Triggerwarnung: In diesem Text geht es unter anderem um das Thema Essstörungen. Wenn dich dieses Thema belastet, überlege dir bitte, ob du den Beitrag lesen möchtest.

Kommst du an das oberste Regal?

Ein gesunder Lebensstil sollte für jeden zugänglich sein – vielen fehlt dafür jedoch die Zeit, das Geld oder das nötige Wissen. Kann überhaupt jeder Mensch, der das möchte, gesund leben?

von Eva Rauch und Franziska Schwarz

Bild: Franziska Schwarz

Polina greift nach einer Packung Linsen. Die Bio-Eigenmarke des Supermarkts ist hier am günstigsten.

Polina zögert. Vor ihr steht das Regal mit den Konservendosen im Supermarkt. In ihrem Korb liegen bereits rote Linsen, ein Bund Karotten und zwei Kilogramm Kartoffeln. Für den Linseneintopf, den sie heute kochen will, fehlt nur noch eine Dose Tomaten. Ihr Blick schweift von oben nach unten über das Regal. In den obersten Reihen stapeln sich Bio-Tomatenstücke und „frische Tomaten aus der Toskana“ für fast zwei Euro pro Dose. Unten, fast auf Kniehöhe, die Dosentomaten der Eigenmarke des Supermarkts für 59 Cent. Ihr Blick wandert hoch und runter. Dann greift sie nach unten. Wie fast immer. Die oberen Dosentomaten scheinen unerreichbar zu bleiben.

„Ich würde gerne öfter Bio kaufen“, sagt sie. „Aber das kann ich mir nicht immer leisten. Meistens nur, wenn es im Angebot ist.“ Polina Logvinova ist 24 Jahre alt und studiert im sechsten Semester Grundschullehramt an der Universität Passau. Parallel arbeitet sie 20 Stunden die Woche in einer Grundschule und pendelt täglich zwischen Zwiesel und Passau. Knapp zwei Stunden dauert eine einfache Fahrt. Uni, Arbeit, Pendeln – und der Versuch, gesund zu leben von nichts weiterem als ihrem Werkstudentengehalt.

Polinas Alltag ist durchgetaktet. Zeit für Sport oder frisch Kochen bleibt selten. Geld für teure Lebensmittel auch nicht. Trotzdem versucht sie, bewusst zu leben. Mit einer kurzen Sportroutine am Morgen und einem Kochplan meistert sie Woche für Woche.

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Ein gesunder Lebensstil – Was gehört wirklich dazu?

„Zu einem gesunden Lebensstil gehören drei Dinge: Bewegung, ausgewogene Ernährung und soziale Einbindung“, sagt Stephanie Hecht, Professorin für Gesundheits- und Trainingswissenschaften an der Technischen Hochschule Deggendorf.

„Es geht nicht nur um Sport oder um perfekte Ernährung. Es geht darum, sich regelmäßig zu bewegen, sich ausgewogen zu ernähren und sozial eingebunden zu sein.“ Doch nicht jeder kann das einfach umsetzen. „Gesund zu leben ist für viele Menschen schwieriger, als es klingt.“ Was das konkret bedeutet, hört ihr im Podcast.

Abbildung: eigene Darstellung. Quelle: WHO, 2018

Ein Blick auf aktuelle Daten zeigt:

„Ein gesunder Lebensstil ist also längst nicht nur eine Frage von Motivation – sondern auch eine Frage der Möglichkeiten“, betont Hecht.

Bewegung: Nicht das Fitnessstudio zählt, sondern der Alltag

Bewegung ist ein zentraler Baustein eines gesunden Lebensstils. Oft wird dabei an schweißtreibendes Training oder an ein teures Fitnessstudio gedacht. „Dabei genügen meistens schon die kleinen Routinen im Alltag“, sagt Hecht. „Allein dreimal zehn Minuten zügig gehen am Tag hat schon einen positiven Effekt.“

Viele Menschen verbringen täglich viele Stunden im Sitzen. Laut dem Zava-Lifestyle-Report aus dem Jahr 2022 sitzen Erwachsene in Deutschland durchschnittlich achteinhalb Stunden jeden Tag. Besonders macht sich hier ein Trend bei den jüngeren Generationen bemerkbar: Pro Werktag sitzen junge Erwachsene mittlerweile bis zu zehneinhalb Stunden.

Polina kennt das: „Ich sitze im Zug, in der Uni, bei der Arbeit – am Ende des Tages habe ich kaum Energie für Bewegung.“ Was ihr hilft: kleine Wege bewusst nutzen. Öfter die Treppe nehmen, zu Fuß einkaufen oder zum nächsten Termin gehen, anstatt das Auto zu benutzen.

Die Ernährungspyramide des Bundeszentrums für Ernährung gibt Orientierung für den täglichen Speiseplan.

