Außer Dienst
Ein General a. D., ein Ex-Verwaltungsgerichtspräsident: zwei Autoritäten. Doch was kommt nach der Macht? Nostalgie oder Neuanfang? Zwei Stippvisiten.
Von Christina Weiß und Hanna Wilsker
Der Anruf
„Generalmajor a.D.“ prangt fettgedruckt neben Jürgen Reichardts Telefonbucheintrag. Auch 24 Jahre nach seinem großen Zapfenstreich scheinen die schwarzen Lettern, Name und Beruf, unzertrennlich. Ruhestand? Für den trainierten 85-Jährigen mit wachem Geist ist er noch lange nicht in Sicht. Das beweist schon das erste Telefonat mit dem ehemaligen Soldaten. Nach einem Blick in den Kalender stellt er in seiner klaren Tenor-Stimme fest: „In diesem Monat habe ich noch an zwei Tagen Zeit. Eigentlich nur zwei Nachmittage. Ansonsten ist schon alles voll.“ Termin festgelegt. Ob Reichardt Bilder habe? Noch am selben Abend sendet er per E-Mail einen Ordner mit durchnummerierten Aufnahmen aus allen Jahrzehnten. Daneben listet der Pensionär unter „Tätigkeiten seit der Zur-Ruhesetzung 1998“ vierzehn Aktivitäten auf. Neben der Vortragstätigkeit und der Herausgabe einer Verbandszeitschrift findet sich darunter auch die gemeinnützige Arbeit im LIONS-Club.
Mittwochvormittag, ca. 12 Uhr. Das Freizeichen ertönt einige Male. „Karl-Friedrich Richter?“ meldet sich eine Stimme. Der ehemalige Verwaltungsgerichtspräsident ist sehr überrascht, eine Interviewanfrage zu bekommen. Und dann auch noch zum Thema Macht. Seine Stimme klingt skeptisch. Trotzdem sagt er zu: „Naja, wenns meinen. Außer Arzttermine hab ich keine großen anderen Termine.“ Man hört deutlich, dass hier ein gebürtiger Franke spricht. Man hört auch deutlich, dass sich die Person mit dem Wort Macht in Verbindung bringen kann.
Das Treffen
Ein heißer Tag im Juni. Das urige Gasthaus in Wörth an der Donau ist gut besucht. Der Geruch von Sonnencreme und Bratkartoffeln liegt in der Luft. Reichardt hat in der kühlen Gaststube reserviert. „Ruhig wollts der Herr Reichardt fürs Gespräch haben“, betont die Kellnerin und führt zu einer großen Tafel fernab der anderen Gäste. Pünktlich auf die Minute trifft der Generalmajor a.D. des Heeres der Bundeswehr ein. Nach einem kurzen Blick in die Runde und seiner Bestellung (Wasser mit Sprudel), schreitet Reichardt zum Tisch und begrüßt mit festem Händedruck. Später im Gespräch wird er betonen, er würde allein am Eintreten erkennen, wer gedient habe und wer nicht. Der 85-Jährige hat gedient. 38 Jahre lang. Fast vier Jahrzehnte, die er auch fotografisch festhielt. Zügig platziert Reichardt den Karton mit ausgewählten Aufnahmen auf dem Tisch.
Daneben öffnet er eine Mappe, in der E-Mail-Ausdrucke ebenso abgeheftet sind, wie leere Notizzettel. Zuletzt ein Stift. Alles liegt akkurat und griffbereit nebeneinander. Vorausschauend. Eine wichtige Offiziers-Fähigkeit, die Reichardt schon von klein auf begegnete. Der Vater macht im Militär Karriere. Die Familie folgt ihm. Die Stube aufräumen, sich Rechenschaft ablegen, den Tag nicht verbummeln. Diese Prinzipien gelten für Reichardt und seine zehn Geschwister, die an sechs verschiedenen Orten geboren werden.
Freitagmittag, 12:57 Uhr. Ein bärtiger Mann steht am Gleis Fünf des Bayreuther Bahnhofs und wartet geduldig. Er blickt sich suchend um, als der Zug in den Bahnhof einfährt.
