Im folgenden Text geht es um Homo- und Transfeindlichkeit. Wenn du dich mit Inhalten zu diesem Thema unwohl fühlst, überlege dir bitte, ob du den Beitrag lesen möchtest.

Pflege ohne Schubladen

 

Diskriminierung und Angst vor der Pflegebedürftigkeit. Die Pflegelandschaft in Deutschland steht vor einigen Herausforderungen. Doch trotz Vorurteilen gibt es Vielfalt in der Pflege. Oder doch nicht?

Sophie Babik & Insa Schindowski

Auch im Alter sollten Menschen frei leben und lieben dürfen | Quelle: Sophie Babik

Ein großes Gebäude, modern und bunt, in Berlin Südkreuz. „Lebensort Vielfalt“ verkündet ein großer rosa Schriftzug an der Fassade. Der Lebensort Vielfalt ist ein inklusiver Wohnkomplex für Pflegebedürftige. Der Fokus – LSBTQIA+-Menschen (lesbische, schwule, bisexuelle, trans*-, queere, intersexuelle und asexuelle Menschen). An einer einladenden Wohnungstür im Gang des zweiten Stockwerks hängt ein kleiner Blumenkranz. Eine ältere Dame in einer weißen Bluse unter einer schicken bunten Weste öffnet mit einem Lächeln im Gesicht die Tür. Das ist Elke. Die Dame an ihrer Seite bittet uns herein – ihre Frau Monika. Die urige kleine Wohnung beinhaltet alles, was sie benötigen. Auf einem großen Regal im Wohnraum steht das Hochzeitsfoto der beiden.

Das Paar fühlt sich hier zu Hause , doch dieses Gefühl von Sicherheit und Akzeptanz haben die beiden nicht immer überall so erleben dürfen. Besonders hart getroffen hat sie die Unsichtbarkeit und Ablehnung, der sie in der Pflege und im Gesundheitswesen begegnen. „Der Arzt, bei dem wir früher waren, der hat uns immer ganz knapp behandelt. Ich hatte das Gefühl, zweite Klasse zu sein“, sagt Monika verärgert und ihre Frau nickt zustimmend. Vor ein paar Monaten musste Elke nach einem heftigen Sturz ins Krankenhaus und auch dort begegneten dem Paar Vorurteile und Ablehnung. Monika erzählt: „Ich habe immer das Gefühl gehabt, wenn ich sage ‚Wir wohnen im Lebensort Vielfalt, dann waren die Krankenhausmitarbeitenden schon eigenartig. Das war teilweise sehr bösartig.“ Einmal habe eine Krankenpflegerin einen Waschlappen nach Elke geworfen, fährt sie fort. Was die beiden berichten, ist kein Einzelfall.

Auch Ilka, eine 61-jährige Seniorin aus dem Umland von Bremen, hat schlechte Erfahrungen in Pflegesituationen machen müssen. Seit 2013 lebt sie öffentlich als Frau und ist inzwischen abgehärtet. „Während meiner Transition musste ich aufgrund anderer gesundheitlicher Umstände öfter ins Krankenhaus und ich hatte ziemlich Angst vor diesen Aufenthalten“, erzählt die Transfrau. Sie wirkt gefasst.

So bezeichnen transgeschlechtliche Personen den Zeitraum, in dem sie sich ihrem empfundenen Geschlecht nähern. Möglicherweise beinhaltet der Übergang den Gebrauch eines neuen Namens, eine Änderung des Kleidungsstils, eine Anpassung des Geschlechtseintrags nach dem Selbstbestimmungsgesetz sowie medizinische Behandlungen (zum Beispiel Hormonbehandlungen oder Operationen). Welche dieser Maßnahmen eine transgeschlechtliche Person anstrebt, umsetzt oder umsetzen kann, variiert.

