Ausgenutzt am Telefon

Schockanrufer*innen nutzen Senior*innen rücksichtslos aus, um hohe Geldmengen zu erbeuten. Manche Opfer verlieren so ihre Altersvorsorge, schämen sich jedoch zu sehr, ihren Angehörigen davon zu erzählen oder die Polizei einzuschalten.

In panischer Sorge um ihre Liebsten, lassen die Opfer jegliche Vorsicht außer Acht. (Foto: Tilmann Wensky)

Von Rocko Neitzel und Tilmann Wensky

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„Ich bin regelrecht zusammengebrochen, das war mir einfach zu viel.“ Renate A. sitzt in ihrem Wohnzimmersessel und erinnert sich daran, wie sie vor gut einem Jahr Opfer eines Schockanrufs wurde. Eine angebliche Polizistin forderte eine Kaution von über 30 000 Euro für ihre Tochter, die bei einem Autounfall eine schwangere Frau und ihr ungeborenes Baby getötet haben soll. Obwohl die 80-Jährige die Summe letztendlich nicht zahlte, schämt sie sich immer noch für ihre Naivität. Deswegen möchte sie anonym bleiben und wird hier Renate genannt. Sie trägt kurze graue Haare und ein blaues Kleid. Ihre wachen Augen verleihen ihrem faltigen Gesicht jugendliche Energie.

An den Wänden in Renates Wohnzimmer hängen gerahmte Familienfotos, den Gang zieren Portraits und Feuerwehurkunden ihres Ehemannes. Sie schenkt dem Mikrofon auf dem Tisch vor ihr keine Beachtung, als sie von dem Tag erzählt, an dem sie einen Schockanruf erhielt:

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„Ich war nervlich überhaupt nicht belastbar. Ich habe 130 Beileidskarten empfangen und die Antworten mit Sterbebildern geschrieben.“ Es ist der unerwartete Tod ihres Ehemannes zwei Wochen zuvor, der sie emotional so mitnimmt, dass sie keine Vorsicht walten lässt, als ihr Telefon klingelt. Eine Frauenstimme meldet sich: „Polizei Passau. Ihre Tochter hatte einen Unfall.“ ­– „Welche Tochter?“ – „Moment, ich gebe sie Ihnen.“ Am anderen Ende des Hörers hört sie eine schluchzende Frau, die außer Stande ist, klar zu sprechen. „Sabine, bist du das?“, fragt Renate erschrocken. Die Polizistin übernimmt wieder und informiert die 80-Jährige über den tödlichen Autounfall und die nötige Kaution, damit ihre Tochter nicht umgehend ins Gefängnis müsse.

Renates Ehemann war zwei Wochen zuvor verstorben. Nun soll ihre Tochter in einen tödlichen Autounfall verwickelt sein

Eigentlich war Renate die Masche solcher Schockanrufe aus Warnungen über Radio und Fernsehen bereits bekannt. Zusätzlich hatte sie einen Vortrag der Polizei über Telefonbetrug besucht. „Wie blöd kann man nur sein, darauf reinzufallen?”, habe sie sich damals noch gedacht – bis es ihr an jenem Tag selbst widerfuhr. Den Betrüger*innen gelang es, die Rentnerin in einen Ohnmachtszustand zu versetzen: „Ich habe gar nicht an mich gedacht – bloß an meine Tochter, wie es ihr jetzt geht und was sie mitmacht.“

Die Frauenstimme am Telefon fordert Renate auf, schnellstmöglich den Betrag von der Bank abzuheben und fragt, ob noch weitere Personen im Haus seien. Sobald sie das Geld abgehoben habe, werde bei ihr ein Staatsanwalt für die Übergabe vorbeikommen. Von jeglicher Rationalität verlassen, bestellt sie ein Taxi. Während Renate einsteigt, fordert sie die Fahrerin hektisch auf, sie zur Bank zu bringen und zurück nach Hause fahren. Sie dürfe nicht verraten, worum es gehe. Die Taxifahrerin wird misstrauisch und tritt auf die Bremse. Sie sei vorher für die Betrugsmasche sensibilisiert worden und hat in der Rentnerin folgerichtig ein Betrugsopfer erkannt. Sie weigert sich, Renate zur Bank zu fahren, sondern bietet an, sie stattdessen zum Büro ihrer Tochter zu bringen. „Meine Tochter ist natürlich aus allen Wolken gefallen, als ich weinend daherkam. Dann ist alles abgefallen von mir“, erinnert sich die 80-Jährige.