Er überlegt kurz laut, ob das Gespräch in einem Biergarten, Café oder einer Eisdiele stattfinden soll, schlägt dann aber gleich den Biergarten vor. Auf seine Krücke gestützt läuft er zum Parkplatz und steigt in sein Auto. „Ich weiß ja nicht, wie Sie auf die Schnapsidee gekommen sind, dass Richter Macht haben“, meint der Rentner und lenkt sein Auto über die Landstraßen Oberfrankens in Richtung Wirtshaus. Da ist sie wieder, die Skepsis aus dem Telefonat. Herr Richter scheint wirklich überzeugt zu sein, keinen mächtigen Beruf ausgeübt zu haben. Derselbe Mann erzählt eine Stunde später, wie er daran mitgewirkt hat, dass Helmut Kohl eine Gesetzesänderung vornehmen ließ.
Das erste Wirtshaus, an dem der ehemalige Präsident des Verwaltungsgerichts hält, ist gerade in der Sommerpause. Dann scheitert es an einer gesperrten Straße. Ungefähr eine halbe Stunde später ist es dann doch geschafft. Herr Richter steuert das Auto über den Parkplatz der Frankenfarm.
Der Garten ist voll und die Sonne knallt auf die Tische herunter. Herr Richter schlägt einen Tisch im Schatten unter einem Kastanienbaum vor.
Am Nebentisch sitzt eine große Reisegruppe. Er setzt sich und beachtet die Speisekarte nicht, die vor ihm auf dem rustikalen Holztisch liegt. Als die Kellnerin kommt, bestellt er eine Currywurst mit Pommes und ein Radler.
Reichardt selbst zieht deutschlandweit fünfzehn Mal um. Von West nach Ost. Von Nord nach Süd, ehe er in der beschaulichen Kleinstadt Wörth sein endgültiges Zuhause findet. Eine Geborgenheit, die er als Kind vor allem im Sport erlebt. Schon früh beginnt der einstige Flüchtling aus Ostbrandenburg mit dem Turnen. Dort glänzt er sowohl als Vorturner als auch Abteilungsleiter, indem er zusätzlich Wanderungen und Zeltlager organisiert. Neben Verantwortung nimmt Reichardt vor allem die Einstellung daraus mit. Die Hände nach oben streckend betont er: „Nach einem Rückschlag muss man aufstehen. Wenn man vom Reck fällt, lautet das eiserne Gebot des Turners: Sofort wieder hoch! Sonst hat man Angst vor dem Gerät.“ Abseits des Sports ist für den Teenager vor allem Musik wichtig. So leitet er selbst eine Kapelle und singt in Chören. So gut, dass der Kantor ihn nach dem Abitur an die Lübecker Musikakademie holen möchte. Aber Reichardt hat andere Pläne. Sport, Geschichte und Deutsch sollen auf seinem Stundenplan stehen. Zunächst als Student, dann als Lehrer.
Im Beruf
„Als ältester Sohn muss man natürlich immer bisschen die Freiheiten für die Geschwister miterkämpfen und muss die Rebellion gegen die Eltern anführen.“, beschreibt der ehemalige Verwaltungsgerichtspräsident seine Kindheit. Ob er sein Gerechtigkeitsempfinden vielleicht vom Großen-Bruder-Sein hat? „Ich denke schon.“
Nach seiner Schulzeit steht der gebürtige Franke vor der Entscheidung seinen Beruf zu wählen. Er muss sich zwischen Medizin, Lehramt, Theologie und Jura entscheiden. „Ich kann kein Blut sehen, Pfarrer war mir dann doch zu christlich und Lehrer war mir mit den nervigen Kindern zu blöd. So Paradies-Studiengänge wie Journalismus habe ich gar nicht in Erwähnung gezogen. Jura ist halt als einziges noch übrig geblieben.“ Der Pensionär blickt nach oben und schiebt sich eine Portion Pommes in den Mund. Ja, die Studienwahl lief wohl etwas anders in den 60ern. Und einmal angefangen, wird dann auch durchgezogen. Gereizt hat ihm an dem Studium allerdings nichts.