(Quelle: Regenbogenportal)

Trotzdem gibt es immer noch Situationen, die Ilka aus der Bahn werfen: „Ich habe eine Pflegeperson, die morgens zu mir kommt, seitdem ich Parkinson habe. Bei der Aufnahme bei meinem Pflegedienst habe ich gesagt: Bitte nur weibliche Kolleg:innen schicken. Denn aufgrund der Tatsache, dass ich trans bin, habe ich gewisse Traumatisierungen hinter mir“, erzählt Ilka. „Eines Morgens steht allerdings ein Pfleger in meinem Haus mit einer Kollegin zusammen. Ja, der Kollege solle eingearbeitet werden. Ich meine, wie kann sowas passieren? Wenn ich eine vernünftige Aufnahme mache, sollte sowas ausgeschlossen sein. Ich sollte mich als Pflegeperson mal selbst fragen, ob ich da jedes Personal hinschicken kann.“ Die rothaarige Frau schüttelt den Kopf. „Da war ich echt schockiert“, sagt sie deutlich. Dieses Erlebnis scheint sie noch immer zu belasten. „Ich habe den Pfleger dann freundlich gebeten, im Auto zu warten. Im Laufe des Tages bekam ich einen Anruf von der Leiterin des Pflegedienstes. Ich sei wohl sehr unhöflich gewesen.“

Das Pflegesystem muss auf die Bedürfnisse und individuellen Geschichten aller Menschen eingehen. Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt eingeschlossen. „Das ist absolut ein weißer Fleck, ein blinder Fleck in der Pflege“, sagt Ilka mit fester Miene. Altern betrifft alle. Pflegebedürftigkeit betrifft auf die ein oder andere Weise alle, doch das Pflegesystem übersieht manche Gruppen. Besonders LSBTQIA+-Menschen stehen im Alter vor zusätzlichen Herausforderungen. Viele haben ihr ganzes Leben unter gesellschaftlichen Repressionen und Diskriminierung gelitten. Daher begegnen Menschen wie Ilka, Monika und Elke unterschiedlichen Gesundheitseinrichtungen mit Vorsicht. Die Vorstellung pflegebedürftig zu sein, flößt ihnen regelrecht Angst ein.

Stell dir vor, im Alter musst du deine Identität verleugnen oder deine Lebensgeschichte verstecken, um diskriminierungsfrei gepflegt zu werden. Genau das ist Realität für viele Menschen wie Ilka, Monika und Elke. Laut Queer Pflege gibt es schätzungsweise 310.000 queere Pflegebedürftige in Deutschland und 86 Prozent verschweigen ihren Pflegekräften, dass sie der LSBTQIA+-Gemeinschaft angehören. Das spricht nicht für eine offene, akzeptierende und respektierende Pflegelandschaft in Deutschland. Deswegen gibt es diversitätssensible Pflege. Sie schafft eine Willkommenskultur und fördert Selbstbestimmung und Teilhabe, die besonders im Alter essenziell für ein würdevolles Leben im Alter sind.

Vorurteile betreffen ALLE in der Pflege!

Ilka, die gelernte Krankenpflegerin, berichtet: „Ich bin auch teilweise gemobbt und schikaniert worden auf der Arbeit“. In der Pflege erfahren also nicht nur zu pflegende Personen Missstände, Diskriminierung und Vorurteile. Auch Pflegekräfte machen diese Erfahrungen. In der Podcastfolge „Versteckspiel im Pflegealltag erfährst du mehr über die junge Pflegekraft Frieda (Name von der Redaktion geändert), die seit einem Jahr ausgelernt ist und über ihre Erlebnisse in ihrem beruflichen Alltag spricht.

Warum LSBTQIA+ und eine Regenbogenflagge nicht alles sind

Michaela Werth, freiberufliche Dozentin für Pflegethemen, hat Erfahrung in allen Bereichen der Pflege gesammelt. Über die Besonderheiten, Herausforderungen und Chancen der diversitätssensiblen Pflege weiß sie bestens Bescheid. „Da ich selbst in eingetragener Lebenspartnerschaft lebe, habe ich gedacht: Ja, das könnte durchaus ein Thema sein.“ Felicitas Drubba, Expertin für Pflege und ehemalige Vorständin des Vereines Lesben und Alter e.V., ist ebenfalls schon ihr ganzes Arbeitsleben in verschiedenen Bereichen der Pflege engagiert und hat für die Stadt München vor zehn Jahren an einem Konzept für Diversitätssensibilität in der stationären Pflege mitgewirkt.