Heute spricht Renate über ihre Erfahrung, als hätte nicht sie, sondern jemand anderes gehandelt: „Ich kann mir heute gar nicht mehr vorstellen, dass ich so kopflos war.“ Ihre Katze läuft ins Wohnzimmer und streift schnurrend um ihre Beine. Die Terrassentür steht offen, Vögel zwitschern, ab und zu hört man die Stimmen der Nachbarn. „Ich bin fest der Meinung, dass jemand das Haus beobachtet hat“, sagt sie rückblickend. Die Skrupellosigkeit mit der die Betrüger*innen die Hilfsbereitschaft der Opfer für ihre Angehörigen ausnutzen, beschäftigt sie immer noch: „Die spielen mit den Gefühlen der Leute. Die riskieren, dass jemand einen Herzanfall kriegen kann, aber das ist ihnen völlig egal. Da geht es nur ums Geld!“

Renate ist mit ihrem Erlebten nicht allein: Täglich werden Senior*innen Opfer von Schockanrufen. Laut Polizei-Sicherheitsbericht wurde 2022 in Niederbayern durch Telefonbetrug ein Schaden von über zwei Millionen Euro angerichtet. Insgesamt wurden 2 167 Fälle zur Anzeige gebracht, wobei die Polizei von einer beträchtlichen Dunkelziffer ausgeht.

Die Rollen bei dem Betrugsschema sind klar verteilt. (Daten der Darstellung Sicherheitsbericht Polizei Niederbayern)

„Die Betrüger telefonieren wie Angestellte im Callcenter mit Headset“, vergleicht Kriminalhauptkommissar Robert Stadler die Betrugsmasche. Manchmal würden die Abholer*innen der Wertgegenstände sogar mit einem Arbeitsvertrag als Kurierfahrer ausgestattet werden. Der Passauer Polizist leitet Präventionsveranstaltungen, bei denen er Senior*innen vor Trickbetrügen warnt.

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Die Betrüger*innen durchforsten Telefonbucheinträge nach Personen mit Vornamen, die besonders unter Senior*innen weit verbreitet sind. Zudem liege es nahe, dass sie über Todesanzeigen nach frisch verwitweten und somit emotional instabilen Opfern suchen ­– wie in Renates Fall. Die Lügengeschichte ähnelt sich in der Regel: Es wird eine Kaution für Angehörige gefordert, die angeblich einen Verkehrsunfall mit Todesfolgen verursacht haben. „Die Täter versuchen, die Opfer gleich in einen Tunnel reinzubringen. Sie setzen sie laufend so sehr unter Druck, dass sie gar nicht zum Überlegen kommen“, fasst Stadler die Machtdynamik zusammen. Hierbei sei die unmittelbare Reaktion auf die Schocknachricht entscheidend. Innerhalb von Sekunden wüssten die Betrüger*innen, ob sie ihr Opfer in einen Schockzustand versetzen konnten.

Die Rollen bei dem Betrugsschema sind klar verteilt. (eigene Darstellung)

Die strafrechtliche Verfolgung gestaltet sich schwierig. Die Callcenter befinden sich in der Regel außerhalb der Europäischen Union, von wo Auslieferungen nach Deutschland nur schwerfällig zustande kommen. Die Strippenzieher*innen, die an der Spitze der Betrugsringe stehen und finanziell am meisten profitieren, gelten laut Stadler weitestgehend als unantastbar. Wenn überhaupt gelinge es, Abholer*innen bei der Geldübergabe zu fassen. Hier besteht einer der wenigen Zugriffspunkte der Behörden auf die Betrugsringe. Die Abholer*innen stehen in der Hierarchie der Banden jedoch ganz unten und wüssten teilweise nicht, wem sie unterstellt sind. Dies sei eine bewusste Vorsichtsmaßnahme, damit sie nicht gegen ihre Vorgesetzten aussagen können, sollten sie festgenommen werden.

