Mehr als ein Fetisch

Was ist BDSM? Und wie geht jemand, der sich nicht bewegen kann, mit dieser Vorliebe um? Wir haben Chris getroffen und herausgefunden, wie sie BDSM praktiziert und auch, wie sie innerhalb einer Session Dominanz ausüben kann.

*Am Ende haben wir ein Glossar eingefügt.

Zwei Peitschen liegen auf den Regalbrettern. Auf einer Kommode darunter reihen sich Gleitgels und andere Sex-Toys auf. An den Wänden hängen zwei große Bilder mit halbnackten Frauen. Darunter wurden – teilweise versteckt, teilweise ganz offensichtlich – Haken in die Wand gebohrt. Haken für „Bondage“, also zum Fesseln, wie man unter BDSMlern sagt. BDSM ist eine Abkürzung für Bondage und Disziplin, Dominanz & Submission und Sadismus & Masochismus. Genau das ist Chris Vorliebe. Neben einem der Haken steht ihre Beatmungsmaschine. Diese braucht sie manchmal, denn Chris hat eine Erkrankung: Spinale Muskelatrophie Typ 2. Das heißt, dass nach und nach ihre Muskeln schwinden. Bei ihrer Diagnose war Chris anderthalb Jahre alt. Mit Hilfe eines Rollstuhles bewegt sie sich selbstständig fort. Die Peitschen in ihrem Zimmer kann die 33-Jährige jedoch nicht selbst schwingen. Benutzt werden diese von ihren Partner*innen. Mehrzahl, denn Chris ist polyamor, sie führt also mit mehreren Menschen eine Liebesbeziehung.

Foto: Chris Kiermeier

Chris orangefarbenes T-Shirt ist über ihre rechte Schulter gerutscht, die wiederum von ihren langen blonden Haaren verdeckt wird. Auf den ersten Blick sieht man ihr nicht an, dass sie auf BDSM steht. Keine schwarze oder rote Kleidung, die für BDSM üblich ist. Auch sonst keine Auffälligkeiten, wie Verletzungen, die von vorherigen Sessions stammen könnten, sind zu sehen. Dass bei Sessions auch mal blaue Flecken entstehen können ist normal, denn bei BDSM geht es um Schmerz. Aber nicht nur, denn hinter den vier Buchstaben verbirgt sich mehr als nur Fesseln, Handschellen oder Peitschenhiebe. Für viele ist BDSM ein Fetisch. In der Wissenschaft spricht Robin Bauer, Professor an der DHBW Stuttgart, eher von einer „Vorliebe“. Ein „Fetisch“ sei mehr ein Zusatzobjekt, das Sessions spannender werden ließe, zum Beispiel durch ein Latexkostüm. Bauer forscht schon seit 20 Jahren zu BDSM. Aus einem Mangel an Studien und auch aus eigenem Interesse habe er damals angefangen, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Eine einheitliche Definition von BDSM gibt es nicht, wie Bauer erklärt. Die Grenze, was alles zu BDSM gehört, ist nicht eindeutig. Viele praktizieren ihre Vorliebe heimlich hinter verschlossenen Türen oder auf anonymen Chat-Portalen und somit können Zahlen BDSM-Praktizierender nur grob geschätzt werden. Bauers Mutter habe ihn mal gefragt, was BDSM eigentlich sei und was er da mache. Seine Antwort darauf klingt einfach:

„Im Grunde genommen ist es ein sehr weites Sammelbecken, für alles Mögliche, was von einem gewissen sexuellen Standard oder einer Norm abweicht.“

Foto: Chris Kiermeier

Chris macht kein Geheimnis aus ihrer Sexualität. Selbstbewusst erzählt sie von ihrer Vorliebe. Auch ihre Familie weiß Bescheid. Einige Sessions finden sogar im Haus ihrer Eltern statt, denn dort wohnt sie.