Lesben und Alter e.V.

Der Verein Lesben und Alter e.V. setzt sich für lesbische Sichtbarkeit im Alter ein und unterstützt ältere lesbische Frauen in Deutschland. Sie kooperieren eng mit der Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren (BISS), die die Interessen älterer schwuler Männer in Deutschland vertritt.

(Quellen: Lesben und Alter e.V. und Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren)

Beide betonen, dass „LSBTQIA+“ oder „queer“ aus ihrer Sicht nicht inklusiv genug seien, da sich gerade Ältere dadurch nicht immer angesprochen fühlen. Die Begriffe seien zu neu. „Diversitätssensible Pflege nimmt einfach alle in den Blick und die Verschiedenheit der Menschen wahr. Er benennt nicht nur eine Zielgruppe und grenzt damit gleich wieder aus. Divers sind wir alle“, erklärt Felicitas Drubba.

Auf Fachtagen zu diversitätssensibler Pflege geht es darum, Fachwissen über dieses Thema an Pflegekräfte und Ausbilder:innen weiter zu vermitteln und Berührungsängste abzubauen. So auch am 28. Juni 2024 in Kassel. Nach und nach trudeln die Teilnehmenden des Fachtages „Lesbisch, schwul, trans*, inter – in der Pflegeausbildung sicher vermitteln“ in den Konferenzraum ein. Elke Kreß, Leiterin der Hessischen Landesfachstelle LSBT* im Alter, begrüßt die Teilnehmenden.

Hessische Landesfachstelle LSBT* im Alter

Die Landesstelle ist ein Projekt in Kooperation von LIBS – Lesben Informations- und Beratungsstelle e.V. und der AIDS-Hilfe Frankfurt e.V. im Rahmen des Hessischen Aktionsplans für Akzeptanz und Vielfalt (APAV). Sie existiert seit 2020 und unterstützt bei der Durchsetzung der Interessen von LSBTQIA+-Menschen im Alter. Sie organisiert Fachtage und Ausstellungen, wie die Wanderausstellung „Besonders habe ich mich immer gefühlt“, die lesbisches, schwules und trans* Leben älterer Personen aus Hessen sichtbar macht.

(Quelle: Hessische Landesfachstelle LSBT* im Alter)

Auf Tischen liegen allerhand Zettel, Aufkleber und Regenbogen-Buttons. „Bekennen Sie Farbe!“ steht auf den Ansteckern. Es gibt eine breite Auswahl an Broschüren unterschiedlicher Initiativen und Listen mit Fachliteratur. Diese kann im Unterricht der Pflegeausbildung verwendet werden.

Pünktlich beginnt der Fachtag mit einer Rede der 61-jährigen Elke Kreß und der Staatssekretärin Katrin Hechler vom Hessischen Ministerium für Arbeit, Integration, Jugend und Soziales. Was der Ansporn der Einzelnen für die Teilnahme am Fachtag ist, haben wir sechs Teilnehmende persönlich gefragt und so erfahren, was sie für sich und ihre Arbeit mitnehmen:

Nach zwei Vorträgen, welche den Vormittag des Fachtages gestaltet haben, heißt es: Workshop-Phase. Die acht Teilnehmenden des Workshops „Lesbisch und schwul altern als Thema in der Pflegeausbildung“ finden sich in einem kleinen Meetingraum ein. Klaus Müller – Professor für pädagogische Aufgaben in der Pflege, an der Frankfurt University of Applied Sciences – und Felicitas Drubba – Expertin für Pflege und ehemalige Vorständin des Vereines Lesben und Alter e.V. – halten diesen Workshop bereits zum dritten Mal zusammen. Die beiden geben einen kurzen Input zu den Lebensrealitäten von Schwulen und Lesben. „Jede Gruppe hat ganz individuelle Merkmale, die wichtig sind“, betont Müller. Es herrscht eine lockere, angenehme Stimmung zwischen den Teilnehmenden und den Lehrenden. Die Gruppe diskutiert angeregt über unterschiedliche Lebensrealitäten und die historischen Hintergründe für die Diskriminierung von Lesben und Schwulen. „Ich habe mich immer gefragt, was anderen das Recht gibt, über richtig oder falsch zu entscheiden“, sagt ein Teilnehmer ernst. Sie definieren gemeinsam von Klaus Müller vorbereitete Begriffe. Gerade bei historischen Begrifflichkeiten bedarf es weiterer Aufklärung durch Müller und Drubba.

Die Generationen, die momentan und in den kommenden Jahren verstärkt auf Hilfe in ihrem Alltag angewiesen sind oder zu Pflegefällen werden, erlebten eine Zeit, in der Schwul-sein noch unter Strafe stand und verstärkte Diskriminierung während der AIDS-Krise (erworbenes Immunschwächesyndrom) in den 80er Jahren. Einige wurden noch unter dem nationalsozialistischen Regime verfolgt. Das hat Spuren hinterlassen. Manches wurde aufgearbeitet, einiges verdrängt und vieles kommt zurück, wenn sie auf fremde Hilfe angewiesen sind.

Hier eine Auswahl der Begriffe, die auch im Workshop von Müller und Drubba besprochen wurden:

Das nationalsozialistische Regime verfolgte und ermordete schwule Männer. Gekennzeichnet wurden diese in den Konzentrationslagern mit dem sogenannten Rosa Winkel. Das war ein rosa Stoffdreieck, das auf die Häftlingskleidung genäht wurde.

(Quelle: Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora)

Auch lesbische Frauen verfolgte und ermordete das nationalsozialistische Regime und kennzeichnete sie mit dem schwarzen Winkel. Unter den Schwarzen Winkel wurden alle Menschen gefasst, die die Weltsicht des Regimes nicht teilten und als sozial minderwertig eingestuft wurden.Er kennzeichnete sogenannte „Asoziale“, worunter auch Lesben fielen.

(Quelle: Deutschlandfunk)

Auch bekannt als der Schwulenparagraph“. Unter diesem Paragraphen des Strafgesetzbuches war Homosexualität strafbar. Eingeführt wurde der Paragraph im deutschen Kaiserreich und unter den Nationalsozialisten wurde er weiter verschärft. Seitdem konnte bereits der Verdacht auf gleichgeschlechtliche Handlungen zu langen Gefängnisstrafen führen. Erst 1996 wurde §175 StGB abgeschafft. Seit 2017 können die Betroffenen Entschädigungsansprüche geltend machen.

(Quelle: Antidiskriminierungsstelle des Bundes)

Der Paragraph 151 des Strafgesetzbuches der DDR stellte bis 19989 homosexuelle Handlungen unter Strafe, indem er ein höheres Schutzalter für gleichgeschlechtliche Kontakte festlegte als für Heterosexuelle. Er galt sowohl für gleichgeschlechtliche Kontakte zwischen Männern als auch Frauen. Seit 2017 können Betroffene Rehabilitierung und Entschädigung beantragen.

(Quelle: Lesben- und Schwulenverband)

In den 80er Jahren kam es aufgrund der AIDS-Krise erneut zu verstärkter Diskriminierung schwuler Männer. Unzureichende Forschung und unzureichende Aufklärung der Bevölkerung sorgten für Angst. Aufgrund derer kam es zur Stigmatisierung und Ausgrenzung schwuler Männer. Denn unter ihnen breitete sich die Krankheit besonders schnell aus. Politiker forderten zum Teil, dass AIDS-Kranke weggesperrt werden sollten und häufig wurden die Erkrankten allein gelassen und die Behandlung und Pflege verweigert. Erst 1987 wurde die AIDS-Politik menschlicher. Die Stigmatisierung und Ausgrenzung wirkt dennoch bis heute nach.