Die Strafverfolgung der Strippenzieher*innen ist äußerst schwierig

In diese Machtverhältnisse hat Strafverteidiger David Mühlberger nähere Einblicke erhalten. Der 37-Jährige vertrat bereits einige Angeklagte des Callcenterbetrugs vor Gericht. In seiner Kanzlei in München wechselt Mühlberger von Anruf zu Anruf – Prozess hier, Termin dort. Ein in Granit eingelassenes Wappen des VfB Stuttgart ziert sein Besprechungszimmer und zeugt von seinen schwäbischen Wurzeln. Er erinnert sich an den Telefonbetrugsfall mit dem höchsten Sachschaden, den er je betreut hat: 2017 stahlen Täter*innen auf einen Schlag 1,8 Millionen Euro von den Bewohner*innen eines Mehrfamilienhauses. Diese wurden von vermeintlichen Polizist*innen aufgefordert, sich ihrer Wertsachen zu entledigen, da eine Einbrecherbande sich unmittelbar nähere. „Die Bewohner haben Sporttaschen voller Gold und Geld aus dem Fenster geworfen, in der Hoffnung, dass unten die Polizei steht, um sie einzusammeln.“ Stattdessen wurden die Wertgegenstände von Mühlbergers Mandanten einkassiert.

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„Die werden ganz primitiv von völlig Fremden über Facebook oder Telegram angeworben“, beschreibt er den Ablauf der Rekrutierung für das kriminelle Geschäft. Für potenzielle Abholer*innen würden die Koordinator*innen nach Profilen, die Stereotypen mit Geldsorgen entsprechen, suchen – wie dem einer alleinerziehenden Mutter in finanzieller Not. Über die Strukturen der Organisation würden sie absichtlich im Dunklen gelassen. Von der Verlockung des schnell verdienten Geldes geblendet, erledigen sie Kurierfahrten und sammeln pralle Kuverts von geschockten Großeltern ein. Tatsächlich scheint manchen Abholer*innen dabei nicht bewusst gewesen zu sein, sich damit strafbar zu machen. „Einer Abholerin hatte man erzählt, sie solle ganz dringend Medikamente abholen. Dies hat sie tatsächlich geglaubt, das Gericht allerdings nicht. Ich habe aber auch schon erlebt, dass eine Abholerin Freispruch bekommen hat, weil sie tatsächlich dachte, Geld für eine Shishabar einzusammeln.“ Ob seine Mandant*innen über die Folgen ihrer Taten reflektieren? „Teils gibt es wirklich ernsthafte Reue, manchen ist es aber völlig egal“, sagt der Rechtsanwalt. Ihm zufolge verdienen die Abholer*innen nur wenige Hundert Euro pro Fahrt – einen Bruchteil der Beutesummen. Dabei tragen sie das Risiko einer möglichen Verhaftung. Abhängig von der Vorgehensweise und der Höhe des Schadens durch den Betrug, erwartet die Gefassten zum Teil eine mehrjährige Haftstrafe. Hier komme es teils zu besonders hohen Strafen, die der Generalprävention durch Abschreckung dienen sollen.

Vor Gericht sollen sich immer wieder bewegende Szenen ereignen. Mühlberger erzählt von über 80-Jährigen, die während der Verhandlung hoffnungsvoll fragen, wann sie denn den Schmuck ihrer Angehörigen zurückbekämen. Wobei dieser wohl schon längst auf dubiosen Märkten verscherbelt wurde: „Das ist eine Erfahrung, die geht einem auch als Verteidiger nahe.“

Teils wissen die Abholer*innen nicht, dass sie Teil eines Betrugs sind

Ebenfalls emotionale Begegnungen mit den Opfern erlebt der pensionierte Rechtsanwalt Christian Baumgartner. Seit seinem Ausstieg aus dem Berufsleben engagiert er sich ehrenamtlich bei der Opferschutzorganisation „Weißer Ring. Seit 2015 leitet er die Außenstelle in Passau. Er habe schon viel gesehen und eine gewisse Resistenz gegenüber den schweren Schicksalen aufgebaut, mit denen er in Berührung kommt: „Das muss man wegstecken.”