Abbildung: eigene Darstellung. Quelle: BZfE, 2024

Ernährung: Zwischen Ideal und Alltag

Auch beim Essen klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander. Das Bundeszentrum für Ernährung empfiehlt, sich beim Einkauf an der Lebensmittelpyramide zu orientieren: Sie ordnet Lebensmittel in acht Gruppen auf sechs Ebenen und zeigt mit Ampelfarben, wovon reichlich, mäßig oder nur wenig verzehrt werden sollte.

Die Verbraucherzentrale empfiehlt, sich für Obst und Gemüse zu entscheiden, das saisonal und regional erhältlich ist, weil das oft günstiger ist. Verbraucherschützer raten auch dazu, abends einkaufen zu gehen, da einige Lebensmittel dann im Angebot sind. Polinas voller Terminkalender macht es ihr meist unmöglich, diese Tipps umzusetzen.

Einkaufsgewohnheiten im Vergleich: Wie machen es die anderen?

„Orthorexie“ – die stille Gefahr

Wie in vielen Lebensbereichen gilt auch bezogen auf Ernährung das sogenannte Pareto-Prinzip – auch bekannt als die 80-20-Regel. Solange sich ein Mensch zu 80 Prozent gesund ernährt und nährstoffreiche Lebensmittel isst, kann man sich in den übrigen 20 Prozent auch genussvolle Ausnahmen gönnen. Das wird jedoch ab und zu vergessen. Dabei kann auch der Druck, sich „gesund“ zu ernähren, krank machen. Das trifft auf junge Menschen mit wenig Einkommen zu. „Orthorexie – der zwanghafte Drang, sich rein und gesund zu ernähren – tritt zunehmend auch bei Studierenden auf“, warnt Hecht.

Durch die sozialen Medien sei auch das Health-Maxing zum Trend geworden: Es bezeichnet den aus Onlineforen stammenden Trend, die eigene körperliche und psychische Gesundheit mithilfe von Ernährung, Sport, Schlaf und Supplements maximal zu verbessern – meist mit dem Ziel, attraktiver, leistungsfähiger oder gesellschaftlich erfolgreicher zu werden.

Der Alltag der Influencer wird zum Vorbild, das Maximum das Ziel. „Dadurch entsteht am Ende wieder etwas Ungesundes“, sagt Hecht. „Man weiß ja nie, was hinter den Instagram-Bildern steckt.“

Auch Polina war von Essstörungen betroffen. Schon im Grundschulalter verglich sie sich mit anderen, wollte schlank bleiben und dazu gehören. „Mittlerweile habe ich mein Essverhalten wieder gut im Griff“, sagt sie. „Die Gedanken tauchen zwar schon ab und zu wieder auf, aber heute weiß ich, dass nur eine ausgewogene Ernährung mir die nötige Energie für meinen Alltag gibt.“

Grundprinzipien für einen ausgewogenen Essensplan

Nach Empfehlungen von Ernährungsberaterin Dr. Gülin Tunali
  1. Vielfalt auf den Teller: Esst bunt! Unterschiedliche Farben bedeuten unterschiedliche Nährstoffe. Kombiniert Gemüse, Obst, Vollkornprodukte, Hülsenfrüchte, Milchprodukte, gesunde Fette und gelegentlich Fisch oder Fleisch.
  2. Die Ernährungspyramide nutzen
  3. Regelmäßige Mahlzeiten: Plant drei Hauptmahlzeiten und 1-2 kleine Snacks ein, um Heißhunger zu vermeiden.
  4. Saisonale und regionale Lebensmittel: Sie sind günstiger, frischer und oft nährstoffreicher.
  5. Vorkochen planen: Vorkochen hilft, Zeit und Geld zu sparen und bewusster zu essen.
  6. Plant Snacks ein: z.B. Obst, Nüsse, Naturjoghurt, Gemüsesticks mit Hummus.
  7. Erstellt eine Einkaufsliste und achtet auf Angebote im Supermarkt: So vermeidet ihr spontane Käufe und spart Geld.

Dr. Tunalis Tipps für gesundes und günstiges Essen

  1. Einfach, aber nährstoffreich kochen: Haferflocken, Linsen, Reis, Eier, Tiefkühlgemüse, saisonales Obst. Ihr braucht keine Superfoods – Basics reichen völlig.
  1. Essen vorbereiten spart Zeit und Geld: Kocht größere Portionen am Wochenende oder abends vor und nehmt sie mit zur Arbeit. So vermeidet ihr teures und oft ungesundes Essen unterwegs.
  1. Wasser statt Softdrinks oder Säfte: Klingt banal, aber spart Kalorien, Zucker und Geld. Ein Spritzer Zitrone oder Minze kann euer Wasser aufpeppen.