(Quellen: RKI und SWR)

„Betroffene legen sich aufgrund dieser biografischen Hintergründe einen Schutzmantel zu“, sagt Müller. Doch dieser sei gerade in der intimen Atmosphäre von Pflegesituationen in Gefahr. Im Workshop besprechen die Teilnehmenden Situationen, die LSBTQIA+-Menschen Sorgen bereiten oder diese sogar retraumatisieren könnten. Dies geschieht vor allem, wenn es intim wird, wie zum Beispiel beim Waschen oder Umziehen der Pflegebedürftigen. Die Lehrenden betonen am Ende: „Schulen und Einrichtungen müssen am Thema dranbleiben, sensibilisieren und selbst aktiv werden, damit sich die Situation für LSBTQIA+-Menschen in der Pflege verbessert.“

Wenn Unwissen blockiert

Michaela Werth, selbstständige Referentin für Pflegethemen, erklärt: „Alle ignorieren das Thema oft noch und sind der Meinung: Das interessiert uns nicht“. Diversitätssensible Pflege erreiche im Moment häufig nur die Menschen, die sich sowieso schon damit beschäftigen. „Das ist ein großes Problem“, laut Werth. Das Engagement komme viel aus der LSBTQIA+-Gemeinschaft selbst, wie die freiberufliche Pflegedozentin klarstellt. Auch Ilka, selbst Betroffene und Lehrerin für Pflege, setzt sich dafür ein, dass sich in der Pflege etwas ändert. „Ich habe 2016 Trans*NET OHZ gegründet und bin auch in Bremen in einer Selbsthilfegruppe tätig“, erzählt sie im Interview.

Trans*NET OHZ

Trans*NET OHZ ist ein Netzwerk für Transmenschen im Landkreis Osterholz und Umgebung. Es setzt sich für die Interessen von Transmenschen ein und leitet Selbsthilfegruppen für diese und ihre Angehörigen. Zudem bietet das Netzwerk frei zugängliche Ressourcen für trans*sensible Pflege an.

(Quelle: Trans*NET OHZ)

Ihr Leitmotiv ist vor allem, das Verständnis für die Lebenssituation von Transmenschen zu verbessern. Deswegen hat sie 2017 „12 Basics für trans*sensible Pflege“ entwickelt. Das sind konkrete Maßnahmen für diversitätssensible Pflege in Bezug auf Transmenschen. Diese Basics sind Bestandteil des Nationalen Mustercurriculums Kommunikative Kompetenz in der Pflege. Dabei handelt es sich um einen Bericht, der Praxisbeispiele für Pflegeschulen enthält.

Quelle: Eigene Darstellung nach Ilka Christin Weiß

Seit 2020 ist in ganz Deutschland die Lehre von Maßnahmen diversitätssensibler Pflege in den Lehrplänen für den Ausbildungsberuf zur Pflegefachkraft verankert. Die Umsetzung in der Ausbildung beschreibt Michaela Werth als rudimentär. „Da ist noch mega Luft nach oben. Es bedarf da an Fortbildungen für Lehrer. Wenn sie es unterrichten wollen, dann müssen sie auch eine Schulung haben. Bei allen anderen Themen in der Pflege ist das auch so.“

Daran arbeiten Hannah und Judith Burgmeier in Bremen. Die beiden sind vielfältig.. So heißt der erste ambulante Pflegedienst in Deutschland mit dem inhaltlichen Schwerpunkt auf den Themen Sexualität und geschlechtliche Vielfalt. Sie haben es sich zum Ziel gesetzt, diversitätssensible Pflege mit ihrem Pflegedienst in allen Aspekten zu leben. Dafür haben Hannah und Judith ein dreiteiliges Konzept erstellt: „vielfältig.pflegen“, „vielfältig.lernen“ und „vielfältig.beraten“.