„Klar haben meine Eltern einen Beschützerinstinkt“, erklärt Chris, „sie sehen ja die Verletzungen auf meinem Körper“. Trotzdem hat ihr Vater die Haken für Bondage in ihrem Zimmer angebracht. „Witze darüber hat er noch drei Wochen später gemacht“, erzählt Chris und schmunzelt. Bevor Chris Eltern von ihrer Vorliebe wussten, habe sie ihren Freund*innen davon erzählt. Eher zwangsläufig, denn alleine hätte sie es nicht geschafft, ihre Dates zu organisieren. Die Reaktionen waren nicht negativ, dennoch konnten viele zunächst nicht nachvollziehen, warum Chris genau auf diese Dinge steht.

Nicht nur Chris Freund*innen unterstützen sie. Rund um die Uhr ist auch immer einer ihrer sechs Assistent*innen anwesend. Ein Leben lang ist Chris schon auf Hilfe angewiesen. Während einer Session sind allerdings keine Assistent*innen dabei. In dieser Zeit hat Chris die Macht, selbst zu entscheiden, ob sie „Sub“ oder „Dom“ sein und auch wie weit sie in einer Session gehen möchte. Als Dom wird im BDSM-Kontext jemand bezeichnet, der die dominante Rolle einnimmt, ein Sub dagegen schlüpft in die unterwürfige Rolle. Wenn sie während einer Session Hilfe braucht, bekommt sie die von ihren Partner*innen. Mit One-Night-Stands würde Chris keine Sessions starten, denn eine emotionale Bindung und Vertrauen sind für sie enorm wichtig. Das kann sie nur denjenigen schenken, die sie gut kennt.

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Eine BDSM-Session könnte man auch als „Spiel“ bezeichnen. Jeder Beteiligte nimmt dabei eine Rolle ein und ein künstliches Machtgefälle wird aufgebaut. Wer Dom und wer Sub ist, wird vorher ausgehandelt und besprochen. Wie eine Session genau abläuft, ist immer unterschiedlich. Jede Begnung ist laut Chris einzigartig und unvorhersehbar. Nur drei Dinge sind besonders wichtig: Kommunikation, Einvernehmlichkeit und Vertrauen. Durch genaue Absprachen vor einer Session und sogenannte „Safe Words“ weiß jeder, was in Ordnung ist und was nicht. Diese Safe Words sind Worte, die nichts mit dem BDSM-Kontext zu tun haben und eine Session sofort beenden können. Gabriel Wichmann, Psychotherapeut aus Berlin, spricht sogar davon, dass bei BDSM mehr Konsens herrsche als bei sogenanntem „Vanilla-Sex“, also Sex, bei dem keine BDSM-Praktiken ausgeübt werden. Chris hat kein Safe Word, sie nutzt die Ampelfarben. Wenn ihr etwas unangenehm ist, sagt sie „Gelb“, wenn sie die Session beenden möchte, sagt sie „Rot“. In den meisten Fällen braucht sie die Farben aber nicht.

Vor ihrer ersten Session kannte sie BDSM nur aus Pornos und hätte nicht daran gedacht, selbst BDSM auszuprobieren. Chris war um die 20 Jahre alt, als sie eine Anfrage auf einer Dating-Website erhalten hat. Ein älterer Herr fand Chris Profil interessant und kam sofort zum Punkt: Er stehe auf BDSM, sei ein Dom und suche einen Sub. Chris ist trans*, und hatte sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht als Frau geoutet. Die beiden haben sich auf einen Kaffee getroffen, um sich besser kennenzulernen. Für Chris war damals auch ziemlich schnell klar, dass sie BDSM ausprobieren möchte. „So kam ich zu meinem ersten Dom“, erzählt sie. Als „schön und neu“, beschreibt Chris ihre erste Session. Für sie war es die erste BDSM-Session und für ihren Dom war es die erste Session mit einer behinderten Person.

„Wir mussten noch viel voneinander lernen.“

Für Sessions verabreden sich die beiden nicht mehr, aber seit dieser Begegnung ist BDSM ein fester Bestandteil ihres Lebens.

