Immer mehr Angehörige entscheiden sich bei der Bestattung ihrer Liebsten für freie Rednerinnen oder -redner. 2020 machte die Zahl der kirchlichen Beisetzungen erstmals weniger als die Hälfte aller Trauerfeiern aus. Wir haben eine freie
Trauerrednerin im Süden Münchens bei der Arbeit begleitet.
Von Max Kienast
Die Luft ist klar und kalt, der Schnee knirscht unter den Füßen. In dem weitläufigen Park huscht ein Eichhörnchen über die weiße Wiese. Es ist ruhig an diesem Dienstagvormittag Ende Februar auf dem Parkfriedhof in Ottobrunn. Doch die Menschen, die nach und nach in die Aussegnungshalle am Rande des Friedhofs
strömen, haben kaum einen Blick für die friedliche Szenerie. In dem Gebäude aus Holz und Glas ist es fast genauso kalt wie draußen, als Michaela Borowy in ihrem schwarzen Mantel und grünen Schal über die roten Steinfliesen geht, um die Angehörigen zu begrüßen. Am hinteren Ende des sechseckigen Raumes stehen viele hohe Pflanzen. Es brennen Kerzen. Sie beleuchten das Porträt eines älteren Mannes mit Pfeife im Mund auf einer Staffelei, ein großer Tulpenstrauß verbreitet warmen Duft. Aus den Lautsprechern ertönt „Take Five“ von Dave Brubeck, der Lieblingssong des 80-Jährigen, der Zeit seines Lebens überzeugter Siemensianer war. Michaela steht zunächst am Rand der Halle, geht schließlich an den Kerzen und Pflanzen vorbei und verneigt sich vor der von einem Rosen-Nelkenkranz umrahmten Urne.
Mit 50 hatte sie Lust auf einen Rollenwechsel
Michaela ist hier, um eine ganz besondere Art der Trauerfeier zu begleiten. Heute findet hier keine klassische kirchliche Beerdigung statt. Es ist ein Abschied, der nicht den christlichen Traditionen und Ritualen entspricht – die tröstenden Worte spricht kein Pfarrer, sondern eine freie Rednerin. In einer Zeit, in der immer mehr Menschen neue Wege der Trauerbewältigung suchen, bieten diese Rednerinnen und -redner eine Alternative zu den klassischen Beerdigungsritualen.
Michaela ist hauptberuflich Journalistin, arbeitet beim Bayerischen Rundfunk und hatte mit 50 Jahren noch einmal Lust auf einen Rollenwechsel: „Im Nachrichtenjournalismus ist die Sprache immer sehr reduziert, man kann wenig ausschmücken oder eigene, vielleicht schönere Formulierungen verwenden. Da hat sich in mir der Wunsch aufgetan, mehr mit Sprache, Text und Stimme machen zu können. Als dann ein Kollege starb und eine Rednerin gesucht wurde, da wusste ich: Das ist es! Das kann ich!“
Der Beruf der Trauerrednerin ist in Deutschland nicht geschützt und steht so jedem offen. Michaela informiert sich und absolviert eine viertägige Fortbildung. Die fällt ihr leicht, wie sie sagt. „Als gelernte Radiomacherin hatte ich einen Riesenvorteil, weil meine journalistische Herangehensweise super passt und ich keine Berührungsängste mit Sprache habe.“
Inzwischen macht Michaela mit einer eigenen Website auf ihre Angebote aufmerksam, oft werden Angehörige aber auch über Bestattungsinstitute wie „AETAS Lebens- und Trauerkultur“, so wie heute, an sie vermittelt. Welche Rednerin zu welchem Trauerfall passt, wird dort entschieden. „Es gibt ein kurzes Vorgespräch, in dem meist klar wird, wer die richtigen Worte finden kann“, erklärt Mitarbeiter Carsten ten Venne.
„Meine Rede ist ein Bild, und meine Sprache der Pinsel.“
Nachdem sie sich vor der Urne verneigt hat und das erste Lied langsam ausklingt, stellt Michaela sich an das schlichte Rednerpult aus Holz. Sie beginnt, das Leben des 80-Jährigen nachzuzeichnen. „Das Vorgespräch ist für die Rede extrem wichtig, da ich so einen Eindruck bekomme, wie die Angehörigen den Verstorbenen wahrgenommen haben. Meistens dauern diese Gespräche zwei bis drei Stunden, seit Corona auch über Zoom“, sagt Michaela lächelnd. „Mein Anspruch ist, die Menschen in ihrer Trauer zu begleiten, alles wahrzunehmen: Wie sind die Familienstrukturen, in welche Richtung geht die Trauer.“
Und so beschreibt sie eine Schiffsreise, auf der sie die Hinterbliebenen ein letztes Mal durch das Leben ihres Bruders, Vaters oder Opas führt. „Für die Hinterbliebenen stehen Dinge oft zwischen den Zeilen – Dinge, die nicht gesagt werden, die aber dennoch jeder weiß und die vielleicht wichtig waren in dem zu Ende gegangenen Leben. So strukturiere ich dann die Rede. Das Kreuzfahrtschiff war hier das übergeordnete Konzept, da er Schiffe und die See mochte.“ Ihre Arbeit sei künstlerisch, betont Michaela. „Meine Rede ist ein Bild, und meine Sprache der Pinsel.“
Michaela zitiert Dietrich Bonhoeffer und die Bremer Stadtmusikanten während der kleinen Reise an Bord des Lebensschiffs des Verstorbenen. Danach ertönt Glenn Millers „In the Mood“, das Leben des Mannes wird ein letztes Mal gefeiert. „In meinen Reden achte ich darauf, dass nicht nur ich spreche, sondern die Rede mit Gedichten und Liedern geschmückt wird und auch die Angehörigen können die Feier kreativ mitgestalten.“
Nicht nur die Trauerfeiern haben sich verändert in den letzten Jahren, auch die Orte werden mehr und mehr individuell gewählt. Immer seltener finden sie in Kirchen statt. Angehörige wählen Orte, die eine besondere Bedeutung für den Verstorbenen hatten – einen Park, einen See, einen Veranstaltungsraum. Michaela erzählt von einer Trauerfeier im Dietramszeller Friedwald. „Da hängen nur kleine Holzschildchen für die Toten“, erinnert sie sich. „Ich finde das sehr schön, weil sich mit einer Ruhestätte in einem Wald der große Kreislauf des Lebens schließt. Das nutze ich dann gern als übergeordnetes Konzept.“
Klarer Trend zu Trauerfeier ohne Kirche
Als in der Aussegnungshalle dann „Snap“ von Rosa Linn aus den Lautsprechern ertönt, zeigt sich, dass sich auch die Musik gewandelt hat. Die Enkelkinder des 80-Jährigen hatten sich den Song gewünscht, weil sie ihn gerne zusammen im Radio gehört haben. Anstelle des klassischen Kirchenlieds werden mehr und
mehr Verstorbene auch musikalisch individuell auf die letzte Reise verabschiedet.