Mit ihrer Säule „vielfältig.lernen“ geben sie ihr Wissen über Diversitätssensibilität an andere weiter. Für die Pflegepraxis ist Hannahs und Judiths Grundsatz: „Alle Menschen sind vielfältig – auch wenn sie pflegebedürftig sind“. Die Säule „vielfältig.pflegen“ fängt schon bei der Aufnahme von Pflegebedürftigen an und fließt dann in alle Pflegesituationen und -handlungen mit ein. Unter „vielfältig.beraten“ verstehen die beiden die Einbindung und Beratung von Angehörigen. Das baut Unwissenheit und Ängste der Angehörigen im Umgang mit LSBTQIA+-Menschen in der Pflege ab.

Ein Lotse im Pflegedschungel

Während der ambulante Pflegedienst die Diversität direkt in der täglichen Pflege umsetzt, gibt es auch Initiativen, die sich auf einer breiteren Ebene für die Bedürfnisse queerer Menschen im Pflegesystem einsetzen. Ein bemerkenswertes Beispiel hierfür ist Andreas Schütz, ein engagierter Pflegeberater aus Berlin. Wir durften ihn nicht nur bei seiner täglichen Arbeit, sondern auch bei seinem Ehrenamt begleiten. Er gründete eine Website, die queeren Menschen hilft, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Pflegeangebote zu finden. Neugierig geworden? Dann schaue dir gerne das Video an.

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Sichtbarkeit als Basis und behutsame Neugierde

Ein wichtiger Punkt, den Expert:innen wie Michaela Werth stets betonen, ist, dass es immer um dasselbe Thema geht: Die Sichtbarkeit. Sie kann die Lebensrealitäten von Minderheiten erfahrbar machen. Ruf Dir kurz selbst in den Kopf, welche Paare in Zeitschriften abgedruckt sind, die in Pflegeheimen ausliegen oder in Arztpraxen. Es gibt vor allem Bilder, auf denen heterosexuelle Paare abgebildet sind. Diese Unsichtbarkeit übersetzt sich in Ungleichheit in der Behandlung. Die Lebensrealität von LSBTQIA+-Menschen wird ignoriert und führt sogar zu gesundheitlichen Risiken. Sie leiden fast dreimal häufiger an Depressionen als die restliche Bevölkerung. Laut Lesben- und Schwulenverband belegen Studien aus unterschiedlichen Ländern zudem ein erhöhtes Suizidrisiko. LSBTQIA+-Menschen leiden laut einer Studie der Universität Bielefeld doppelt so häufig an Herzerkrankungen (zehn Prozent) und Migräne (zwölf Prozent). Auch die Suchtgefahr und das Risiko für psychische Erkrankungen sind deutlich erhöht. Daher sei es besonders wichtig, die zusätzlichen Belastungen für Angehörige sexueller und geschlechtlicher Minderheiten aktiv abzubauen und Ressourcen für die Versorgung aufzubauen. Das fängt bei inklusiver Sprache an und hört beim respektvollen Umgang mit dem Körper einer zu pflegenden Person auf. Ein Tipp von Michaela Werth für Pflegefachkräfte, aber auch für alle Menschen in Hinblick auf den Zugang und Umgang mit LSBTQIA+-Senior:innen: „Eine behutsame Neugierde darf man mitbringen.“

Diversitätssensible Pflege als Chance

Die Umsetzung diversitätssensibler Pflege ist mit Herausforderungen und Veränderungen verbunden, denn sie fängt nicht erst bei der gesundheitlichen Pflege an. Bereits bei der Aufnahme von zu pflegenden Personen, im Fachkontext Anamnese genannt, ist ein sensibler Umgang gefragt. „Die Anamnese ist ein wichtiges Medium für die Profession Pflege“, erklärt Felicitas Drubba. Dabei werden konkrete Fragen gestellt, um die Hintergründe und Bedürfnisse der Pflegebedürftigen zu verstehen. Bei diversitätssensibler Anamnese gehe es darum, die richtigen Fragen zu stellen. Das heißt: Statt nach Ehefrau oder Ehemann zu fragen, lieber zu genderneutralen Bezeichnungen für Beziehungspersonen wie zum Beispiel „Partner:in“ greifen oder bei Fragen nach dem Geschlecht nicht nur von Mann und Frau ausgehen.