Foto: Chris Kiermeier

Während Chris bei ihrer ersten Session Sub war, hat sie in den letzten Jahren auch Erfahrungen als Dom gemacht. „Sobald das Bedürfnis nach körperlicher Dominanz da ist, wird’s sehr schwierig“, erklärt Chris. Sie erniedrigt ihre Partner*innen mit Worten. Chris nutzt Befehle und gibt Aufgabenstellungen und auch Sex-Toys helfen ihr, sich überlegen zu fühlen.  „Wenn man mit dem Partner, so wie ich, schon sehr vertraut ist, dann weiß man natürlich, was die andere Person mag und was sie nicht mag“, erklärt die 33-Jährige – doch die Frage bleibt: Wie läuft eine Session ab? Chris verrät uns:

„Wir gehen in diesen Raum, in dem wir spielen wollen, wir ziehen uns aus, wir reden ein bisschen und dann sind wir da wirklich sehr offen. Wenn wir Lust auf Bondage haben, machen wir Bondage, wenn wir Lust auf Spanking haben, machen wir das. Wir lassen uns da sehr auf das ein, was die andere Person haben möchte – auch unabhängig von der Rolle.“

Woher ihre Vorliebe kommt, kann Chris nicht genau sagen. Durch ihre Offenheit und die Neugier, neue Dinge auszuprobieren, habe sie Gefallen daran gefunden. Theorien, die erklären, wie eine Vorliebe zu BDSM entsteht, gibt es einige. Eine bekannte, dennoch strittige Theorie, ist die „Sexual Script Theory“, wie Bauer erklärt. Dabei geht es um Erfahrungen aus der Kindheit, die wie Schlüsselerlebnisse dafür verantwortlich sind, dass Menschen auf eine bestimmte Form von BDSM (oder andere Sexualpraktiken) stehen. Genaueres lässt sich damit aber nicht feststellen. Denn was für den einen ein Schlüsselerlebnis darstellt, lässt eine andere Person mit demselben Werdegang und Erfahrungen völlig unberührt. „Ein BDSM-Gen gibt es nicht“, erklärt Bauer. Auch Psychotherapeut Wichmann bestätigt, dass man nicht genau sagen kann, wie die Vorliebe BDSM entsteht.

Chris spricht offen und selbstbewusst über ihre Neigung. Regelmäßig schreibt sie auf ihrem Blog über die Themen Sexualität, Behinderung und BDSM. „Es ist wichtig, Tabus aufzubrechen und Körpernormen zu hinterfragen und darüber müssen wir einfach mehr reden“, sagt sie. Denn BDSM und Sexualität im Allgemeinen sind in der Gesellschaft oft Tabu-Themen. Aus diesem Grund erfährt Chris auch viel Hass unter ihren Beiträgen. Kommentare wie „Abartige Behinderten-Scheiße“ und andere Beleidigungen dieser Art finden sich unter ihren Beiträgen. Auch direkte Nachrichten bekommt sie. Diese löscht Chris dann meist sofort. Als die Nachrichten und Kommentare besonders schlimm waren, ließ sie sich nicht unterkriegen und reagierte auf die Hass-Nachrichten mit einem Fotoshooting.

Ihren Hatern gibt sie keine Chance und geht ihrer Neigung trotzdem nach. Ihre Partner*innen wählt sie jedoch nicht danach aus, ob diese BDSM praktizieren oder nicht.

„Ich kann jahrelang auf BDSM verzichten, die Frage ist nur, möchte ich das?“

Und die Antwort lautet „Nein“. Durch ihre polyamoren Beziehungen kann sie ihre Bedürfnisse an ihre Partner*innen anpassen. Und mit denjenigen BDSM praktizieren, die das auch möchten.

