Schweigen ist Silber, Reden ist Gold

Tag für Tag spenden Telefonseelsorger und Telefonseelsorgerinnen unzähligen fremden Menschen Hoffnung. Doch wie schaffen sie es, diese dabei selbst nicht zu verlieren?

„Lieber Gott, hilf“, sagt sie zu sich selbst, wartet noch einen Augenblick, in dem sie sich angedeutet bekreuzigt und nimmt dann den klingelnden Hörer ab. „Telefonseelsorge Passau“, ist der erste Satz, den Theresa Müller an den unbekannten Anrufenden richtet. Mehr nicht, die Menschen sollen von sich aus erzählen, was sie bedrückt. Theresa Müller heißt eigentlich anders, ihr echter Name darf aus Anonymitätsgründen nicht genannt werden. Die 63-Jährige ist gelernte Bürokauffrau und arbeitet bereits seit mehr als 20 Jahren ehrenamtlich für die Telefonseelsorge. Sie ist eine herzliche Frau, die viel lacht und offen in leichtem Niederbayrisch über sich und die vielen Anrufenden der Telefonseelsorge spricht. Der große Schreibtisch, vor dem sie sitzt, ist ordentlich und ohne persönliche Gegenstände: ein Computerbildschirm, zwei schmucklose schwarze Schnurtelefone, ein blaues Büchlein mit Bibelpsalmen. Jeden Monat verbringt sie dort zwei Tagesdienste und einen Nachtdienst und lauscht den Problemen und Schicksalen fremder Menschen.

Definition: Die Telefonseelsorge ist eine vorwiegend ehrenamtlich betriebene Hilfseinrichtung zur telefonischen Beratung von Menschen mit Sorgen, Nöten und Krisen, die in vielen Ländern besteht. Sie dient als Krisendienst unmittelbar der Suizidprävention und ist in den meisten Ländern rund um die Uhr erreichbar. Über das telefonische Angebot hinaus bietet sie in vielen Ländern zusätzlich ein Beratungsangebot per Mail oder Chat an. Erstmals entstand die Idee einer Telefonseelsorge 1892 in protestantischen Pfarrhäusern in New York.

Anfänge in Westdeutschland: Oktober 1956: Mit der Freischaltung der Nummer der „Lebensmüdenbetreuung“ durch eine private Initiative in Westberlin begann die Arbeit der Telefonseelsorge in Deutschland. Bald darauf folgten Angebote der evangelischen und katholischen Kirchen in Kassel, Frankfurt am Main und weiteren Städten. Ab 1965 gibt es ökumenische Angebote.

Beginn in der DDR: Die erste Telefonseelsorge in der DDR arbeitet seit 1986 in Dresden. Sie arbeitet heute im Verbund mit Seelsorgestellen in Potsdam, Frankfurt (Oder) und Cottbus. Träger sind das Erzbistum, die Evangelische Kirche, evangelisch-freikirchliche Gemeinden, die Caritas und die Diakonie.

Für alle Menschen: Das Angebot richtet sich an alle Menschen, Gläubige wie Konfessionslose und Atheisten. Es gibt darüber hinaus ein Coronaseelsorgetelefon, ein Kinder- und Jugendtelefon, eine jüdische Telefonseelsorge in russischer Sprache und ein mehrsprachiges muslimisches Seelsorgetelefon, dazu eine Onlineberatung. Deutschlandweit sind mehr als 7.500 geschulte Ehrenamtliche in 104 Städten oder Regionen in der Telefonseelsorge tätig, die 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr Anrufe entgegennehmen.

Die Nummer: Die Telefonseelsorge ist deutschlandweit unter den Rufnummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 rund um die Uhr zu erreichen. Die Kosten trägt die Deutsche Telekom.