“Gesponnen habe ich ja auch mal“, erzählt Herr Richter. Zum zweiten Staatsexamen fährt der Student 270 km im schwarzen Anzug nach München. Nachdem dieses besser als erwartet ausgefällt, entscheidet sich der junge Herr Richter, es einmal bei der Notarkammer zu versuchen. Dort wird ihm am Telefon gesagt, er solle sich in 14 Tagen nochmal melden. Dann sei jemand da, der ein Treffen mit ihm ausmachen könne.
Die Reisegruppe hinter Herr Richter unterhält sich lautstark. Doch er nimmt sie gar nicht wahr. „Da habe ich mir gedacht, ihr habt einen Vogel, ich fange hier doch nicht das Betteln an und das Winseln und in 14 Tagen ist einer da, der mir sagen kann, wann einer da ist, der mir sagen kann…“. Also entscheidet er sich beim Innenministerium anzurufen. „Der hat gesagt, wenn ich jetzt gestern die Prüfung hatte, habe ich meinen schwarzen Anzug ja dabei. Dann soll ich gleich morgen kommen.“ Er lacht. „Naja und dann war ich am nächsten Tag eingestellt.“
Im hohen Norden Deutschlands absolviert der frischgebackene Abiturient Reichardt ganz nach Familientradition vor Studienbeginn seinen Wehrdienst und findet „in der Truppe alles, was man sich eigentlich wünschen konnte. Dort habe ich gemerkt: das ist ein Beruf, der auf mich zugeschnitten ist wie kein Zweiter.“ Er bleibt. Dabei hatte Reichardt in den Tagen vor Dienstantritt die größte Ungewissheit seines Lebens erlebt. Es erscheint ihm wie der Eintritt in eine neue Welt. Reichardt streift die Zivilkleidung ab und bildet mit vollkommen Fremden schnell eine eiserne Schicksalsgemeinschaft.
Seine graublauen Augen glänzen als er anfügt: „Die Stube hält immer zusammen.“ Natürlich wird die Stube dennoch aufgelöst und Reichardt führt selbst immer mehr Soldaten an. Waren es als Gruppenführer noch acht, als Leutnant 30 Mann, sind es als Divisionskommandeur schließlich 27.000 Soldaten. Macht hätte er gegenüber seinen Kameraden aber nie empfunden. Sein Credo wäre die Verantwortung. Reichardts Stirn runzelt sich und die Augen stechen unter der Brille mit dunklem Rand hervor, als er anmerkt: „Über Macht reden doch eigentlich immer nur Leute, die keine Verantwortung haben.“ So zählt er an seinen feingliedrigen Fingern die Werte auf, die dagegen wirklich prägen: Fürsorge, Kameradschaft und Glaubwürdigkeit. Dafür marschierte Reichardt auch schon hunderte Kilometer mit der Truppe, spielte in Hand- und Volleyballmannschaften und kickte mit Feldwebeln Fußball. Mit 50 hätte er selbst nicht mehr genügend Mannschaftskollegen gefunden.
Herr Richters Karriere beginnt im Bayerischen Innenministerium. Doch auch hier fallen ihm immer wieder Machtspielchen auf, die dem jungen Juristen gar nicht gefallen. „Hochrangige, hierarchische Behörden sind auch nicht meins“, sagt er und erinnert sich an eine Situation zurück, in der ein Angestellter rückwärts aus dem Büro des Ministerialdirigenten lief und so gegen den Türstock rannte. „Da hab ich mir auch gedacht, was für ein blöder Verein, wo man nicht mal richtig durch die Tür laufen kann.“
Doch auch wenn er die Hierarchiespielchen in den Behörden ablehnt, faszinieren ihn die Machtverhältnisse in der Politik dann doch. Doch das Wort Macht missfällt dem Rentner. Er scheint sich jedes Mal etwas zu winden, sobald der Begriff fällt. Politisches Abwägen nennt er es, nicht Machtausübung.