Als „ein Spiel mit Machtverhältnissen“ beschreibt Chris BDSM. Das Gefühl von Macht zieht sich also durch ihr Leben, denn „BDSM fängt bei Macht an“, erklärt Wichmann. Auch Bauer bestätigt, dass sich Macht bei BDSM auf allen Ebenen finden lässt. Dabei ist nicht nur der Dom mächtig, auch als Sub hat man die Macht, eine Session jederzeit zu beenden. Auch wenn sich Chris nicht bewegen kann, weiß sie, dass dieses Machtgefälle für sie nie zum Nachteil sein wird. Sie gibt ihre Macht bewusst ab, kann sich Macht aber auch bewusst nehmen. Einvernehmlich und im Konsens aller Beteiligten.

Fest steht: BDSM ist ein weites Feld, das gerade im Kontext von Menschen mit Behinderungen noch weitgehend unerforscht ist. Es zeigt eine Welt, in der die traditionellen Vorstellungen von Gewinner und Verlierer obsolet werden – denn inmitten der alltäglichen Vorstellung von Macht findet man sie hier nicht.

Abkürzung für Bondage, Disziplin, Submission, Masochismus meint sexuelle Aktivitäten, die zum Beispiel das Fesseln eines/einer Partner*in, Spiele, bei denen ein Partner den anderen kontrolliert, oder das Geben und Empfangen von Schmerz zum Vergnügen beinhalten.
das Fesseln zur Steigerung der geschlechtlichen Erregung (im sexuell-masochistischen Bereich). Es gehört zu den bekanntesten Spielarten der BDSM-Szene und ist so beliebt wie vielseitig. Profis fesseln beim Suspension Bondage mit Seilen. Eine besondere Form der Lust lässt sich auch durch Folienbondage erleben, bei dem der Sklave in Frischhaltefolie bewegungsunfähig eingewickelt wird.

Menschen, die diese Vorliebe haben, genießen es eingeschränkt oder nicht atmen zu können und dabei kontrolliert zu werden. Oder eben diese Kontrolle auszuüben. Der Reiz liegt auch im Euphorie- und Angstgefühl, das sich bei Sauerstoffmangel einstellt.

Ein „Dom“ nimmt innerhalb einer Session die dominante Rolle ein.

eine bestimmte Art der Orgasmuskontrolle, bei der der submissive Partner immer wieder an die Grenze seiner oder ihrer Erregung getrieben wird, ohne einen erlösenden Höhepunkt zu erhalten.

Polyamouröse Menschen können sich in mehr als nur eine Person zur gleichen Zeit verlieben und führen romantische und/oder sexuelle Beziehungen mit mehr als einer Person. Wichtig ist, dass alle Beziehungs- und/oder Sexualpartner*innen mit dieser Beziehungsform einverstanden sind.

Safe Words sind Worte, die nichts mit dem BDSM-Kontext zu tun haben und eine Session sofort beenden können. Sie werden genutzt, wenn es zu viel wird. Beispiele für Safe Words: Rot, Pizza, Ananas.

der Akt, jemanden mit der Hand zu schlagen, in der Regel mehrmals auf den Hintern zur Bestrafung oder zum sexuellen Vergnügen.

Durch das Ausschalten bestimmter Sinne, wird eine besondere Isolation erlebt, die als extrem reizvoll gilt. Zu diesem Zweck kommen bei dieser BDSM-Praktik unter anderem Ohrstöpsel, Augenbinden, Gasmasken, Knebel oder Fäustlinge zum Einsatz.

Spinale Muskelatrophie Typ II ist eine Erbkrankheit, die bei ca 1:25.000 Geburten auftritt. Diagnostiziert wird die Krankheit innerhalb der ersten 18 Monate. Symptome können unter anderem proximale Muskelschwäche, kein freies Laufen, Deformitäten der Wirbelsäule, Gelenkkontrakturen, Einschränkungen der Lungenfunktion oder Zittern der Hände beim nach vorne strecken sein.

Ein „Sub“ nimmt innerhalb einer Session die unterwürfige Rolle ein.

gewöhnlicher Geschlechtsverkehr ohne BDSM-Elemente;

Synonym: Blümchen-Sex