Theresa Müller Ⓒ Privat

„Ich habe versucht, mir das Leben zu nehmen“

Sie selbst ist 1998 durch eine Anzeige in der Zeitung zur Telefonseelsorge gekommen, erzählt Müller und blickt über die Schulter in den angrenzenden Garten des Maristenkloster. Sie suchte zu dieser Zeit eine Veränderung, eine neue Tätigkeit. Diese Veränderung hat ihr vielleicht das Leben gerettet, denn Theresa Müller war damals selbst schwer depressiv und alkoholabhängig. „Ich habe versucht, mir das Leben zu nehmen“, erinnert sie sich. „Ich dachte mir, entweder bringe ich mich jetzt um oder ich ändere mein Leben.“ Was sie dann auch tat. Sie ging zur Therapie, machte

die Ausbildung zur Telefonseelsorgerin. Selbst bei der Telefonseelsorge anzurufen, hat sie während ihrer Krankheit nie in Erwägung gezogen. Erst später sei sie schließlich bereit gewesen, auch diese Hilfe anzunehmen. Inzwischen ist Müller trockene Alkoholikerin und versucht, Menschen zu helfen, die ähnliches durchleben wie sie einst. Ob sie das mit vielen Anrufern verbindet? „Schlussendlich geht jeder einen anderen Weg“, sagt sie. Für das Verständnis der Probleme anderer Menschen spielt ihre eigene Vergangenheit aber dennoch eine große Rolle. „Ich weiß, was Sucht ist und ich weiß, wie man aus der Sucht wieder herauskommt“, erklärt Müller. Für die meisten keine einfache Aufgabe. Leugnen und Schönreden sind ihr vertraute Muster, doch aufgrund ihrer Erfahrung könne man sie „nicht so leicht hinters Licht führen.“ Sie erkennt einiges, was die Anrufer vielleicht selbst noch nicht über sich wissen. So haben ihre Gesprächspartner die Möglichkeit, mit offenen Karten zu spielen. Das Ergebnis: Viele tiefe Gespräche, die auch oft eine für sie wohltuende und therapierende Wirkung entfalten.

Dennoch gehen viele der Anrufe unter die Haut, mentale und auch körperliche Anstrengung gehören in jeder Schicht dazu. Neben Einsamkeit, sozialer Ausgrenzung und verschiedensten Ängsten sind auch unheilbare Krankheiten, Sucht und Suizidgedanken häufig angesprochene Themen. „Das Leben ist oft sehr grausam“, sagt Müller, doch an ihrem eigenen dürfen die Schicksale fremder Menschen sie nicht hindern. Um ihr und den rund 85 anderen Ehrenämtlern der Telefonseelsorge Passau zu helfen, die Geschichten der Anrufer zu verarbeiten und eine übermäßige emotionale Belastung zu verhindern, werden von den vier hauptamtlichen Mitarbeitenden Hintergrunddienste und verpflichtende Supervisionsgruppen angeboten.

Der Arbeitsalltag der Telefonseelsorge

Wie die Arbeit von Theresa Müller genau abläuft, wie es in der Telefonseelsorge aussieht und was das Besondere an dem Ehrenamt ist, erfahrt ihr in diesem Video:

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Fürsorge und Professionalität

Maria Gillhofer ist eine der vier Hauptamtlichen der Telefonseelsorge Passau. Was sie von Theresa Müller unterscheidet, ist ihre sozialpädagogische Ausbildung. Hat sie Hintergrunddienst, muss sie rund um die Uhr für die Ehrenamtlichen erreichbar sein. Falls ihnen ein Telefonat einmal zu nahe geht, können diese dann unmittelbar über das Gehörte sprechen. „Das passiert ungefähr zweimal im Monat“, erzählt Gillhofer. Dabei ginge es neben technischen Problemen vor allem um schwerwiegende Themen wie Suizid oder Straftaten. In den monatlichen Supervisionsgruppen tauschen sich mehrere Ehrenamtliche begleitet von den Hauptamtlichen über ihre Gespräche aus. Ein kollegialer Austausch ohne Bewertung. Es geht darum, wie man konkret mit dem Gehörten umgeht und was man mit nach Hause nimmt. „Das gehört zu unseren Qualitätsstandards“, sagt Gillhofer. „Wir wollen nicht, dass jemand

nach einer Schicht zuhause in Tränen ausbricht.“ Weder Müller noch Gillhofer können von Kollegen erzählen, die ihr Ehrenamt aufgrund der emotionalen Belastung niedergelegt haben. „Wenn sich die Lebensumstände ändern und man nicht mehr die nötige Stabilität hat, dann kann es dennoch mal passieren, dass jemand aufhört“, gibt Müller zu. Doch die Fürsorge der Hauptamtlichen sei so gut, dass man jederzeit ein offenes Ohr finden könne. Auch für persönliche Lebenskrisen.