Aber hat ein Richter nicht offensichtlich Macht? Warum haben Menschen so Angst, diesen Begriff zu verwenden? In der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist man laut Herrn Richter nicht mächtig. „Der Bürger wendet sich ja an uns, weil er sich machtlos gegenüber dem Staat fühlt und von uns Hilfe haben will gegen den allmächtigen Staat. Wenn man die Rolle so sieht man ist Helfer für den armen gegängelten Bürger gegen den Staat.“ Das hört sich jetzt aber auch nicht ganz machtlos an. Wie ist das denn ist denn mit dem Gefühl von Macht im Arbeitsalltag? „Gefühl von Macht“, er pausiert kurz und überlegt. „Wenn Sie etwas Zeit haben?“
München, 70er Jahre, Herr Richter arbeitet gerade in der Sozialhilfeabteilung, als ein Fall über Legasthenie auf seinem Schreibtisch landet. Bis dahin hat die Krankenkasse den überwiegenden Anteil an Zahlungen für Nachhilfe, Therapie und „Paukbüros“ übernommen. Doch plötzlich wird Legasthenie nicht mehr als Krankheit eingestuft und somit ist keine medizinische Behandlung notwendig. Also zahlen die Krankenkassen nicht mehr. Das sorgt dafür, dass auch Sozialhilfeträger ihre Zahlungen streichen. Die Eltern sind verzweifelt, plötzlich müssen sie die ganzen Zahlungen für ihre Kinder übernehmen. Sie wenden sich an die Gesetzeshüter*innen. Herr Richter erklärt, dass nirgends im Gesetz steht, dass Sozialhilfe nur bei Krankheiten gezahlt werden muss, sondern wenn eine Behinderung droht oder vorliegt. Also argumentiert der junge Jurist, dass Kinder mit Legasthenie oft in der Schule nicht mitkommen und so psychische Schäden drohen können. Er hält Rücksprache mit der Medizinal-Abteilung und bekommt von dieser die Bestätigung. Kurze Zeit später ist der Fall erledigt. Die Krankenkassen müssen die Zahlungen wieder übernehmen.
„Wenn man mal sowas Grundsätzliches auf die richtige Bahn lenken kann, das gibt einem schon ein wenig Befriedigung und das Gefühl, man hat was erreicht und man hat vielleicht auch bisschen Macht gehabt oder Einfluss gehabt“, schwelgt der Rentner in Erinnerungen.
Es gibt also doch machtvolle Momente im Richterberuf. An einen weiteren Moment kann sich Herr Richter aus seiner Zeit im Osten Deutschlands erinnern.
Abseits der Kampfbahn war und ist die Familie das wichtigste Team des Generalmajors a.D., bei der er von Anfang an Führung anstrebt. „Eine Familie ist so etwas wie eine Kampfgemeinschaft. Die ist auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen.“, betont Reichardt und ballt dabei seine Hand zu einer Faust, von der sich dunkle Adern abzeichnen. Heute noch würden seine beiden Töchter bei Problemen anrufen und diese mit ihm besprechen. Manchmal auch schriftlich. Ganz nach dem Prinzip der Lagebeurteilung, die der einstige Soldat wie folgt beschreibt:
Noch immer sähe Reichardts Familie die Bundeswehrzeit als Glücksfall. Trotz oder gerade, weil diese auch mit zahlreichen Umzügen verbunden war. Alle zwei Jahre neue Städte, Schulen und Umgebungen. Alle zwei Jahre Renovierungen. In Hamburg, Bonn, Straubing oder Köln. Für Familie Reichardt eine Pflicht, damit sie ja nicht in „fremden Tapeten“ leben muss. Noch heute lagern Kartons voller Lampen und Gardinen auf dem Dachboden in Wörth. Relikte eines Berufslebens, in dem der damalige Soldat in kürzester Zeit in neuen Aufgabenbereichen funktionieren muss. Warum dann der zusätzliche Stress?
Reichardt nimmt einen großen Schluck Wasser und lehnt sich auf dem grob geschreinerten Gaststuhl zurück, als er schildert: „Als ich am härtesten gefordert war, habe ich mir gesagt: ´Ich muss was anderes machen´.“ Beim Handball kann der General abschalten. Im Anschluss zieht er sich vollkommen entkräftet am Geländer nach oben. „Dann habe ich um 11 Uhr abends auch noch meine Kellerbar gebaut. Alles selbst gebastelt.“ Das Möbelstück wird zum sperrigen, aber wichtigen Talisman der Familie und Gradmesser bei Wohnungsentscheidungen.
