wo ich mich frage, ob ich eine gute Mama sein werde. Ob es nicht vielleicht doch irgendwann dazu kommt, dass ich selbst alkoholabhängig werde“
– Anna-Lena
Gerade in der Schwangerschaft denkt Anna-Lena viel über ihre Vergangenheit nach. Ihre Angst, selbst einmal dem Alkohol zu verfallen, ist dabei nicht unbegründet. Richter hat dieses Phänomen während seiner Zeit in Legau schon öfter beobachtet: „Was erschütternd ist, ist, dass bestimmt die Hälfte aller Patientinnen schon suchtkranke Eltern hatte. Das heißt, es gibt eine hohe Gefahr für diese Kinder, dass sie da selbst auch reinrutschen“, gibt er zu bedenken.
In Deutschland ist der Konsum von Alkohol in der Schwangerschaft straffrei. Wie genau es mit der rechtlichen Lage aussieht und warum die Straffreiheit vielleicht berechtigt ist, erfahrt ihr in unserem Podcast Übermacht:
Die Macht zurückerlangen, trocken bleiben
Paula ist bereits dreifache Mutter. Dass ihre Kinder später ebenfalls zur Flasche greifen könnten, möchte sie sich gar nicht erst vorstellen: „Ich will keine Alkoholikerin sein. Ich will nicht, dass mich meine Kinder besoffen sehen. Ich will ihnen genauso eine schöne Kindheit schenken, wie ich eine hatte“, erklärt sie. Paula streichelt ihrer Tochter zärtlich über die Wangen, ihr Blick ist voller Zuneigung.
Nach ihrem Aufenthalt in Legau nimmt Paula weiterhin die Hilfe der ambulanten Suchthilfe der Stadtmission Nürnberg in Anspruch und besucht regelmäßig eine Selbsthilfegruppe. Auch während ihrer zweiten Schwangerschaft bleibt sie abstinent und bringt neun Monate später zwei gesunde Mädchen zur Welt. „Ich würde nicht sagen, dass das nie wieder passieren kann. Ich weiß das halt einfach besser. Aber ich weiß, wo ich mir Hilfe holen kann. Bis jetzt habe ich noch kein Verlangen und ich hoffe, das bleibt jetzt auch erstmal so“, sagt Paula mit solch einer Bestimmtheit in der Stimme, die einem schnell klar werden lässt, wie ernst sie es meint. Sie legt ihre Tochter, die sie noch immer im Arm hält, vorsichtig zurück in den Kinderwagen, steckt ihr den Schnuller in den Mund und fängt an, den Wagen hin und her zu schuckeln. Dann steht sie auf, streicht ihr Kleid glatt, löst die Bremse des Kinderwagens und macht sich auf den Weg nach Hause. Sie ist stolz, eine gute Mutter zu sein. Mit einem Mann, den sie liebt. Endlich wieder alles selbstständig regeln zu können.
Du oder deine Angehörigen haben ebenfalls suchtbezogene Probleme? Hier findest du Hilfsangebote:
Suchthilfeverzeichnis: Suchthilfeverzeichnis
Hinterlasse einen Kommentar