Maria Gillhofer Ⓒ Privat

Bevor Theresa Müller eine Schicht beginnt, geht sie den Weg zur Telefonseelsorge gerne zu Fuß. „Da bekomme ich den Kopf frei“, erklärt sie. Bereitet sie sich sonst besonders vor? Nein. Ist sie aufgeregt? Nicht mehr. Allerdings gehört selbstredend einiges an Vorbereitung dazu. Jeder Ehrenamtliche muss eine zeitintensive einjährige Ausbildung durchlaufen. Diese dreht sich in erster Linie um sie selbst, denn erst müssen sie lernen, mit sich selbst klarzukommen. Diese Selbsterfahrung, sagt Gillhofer, ist eine der „zwei Säulen“ der Ausbildung und dient vor allem der Persönlichkeitsentwicklung. Die Auszubildenden müssen erfahren, mit welchen Themen sie konfrontiert werden können und wie sie darauf reagieren. „Je klarer ich mir selbst über meine blinden Flecken bin, umso besser kann ich dann auch reagieren“, erklärt die Sozialpädagogin. „Es ist wichtig, zu wissen, was mich selbst aus der Fassung bringen kann.“

Die zweite Säule der Ausbildung ist die personenzentrierte Gesprächsführung – das „Haupthandwerkszeug“. Hier lernen die Auszubildenden Gespräche nach den Grundhaltungen Empathie, Wertschätzung und Echtheit zu führen und zu lenken. Doch nicht jeder ist für die Arbeit als Telefonseelsorger geeignet. Nur ein Viertel bis die Hälfte der Interessenten beendet die Ausbildung. „Es kam auch schon vor, dass jemand die Ausbildung vor dem letzten Abend abgebrochen hat. Das passiert eben und ist dann auch richtig so“, erzählt Gillhofer. Bei der Auswahl und Ausbildung der Mitarbeitenden geht es also vor allem um persönliche Qualitäten und Potenziale. Die Seelsorger und Seelsorgerinnen brauchen Einfühlungsvermögen und gleichzeitig inneren Abstand, Geduld und gleichzeitig Struktur und Klarheit. Ein schmaler Grat, der viel Professionalität erfordert.

Am anderen Ende des Hörers

Aus Gründen der Anonymität, einer der wichtigsten Grundsätze der Telefonseelsorge, darf Theresa Müller nicht im Detail über die Menschen sprechen, denen sie in jeder Schicht zuhört. Sie selbst sieht keine Telefonnummern, weiß nicht einmal, aus welcher Region sie anrufen. Gerne erinnert sie sich aber an eine stark suizidale junge Frau, mit der sie während einer Nachtschicht mehrmals sprach. „Ich habe sie zumindest durch die Nacht gebracht“, erzählt Müller. Was nach den Gesprächen aus den Anrufern wird, kann sie nicht wissen. Auch das belastet, doch als Telefonseelsorger lernt man, damit umzugehen. „Es interessiert mich nicht“, erklärt sie. „Am Ende muss jeder sein Leben selbst leben.“ Ab und zu holen die Anrufenden sie jedoch trotzdem nochmal ein. Eine Frau rief in der Schicht einer anderen Kollegin an und bedankte sich für die Gespräche. Diese seien ein kleiner Hoffnungsschimmer für sie gewesen.

Theresa Müller darf nicht im Detail über ihre geführten Gespräche sprechen. Die Telefonseelsorge Würzburg veröffentlichte im Rahmen eines wissenschaftlichen Beitrags drei Notizen von Telefonseelsorgern. Das sind die Geschichten der Anrufenden:

Trigger-Warnung: In den Notizen geht es unter anderem um Suizid und Vergewaltigung. Falls du in deiner Vergangenheit Erfahrungen mit diesen Themen gemacht hast, dann höre sie dir nicht allein an oder überspringe sie.