Der Trend weg von kirchlichen Bestattungen hat in den letzten Jahren deutlich an Tempo gewonnen. Seit 2000 sind die traditionellen Verabschiedungen fast um ein Drittel zurückgegangen. 2020 waren die Kirchen erstmals an weniger als der Hälfte der Trauerfeiern beteiligt. Michaela findet die Möglichkeit dieser Bestattung „total wichtig“: „Freie Trauerfeiern sind eine sehr schöne Alternative zu den traditionellen Bestattungen der großen Kirchen. Viele Menschen können mit den althergebrachten Riten nichts mehr anfangen und wünschen sich, dass bei einer Trauerfeier aus dem Leben des/der Verstorbenen erzählt wird. Manche Pfarrer machen das auch sehr gut – vor allem dann, wenn der/die Verstorbene aktives Mitglied der Gemeinde war. Oft wird aber auch ein Standardtext
verwendet“, bedauert sie.
Dass es immer weniger kirchliche Bestattungen gibt, liegt nicht nur daran, dass immer mehr Menschen aus der Kirche austreten oder gar nicht erst getauft werden. Themen wie die Kirchensteuer, die viele nicht mehr bezahlen wollen, fördern diese Entwicklung genauso wie das dunkle Kapitel der Missbrauchsfälle in der Kirche – und die Art und Weise, wie mit diesen umgegangen wird.
Wie die Kirchen diese Entwicklung sehen, ist nicht offiziell bekannt. Auf Nachfrage zeigte sich der Sprecher der Erzdiözese München und Freising, Ulrich Keller, recht schmallippig. Er weist darauf hin, dass aufgrund der alternden Gesellschaft Bestattungen insgesamt zunähmen. Im Seelsorgealltag mache sich der Trend daher nicht unbedingt bemerkbar.
Gemeinsam geht aber auch. Michaela hat schon mit einem Pfarrer zusammengearbeitet. „Ich habe die Rede gehalten, der Pfarrer die Beisetzung geleitet. Das ist für mich okay.“ Und auch Ulrich Keller ist der Meinung, es sei „seelsorglich sinnvoll, vernetzt mit allen Playern rund um Bestattungen zu arbeiten und nicht in Konkurrenz tätig zu sein oder diese gar aufzubauen“.
Dankbarkeit als Lohn
Michaelas Rede endet an diesem Februar Vormittag nach knapp einer Stunde mit dem Gedicht „Meeresblick“, und schließt damit auch geschickt den Rahmen des Schiffskonzepts. Als zum Ende „Orinocco Flow“ spielt, stehen Angehörige und Freunde der Reihe nach auf, um an der Urne eine weiße oder rote Kerze
anzuzünden und sich endgültig von dem Verstorbenen zu verabschieden.
Während die Angehörigen durch die schmale Glastür auf den verschneiten Pflastersteinen zum Leichenschmaus gehen, bleibt Michaela noch kurz an der Urne, verabschiedet sich und macht sich auf den Weg zu ihrem weißen BMW. „Ich gehe bewusst nicht mit zum Essen danach. Die Trauergemeinde muss dafür
unter sich sein und ich wäre ein Störfaktor, auch wenn ich sehr häufig darum gebeten werde.“
Hauptberuflich als Trauerrednerin zu arbeiten, das ist für die 57-Jährige im Moment keine Option. Dann wäre Zeit viel zu oft Geld und die Möglichkeiten für die individuelle Gestaltung wären deutlich geringer. Reich wird sie mit ihrem Nebenjob nicht – auch wenn sie sich durch ihre Arbeit als Rednerin den ein oder
anderen Traum erfüllen kann. Doch die Dankbarkeit und die Wertschätzung der Menschen, die sie begleitet – genau das ist für Michaela der eigentliche Lohn für ihre „Herzensangelegenheit“, bei der sie viel gibt, aber auch sehr viel bekommt.
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