Eine andere Herausforderung sind die besonderen Bedürfnisse von Transmenschen. Egal ob es um die langjährige Hormonbehandlung oder die Folgen und Nachsorge von geschlechtsangleichenden Operationen geht: Hier herrscht viel Unwissen unter pflegenden Personen. „Glauben Sie mal nicht, dass irgendeine Pflegekraft schnallen würde, dass es wichtig ist, die Hormone den Pflegebedürftigen weiterzugeben“ macht Werth, freiberufliche Dozentin für Pflegethemen, deutlich.

Bei homosexuellen Menschen sei damit zu rechnen, dass sie aus Angst vor Diskriminierung deutlich seltener zu Vorsorgeuntersuchungen gehen. Eine viel höhere Chance auf Erkrankungen ist die Folge. „Das ist zum Beispiel ein wichtiger Punkt, dass man auch sowas berücksichtigt und sagt: ‚Oh, da muss ich vielleicht ein paar Sachen mehr auf dem Zettel haben, was Erkrankung angeht‘“, so Werth. In Pflegesituationen sollten Pflegekräfte grundsätzlich erfragen, mit welcher Pflegekraft sich die zu pflegende Person wohl oder unwohl fühlt.

Haben die uns verscheißert?

Ohne Vorurteile und Diskriminierung leben: Das können Elke und Monika in Berlin beim Lebensort Vielfalt. „Die Besonderheit ist als allererstes, dass hier keiner die Augen verdreht oder komisch fragt: Was? Ihr zwei Frauen? Das war eben sonst so, in anderen Häusern oder wo wir gewohnt haben“, berichtet Elke „Hier ist das ganz normal. Das klingt banal, aber es ist so. Jeder akzeptiert jeden, egal wie er nun gestrickt ist“. Das Paar sitzt eng beieinander auf dem orangenen Sofa in ihrer Wohnung. Seit einem Jahr wohnen die beiden dort. „Wir haben uns hier gut eingelebt und ich bin sehr froh, dass ich hier ein Zuhause gefunden habe“, erzählt Elke. Als der Brief kam, dass die beiden die Wohnung bekommen war das Paar total überrascht. „Wir haben es nicht geglaubt“, sagt Monika und beide lachen. „Ich habe unseren Betreuer angerufen und gesagt Wissen Sie, Entschuldigung. Ich bin ja nicht bösartig, aber ich glaube, Sie haben uns jetzt verscheißert“, doch es ist kein böser Scherz. Sie beziehen ihr neues Zuhause.

Visionen für eine vielfältige Zukunft der Pflege

Die Stimmen von Expert:innen und Betroffenen vereinen sich zu einem vielschichtigen Bild von Hoffnungen und Erwartungen für eine diversitätssensible Pflege von morgen. Ihre Wünsche zeichnen eine Karte für eine inklusivere und respektvollere Pflegelandschaft.

Letztendlich gehe es in der diversitätssensiblen Pflege darum, jeden Menschen als das einzigartige Individuum zu sehen, das er ist, sagt Expertin Felicitas Drubba. Das sei die große Chance: Pflege für alle besser machen. Und ganz nebenbei gibt es praktische Auswirkungen, die Drubba nennt: zufriedenere Pflegebedürftige, motivierte Mitarbeitende und eine insgesamt bessere Pflegequalität. „Pflegekräfte sollten den zu Pflegenden auf Augenhöhe, mit Empathie und Verständnis begegnen“, so die Expertin für Pflege. Das schaffe ein wertvolles Zusammenleben und eine Atmosphäre, in der sich Menschen sicher und wertgeschätzt fühlen. Mit gegenseitiger Achtung bauen wir eine inklusive Gesellschaft. Am Ende sind wir alle Menschen, verbunden durch den Wunsch nach einem respektvollen und würdevollen Umgang miteinander.