Wissen hilft – wenn man Zugang dazu hat

„Gesundheitskompetenz ist in Deutschland ungleich verteilt“, erklärt Gesundheitswissenschaftlerin Stephanie Hecht. Menschen mit einem höheren Bildungsabschluss hätten oft mehr Wissen über Ernährung, Bewegung und Stressbewältigung. „Wer wenig Zugang zu Bildung hat, lebt häufiger ungesünder – nicht, weil er es will, sondern weil ihm das nötige Wissen fehlt.“

Auch das Wohnumfeld spielt eine Rolle: „In Großstädten fehlen zum Beispiel oft die Parkmöglichkeiten, Parks oder Radwege. Allein bei so etwas merkt man auch die Ungleichheiten beim Zugang zu einem gesunden Lebensstil“, sagt Hecht.

Dabei könnten einfache Informationen viel bewirken – vorausgesetzt, sie sind verständlich. Hecht baut deshalb auf mehr Gesundheitsbildung in Schulen, mehr Aufklärungskampagnen und ein stärkeres Netz aus Institutionen: „Gesundheit darf nicht dem Zufall überlassen werden.“

Soziale Kontakte machen gesund

Ein gesunder Lebensstil besteht nicht nur aus Bewegung und Ernährung. Auch die soziale Komponente spielt eine große Rolle. „Einsamkeit ist ein Risikofaktor für viele Erkrankungen“, sagt Hecht. „Schon ein guter Freund im Leben reicht, um auch wirklich gesund zu bleiben.“

Hier zeigt sich soziale Ungleichheit: Wer wenig Zeit, viele Verpflichtungen oder finanzielle Sorgen hat, hat weniger Möglichkeiten, Freundschaften zu pflegen oder sich gesellschaftlich zu engagieren.

„Was macht dich glücklich?“

Am Ende des Tages steht ein dampfender Linseneintopf auf Polinas Tisch – gekocht aus roten Linsen, Karotten, Kartoffeln und einer Dose Tomaten für 59 Cent. Kein „Superfood“, kein Trendgericht, aber gesund und günstig. Polina versucht weiter, Tag für Tag, Balance zu halten – sie möchte auf ihre Gesundheit achten und trotzdem nicht zu streng mit sich selbst sein. Auch wenn es als Studentin schwierig sein kann, bemüht sie sich, vorzukochen und ausreichend Bewegung in ihren Alltag zu integrieren.

In den sozialen Medien kursiert weiter das Ideal vom „perfekten“ Alltag: grüne Smoothies, Joggingrunden vor dem Sonnenaufgang, Meal-Prepping im stylischen Glas. Doch dieser Lebensstil ist eine Illusion, die wenig mit einem realistischen Alltag zu tun hat. Hecht findet:

„Leben bedeutet nicht, alles maximal schön, maximal gesund oder maximal richtig zu machen. Am Ende muss es einem selbst dabei gut gehen.“

Stephanie Hecht

Auf die Frage, was letztendlich einen gesunden Lebensstil ausmacht und ob er ein Privileg ist, hat die Gesundheitswissenschaftlerin eine klare Antwort: Nicht das Maximum und das Einhalten eines „idealen“ Gesundheitsplans ist entscheidend. Vielmehr müsse man sich fragen: „Was macht mich überhaupt glücklich?“

Gesund und günstig: Polinas Linseneintopf

Zutaten (Mengenangaben nach Gefühl):

  • Rote Linsen
  • Kartoffeln
  • Karotten
  • 1 Zwiebel
  • 1 Knoblauch
  • 1 Dose Tomatenstücke
  • Rapsöl zum Anbraten

Zubereitung:

  1. Kartoffeln schälen und würfeln
  2. Karotten schälen und würfeln oder in Scheiben schneiden
  3. Knoblauch schälen und pressen
  4. Eine Zwiebel schälen und fein würfeln
  5. In einem großen Topf Öl erhitzen
  6. Die Zwiebelwürfel darin glasig anbraten
  7. Die Kartoffeln, Karotten und Knoblauch zufügen
  8. Rote Linsen (eine Hand voll) in den Topf geben
  9. Dosentomaten und ggf. ein Schluck Wasser hinzugeben und mit geschlossenem Deckel für 20 Minuten zum Kochen bringen
  10. Linseneintopf würzen: Salt, Pfeffer, Oregano, Petersilie, Paprikapulver und ggf. Zitronensaft

Guten Appetit!

Eva Rauch & Franziska Schwarz

Polinas Beispiel hat uns gezeigt, dass bei einem gesunden Lifestyle auch die mentale Gesundheit nicht zu kurz kommen darf. Essen soll nicht nur Nährstoffe liefern, sondern auch gut schmecken und glücklich machen!