Chemnitz, Oktober 1990, ein Jahr nach dem Mauerfall. Der deutsche Einigungsvertrag steht, das Umtauschen von Ostmark zu D-Mark hat bereits mit einer zweijährigen Frist begonnen. Die Rechtsprechung im Osten ist chaotisch, eine Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht vorhanden.
Der Westen schickt freiwillige Jurist*innen in den Osten, damit diese dort beim Aufbau eines funktionierenden Rechtssystems helfen können. Einer von diesen Freiwilligen ist Herr Richter. Er wird nach Chemnitz geschickt.
Zwei Jahre später zeigt sich das Problem an der Umtausch-Frist im Einigungsvertrag. Es gibt die ersten Fälle von Bürger*innen, die im Ausland waren, verstecktes Vermögen, von verstorbenen Angehörigen gefunden haben oder aus anderen Gründen ihr Geld, oder in Herr Richters Worten „Aluchips“, nicht rechtzeitig umtauschen konnten. Die Banken weigern sich, das Geld zu wechseln. Also ziehen die Betroffenen vor Gericht.
Einer von ihnen mit Herrn Richter. Sein Mandant hat ein Konto geerbt, die letzten Jahre aber in New York gelebt und anscheinend nichts von der Wiedervereinigung mitbekommen. Herr Richter lacht und fährt dann fort. Die deutsche Bundesbank ist ein öffentlich-rechtliches Institut und damit für die Ausgabe von Währung zuständig. Den Geldwechsel haben allerdings vor Ort Sparkasse, Postbank etc. übernommen. Deswegen werden dann auch die Geschäftsbanken verklagt, als sie nicht zahlen wollen. Aber um gerichtlich weiter vorgehen zu können, muss man irgendwie von den Geschäftsbanken zur Bundesbank kommen. Im Verwaltungsgericht gibt es die Möglichkeit, vermeintliche Beteiligte an dem Rechtsstreit oder Rechtsverhältnis bei Gericht vorzuladen. Also wird solch eine Einladung an die deutsche Bundesbank geschickt. Dieser fällt allerdings in den Worten Richters „im Traum nicht ein“ die Vorladung anzunehmen. Er droht, sie polizeilich vorführen zu lassen, worauf plötzlich doch zwei hochrangige Bundesbankdirektoren mit handgeschöpftem Büttenpapier inklusive Wasserzeichen und Vollmacht im Gerichtssaal sitzen. Herr Richter schaut heute noch zufrieden aus, als er davon erzählt.
Im Gerichtssaal wird nun das Problem erörtert. Es gibt Ungenauigkeiten bei der Verantwortung. Sind die Geschäftsbanken zuständig? Oder die Bundesbank? Wer entscheidet in einem Streitfall? Keine Regelungen. Keine Antworten.
Nun geht es um die genaue Geldsumme, die es die Bundesbank kosten würde. „Bei uns waren vielleicht so 15 vergessene Konten mit vielleicht 2.000, 3.000 Mark. Und dann haben die gesagt, ach wir haben so viel Milliarden mit der deutschen Einigung im Warschauer Pakt versenkt, dann kommt es jetzt auf die paar Kröten auch nicht mehr an.“
Also einigen sich die Parteien darauf, die Frist zu streichen. Die Vertreter der Bundesbank versprechen mit Kohl zu reden und vier Monate später steht die Änderung im deutschen Einigungsvertrag. Herr Richter hört nie wieder etwas von den Fällen. „So kann man natürlich auch a weng was bewirken“.
In Pension
Heute hat die Kellerbar im Wörther Gartenschuppen ihren endgültigen Standort gefunden. Einen Ort, den Reichardt nach seiner Versetzung in den Ruhestand nach „militärischer Geländebeurteilung“ auswählt. Liegt das beschauliche Wörth doch exakt in der Mitte zwischen seinen geliebten Städten Regensburg und Straubing. Hier startet der Pensionär jeden Morgen um punkt acht Uhr in den Tag. Nach dem Frühstück schwingt sich der topfitte 85-Jährige auf seinen Heimtrainer und die Gymnastikmatte, ehe er sich an die Post setzt. An zwei Tagen in der Woche heißt es beim Tennisklub TSV Wörth danach: Aufschlag. Dort trifft er Kommunalpolitiker, die sich auch nach Jahrzehnten über einstige Wahlniederlagen grämen. Reichardt dagegen schaut stets nach vorn. Die Ausnahme bildet dabei seine Arbeit als Sachbuchautor.