Willkommen in unserem kleinen Glossar, in welchem du hoffentlich für alle dir möglicherweise unbekannten Begriffe eine Definition finden kannst:

Pflegende Person: Eine Pflegende Person ist zum Beispiel eine Pflegefachkraft. Der Begriff inkludiert alle Menschen.

Zu pflegende Person: Eine zu pflegende Person ist eine Person, die gepflegt wird. Der Begriff inkludiert alle Menschen.

Sexuelle Orientierung: Sexuelle Orientierung beschreibt, zu Menschen welchen Geschlechts beziehungsweise welchen Geschlechtern sich eine Person hingezogen fühlt. Diese Anziehung kann emotional, körperlich oder sexuell sein.

Geschlechtsidentität: Die Geschlechtsidentität bezeichnet, mit welchem Geschlecht oder welchen Geschlechtern sich eine Person selbst identifiziert. Diese Identität muss nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmen.

Alle folgenden Begriffe sollen als Selbstbezeichnungen, also von Personen für sich selbst gewählte Benennung, dienen und niemandem als Fremdbezeichnungen aufgedrückt werden.

L = Lesbisch: Als Lesbisch bezeichnen sich vor allem weiblich gelesene Personen. Sie fühlen sich sexuell zu Menschen hingezogen, die ebenfalls weiblich gelesen werden.

S = Schwul: Als Schwul bezeichnen sich vor allem männlich gelesene Personen. Sie fühlen sich sexuell zu Menschen hingezogen, die ebenfalls männlich gelesen werden.

B = Bisexuell: Als Bisexuell bezeichnen sich Personen, die sich sexuell zu Menschen zweier oder mehrerer Geschlechter hingezogen fühlen.

T = trans*: Als Trans* bezeichnen sich Personen, die nicht das Geschlecht sind, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Trans* Personen können sowohl binär als auch nichtbinär sein.

I = Intergeschlechtlich: Als Intergeschlechtlich bezeichnen sich Personen, deren körperliches Geschlecht (beispielsweise die Genitalien oder die Chromosomen) nicht der medizinischen Norm von eindeutig männlich oder weiblich zugeordnet werden kann.

Q = Queer: Der Begriff queer ist ein ehemals negativ für LSBTQIA+-Menschen benutzter Begriff, der zurückgewonnen wurde und heute als positive Selbstbezeichnung dient. Unter anderem für Personen, die in ihrer geschlechtlichen Identität und/oder Sexualität noch unsicher sind oder es vermeiden möchten, sich zu labeln.

A = Asexuell/Aromantisch: Als Asexuell bezeichnen sich Personen, die kein oder sehr wenig sexuelles Interesse an anderen Personen haben. Als Aromantisch bezeichnen sich Personen, die keine oder wenig romantische Anziehung anderen Personen gegenüber empfindet.

Nichtbinär: Als Nichtbinär bezeichnen sich Personen, die weder zu 100 Prozent Frau noch Mann sind. Nonbinärität ist ein Spektrum und kann unterschiedlichste Geschlechtsidentitäten abseits der binären Geschlechter (Mann und Frau) umfassen.

Hinweis: Es handelt sich lediglich um eine Auswahl an Begriffen. Ein ausführlicheres Glossar gibt es hier: Queer Lexikon

Insa Schindowski & Sophie Babik

Uns hat vor allem das deutschlandweite Engagement so vieler großartiger und verschiedener Menschen begeistert, welche die Pflegelandschaft für alle besser machen. Wir freuen uns, dass wir all diesen Menschen und Initiativen eine Plattform bieten dürfen.