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Die Opfer von Schockanrufen, die er betreut, seien oft in den Grundfesten ihres Vertrauens erschüttert: „Die kriegen sich überhaupt nicht mehr ein. Die haben rote Augen vom Weinen von früh bis abends.“ In solchen Fällen bieten er und weitere Ansprechpartner*innen des Weißen Rings die Möglichkeit, sich das Leid von der Seele zu reden. „Was sie brauchen, ist ein großes Ohr ohne zeitliche Beschränkung. Wir versuchen, sie einfach nur reden zu lassen.” Dies sei in dieser Situation oft das einzige Hilfsmittel. Aus den vielzähligen Gesprächen kann er nachvollziehen, warum die Masche immer noch greift: „Das ist als wenn ein Schalter bei den Opfern umgelegt wird. Plötzlich sind sie rationalen Argumenten nicht mehr zugänglich. Es wird ihr Grundinstinkt angesprochen, ihre Familie in Not zu schützen. Sie haben eine enorme Adrenalin-Ausschüttung, so dass sie zum Schwert greifen und wie Berserker um ihre Familie kämpfen ohne Rücksicht auf eigene Verletzungen.“

Um den entstandenen Sachschaden auszugleichen, kann der Weiße Ring keine finanzielle Unterstützung leisten. Dafür bieten die Mitarbeiter*innen den Opfern unter anderem an, sie zu Behördengängen zu begleiten. Für die Kosten der Erstberatung bei Anwält*innen können Schecks ausgestellt werden. Baumgartner hat den Eindruck, dass nur ein Bruchteil der Opfer von Schockanrufen die Angebote nutzt. Zu groß sei die Bürde, offen zuzugeben, dass man betrogen wurde. Die Senior*innen würden sich immens schämen, nicht nur ihr eigenes Vermögen, sondern auch das ihrer Nachkommen verloren zu haben.

Am schwierigsten sei die Zeit nach dem Betrug, wenn Alleinstehende Gefahr laufen, in Einsamkeit zu versinken. „Man kann kaum nachfühlen, in welch tiefem Loch diese Leute drinsitzen.“ Ihnen wieder herauszuhelfen, ist das Ziel des Weißen Rings. Hierbei gehen die Mitarbeiter*innen von Person zu Person unterschiedlich vor. Baumgartner erzählt von Opfern, die sie bei einem Alpenverein oder Seniorentreff angemeldet haben, um sie wieder unter Leute zu bringen.

Bei einem solchen Seniorentreff in Passau sitzt eine Gruppe älterer Damen im Halbkreis. Ein klackernder Ventilator versucht vergeblich, für Abkühlung zu sorgen an diesem heißen Juni-Nachmittag. Die Tische sind an die Wand geschoben, um für den vorangegangenen Programmpunkt „Tanzen im Sitzen“ Platz zu schaffen. Nun sind die Damen gut gelaunt und gesprächig. Darauf angesprochen, ob sie befürchten würden, Opfer eines Schockanrufs zu werden, antworten sie: „Ich doch nicht“, „Niemals!“ oder „Ganz so blöd bin ich doch noch nicht!“

Es ist ein Muster, das sich bei dieser Geschichte durchzieht: Die Senior*innen sehen sich gegenüber der Betrugsmasche gewappnet, teils schwingt sogar Unverständnis für die Opfer mit, die sie als töricht ansehen. Allerdings können sie nur bedingt darüber urteilen, wenn sie hier gemütlich zusammensitzen und den echten Stressmoment nie miterleben mussten. Man schließt nur so lange aus, Opfer zu werden, bis man selbst eines Tages auf dem falschen Fuß erwischt wird. Auch Renate hätte vorher kategorisch ausgeschlossen, auf einen Schockanruf hereinzufallen. „Nie mehr sage ich das, weil es jedem passieren kann“, sagt sie nun. „Wenn das Telefon klingelt und ich die Nummer nicht kenne, hebe ich ab und sage nur ‚Hallo‘. Ich bin vorsichtig geworden.“ Nach dem Vorfall wurde sie von ihren Kindern wieder aufgebaut, die allerdings nur schwer nachvollziehen konnten, dass ihre Mutter zum Opfer wurde: „Mama, wie kannst du darauf reinfallen? – haben sie mir Vorwürfe gemacht.“

Nun möchte die 80-Jährige zumindest verhindern, dass Bekannte aus ihrem Umfeld betrogen werden. „Ich habe bei meinem Stammtisch davon erzählt, damit sie wirklich gewarnt sind. Da sind einige dabei, vor allem Witwen, die schon auf die 90 Jahre zugehen.“ Bei einigen ist sie sich nicht sicher, ob sie den Betrug durchschauen würden.