Wie leidenschaftlich der Pensionär das Schreiben verfolgt, wird deutlich, als er die mitgebrachten Werke auf dem Nachbartisch ausbreitet. Feinsäuberlich liegen seine Bücher über Familien- und Kriegsgeschichte nebeneinander. „Selbstverständlich musste ich auch ein Liederbuch verfassen“, betont Reichardt und streicht sanft über den beigen Einband. Daneben finden sich Verbandszeitschriften wie „Treue Kameraden“, für die der Autor jahrelang regelmäßig Leitartikel und historische Beiträge verfasste. Am Computer. 1998 absolutes Neuland für den jungen Pensionär. So bemerkt er: „Bis zur Pensionierung habe ich keinen Finger auf die Tastatur gesetzt.“ Sein persönliches Archiv ist bis heute dagegen analog. So greift Reichardt immer wieder auf hunderte von Ordnern voller markierter und vollgekritzelter Zettel zurück. Stolz blickt der Generalmajor a.D. noch einmal auf seine Sammlung und seufzt: „Aber da wäre noch so viel mehr zu berichten.“
Doch Reichardt wäre nicht Reichardt, wenn er neben dem Schreiben nicht auch andere Herausforderungen gesucht hätte. Aus dem Generalmajor a.D. wird aufgrund seiner Erfahrung somit auch ein Unternehmensberater. Wieder einmal auf der Agenda: Lagebeurteilung. „Das ließ sich im Betrieb umsetzen. Nicht mit Befehl und Gehorsam, sondern mit Vertrauen und Zuversicht“, berichtet er über die Jahre. Reichardt lächelt milde, die Augen glänzen nicht. Als seine Präsidentschaft für den „Bayerischen Soldatenbund“ zur Sprache kommt, funkeln diese dagegen wieder. 14 Jahre stand er dem Verein vor. Heute ist er Ehrenpräsident. Auch in der Pension immer der Leader? Man hätte ihn gefragt, ob er das Amt übernähme. „Dann habe ich das gemacht. Weil ich wusste, ich treffe viele wieder und kann was zurückgeben.“ Ein Dankeschön an die Kameraden. Ein Dankeschön an eine Zeit, von der Reichardt sich an jeden Tag erinnern könne. In einem Beruf, der für ihn zur Berufung wurde.
In Rente geht Karl-Friedrich Richter pünktlich mit 64 Jahren. Das ist halt so üblich.
Zu seiner Verabschiedung als Präsident des Verwaltungsgerichts Bayreuth kommt Joachim Hermann, damals (und heute) bayrischer Innenminister. Er bezeichnet den Verabschiedeten als „natürliche menschliche Autorität“. Dieser findet das ein wenig übertrieben, „aber warum sollte ich widersprechen?“ fragte er und lacht.
Das Arbeiten hat ihm nichts ausgemacht, er hat die Rente nicht herbeigesehnt. Es hat ihm aber auch nichts ausgemacht in Rente zu gehen. „War relativ wurscht.“ Besonders stark traf ihn der Kontrollverlust also nicht.
Pläne hat der Pensionär auch. „Ich habe beschlossen, ich gehe erstmal wie Jesus in die Wüste, wo er im Sinai mit dem brennenden Busch redet, also Gott aus dem brennenden Busch mit ihm sprach, habe ich gedacht ich gehe in die Wälder des Frankenwaldes. Und mach da eine Woche lang Waldspaziergänge und überleg mir, was ich mit dem Rest meines Lebens anfange.“
Doch sein Knie macht ihm einen Strich durch die Richtung. Nur zwei Wochen nach der Pensionierung bekommt er die Diagnose Kniearthrose.
Das hindert ihn aber nicht zu Reisen. Mit einer Reisegruppe war der Rentner schon in Österreich, Italien und der Türkei unterwegs. Auch seine Juristentätigkeit hat er noch nicht ganz aufgegeben. „Man muss sich ja nicht in die Bedeutungslosigkeit begeben, man kann ja noch ein bisschen rumstreiten. Die Schwierigkeit ist nur, dass man nicht selbst entscheiden kann, sondern andere überzeugen muss, wie sie entscheiden sollen.“ Dabei ärgert den pensionierten Richter nur, dass er sein Zeugnis nicht mehr finden kann und sich so seine Dienste nicht mehr berechnen lassen kann. Und die Krankenkasse, die ärgert ihn auch. „Kaum ist man pensioniert und womöglich bedeutungslos, fangen Krankenkasse und Beihilfe an, Kürzungen vorzunehmen, mit nichtssagenden Begründungen. Das ist mir vorher nicht passiert.“ Also leitet er die nötigen Rechtsmittelverfahren ein und hat auch schon drei, viermal gewonnen.
Belastet hätte Reichardt seine Arbeit tatsächlich nie. Ohnmacht? Den Begriff kenne der General a.D. nur aus der Medizin und wirft flapsig hinterher: „Sie können ohnmächtig werden, wenn Sie bei einem Marsch zu wenig getrunken haben.“ Statt Ohnmacht spräche er eher von „mangelnder Eignung.“ In 38 Dienstjahren keine Erschöpfung? Keine Überlastung? Reichardt antwortet mit einem entschiedenen „Nein“ und schildert dann doch eine Belastungssituation: im Verteidigungsministerium. Als Sprecher des damaligen Ministers Manfred Wörner und Leiter des Pressestabes hätte auch er Gewichtsverlust erlitten. „Da kam ich nicht mehr zum Essen und Schlafen.“, fasst der Pensionär in sachlichem Ton zusammen. Sein Gesicht zeigt dabei keine Regung.
Der Presse ist Reichardt auch in der Pension nah geblieben. So äußert er sich noch regelmäßig in Zeitungen und Zeitschriften zu militärischen Belangen. Seit über einem Jahr vermehrt über den Ukraine-Krieg. Zielgruppe: die Leserschaft. „Es ist schließlich nicht die Sache der Ruheständler jetzt zu sagen, was die Aktiven machen sollen.“, betont er.
Der Generalmajor a.D. ist in seinem Denken immer Soldat geblieben. Identifiziert sich auch als Pensionär mit militärischen Werten und Gepflogenheiten. Das Wasserglas ist leer. Reichardt ordnet seine Unterlagen und verstaut sie in seiner Ledertasche, als er sagt: „Diese Tätigkeit ging in Fleisch und Blut über. Bis hinein ins Zivilleben. Wenn man beispielsweise den Umzug plant, geht man genauso vor wie bei der Planung einer Gefechtsübung.“ Im Leben des Pensionärs scheint alles vorausschauend geplant. Der Kalender ist weiterhin prallgefüllt. „Eine Woche ohne einen Eintrag habe ich in meinem Ruhestand bisher noch nicht gehabt“, stellt er fest. 24 Jahre nach seinem großen Zapfenstreich.
So verwundert es nicht, dass schon die nächste Aktion unmittelbar bevorsteht: Reichardts Geburtstag und 61. Hochzeitstag. Zwei Wochen lang baut er in seinem Garten nun Zelte und Tische auf, installiert die Beleuchtung und kümmert sich um Musik und Buffet. Natürlich hat er auch dieses Fest generalstabsmäßig geplant.
Im Garten der Frankenfarm ist Vogelgezwitscher zu hören. Die meisten Gäst*innen sind inzwischen aufgebrochen. Auch die Reisegruppe ist weitergezogen. Der Teller von Herr Richter ist leer, das Glas noch halb voll.
Zum Abschluss erzählt er von einem typischen Tag in seiner Pension. „Ich habs natürlich gern, wenn die Hausarbeit mal in den Hintergrund tritt und ich ins Thermalbad planschen gehen kann.“
Prof. Dr. Janine Netzel
ist Gründerin und Geschäftsführerin von „MUC Leadership“, einem wissenschaftsbasierten Beratungs- und Weiterbildungsinstitut für Unternehmen.
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