Quelle: https://www.thieme-connect.de/products/ejournals/html/10.1055/a-0968-2444

Nach den meisten Telefonaten bleiben aber lediglich Müllers Notizen. Aus ihren Mitschriften und denen der 103 anderen Telefonseelsorgestellen in Deutschland geht jedes Jahr die Statistik der Telefonseelsorge hervor, die versucht, die Demografie der Anrufenden so genau wie möglich zu skizzieren. In der Statistik von 2021 wird deutlich, dass fast drei Viertel weiblich sind. Die Altersgruppe der 50- bis 69-Jährigen ist dabei am stärksten vertreten, während nur sehr wenige junge Menschen das Angebot der Telefonseelsorge nutzen. Diese nehmen wiederum vermehrt die Chat- und Mail-Angebote in Anspruch. Der Grund für die Anrufe ist meist Einsamkeit, oft hervorgerufen durch depressive Stimmungen. Auch mit akuter Suizidalität hat Müller in ihren Schichten häufig zu tun. Etwa bei der Hälfte der Anrufenden seien Suizidgedanken zumindest vorhanden. Akut heißt dabei allerdings nicht zwingend, „dass jemand mit einer Pille und einem Glas Wasser in der Hand anruft“, wie Müller es ausdrückt.

Doch auch das kommt vor. In diesen Extremsituationen ist kein Platz für Gedanken, für Strategien, da „spürt“ Theresa Müller nur. „Ich handle dann nicht nach irgendeinem Schema, sondern nur nach Gefühl“, sagt sie. Ehrlichkeit und Verständnis ohne Urteil, das ist worauf es ankommt. Platte Sprüche wie „das wird schon wieder“ oder „die Zeit heilt alle Wunden“ sind hier fehl am Platz. Vielen Anrufenden sei auch wichtig, gesagt zu bekommen: „Sie haben Recht: Ihre Situation ist schlimm“, erklärt Müller. Aufgrund der Anonymität stößt die Telefonseelsorge allerdings gerade in Situationen, in denen akute Hilfe benötigt wird, an ihre Grenzen. „Ich kann nur zuhören“, gibt sie zu bedenken, „mehr maße ich mir auch nicht an.“ Für alles, was darüber hinaus geht, gibt es die Nummer des Krisendienstes. Dieser ist 24 Stunden erreichbar und mit Fachleuten besetzt, die auch die Möglichkeit haben, Hausbesuche zu machen – allerdings nur einmalig, bei besonders akuten Fällen. Sie sind im Umgang mit seelischen Krisen geschult und arbeiten multiprofessionell. Das heißt, sie bündeln Fachwissen aus verschiedenen Bereichen der Psychologie und Psychiatrie. Welche weiteren Angebote der Suizidprävention es in Deutschland gibt, erfahrt ihr im Podcast.

Die Telefonseelsorge gehört zu den niedrigschwelligen Angeboten der Suizidprävention. Darüber, welche weiteren Angebote es gibt, wie die Suizidprävention in Deutschland sonst geregelt ist und was es mit der seit Jahren sinkenden Suizidrate auf sich hat, habe ich mit Dr. Ute Lewitzka, Vorstandsvorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention, gesprochen.

Problem Glaube?

Beim Verlassen der Räume der Telefonseelsorge fällt wieder die enge Verknüpfung zur Kirche auf. Kreuze schmücken die hellen Räume, im Treppenhaus wird man von einem Bild des Papstes begrüßt und verabschiedet. Ist die konfessionelle Struktur der Telefonseelsorge ein Problem? „Für die meisten Menschen sicherlich nicht“, sagt Ute Lewitzka, Vorstandsvorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Wegen ablehnender Gedanken

Ute Lewitzka Ⓒ Privat

gegenüber der Kirche sei es aber ein Grund für manche Menschen in Not, dieses Angebot nicht zu nutzen. Hier brauche es bessere Aufklärung, dass die Telefonseelsorge nicht an die „religiöse Gebundenheit“ adressiert ist und nicht versucht wird, Menschen für die Kirche zu gewinnen. Theresa Müller selbst ist katholisch und doch spielt es auch für sie keine Rolle, welcher Konfession die Anrufer angehören. Sie ist aber der Meinung, dass die Hoffnung, die vielen Anrufenden fehlt, im Glauben wiederzufinden ist: „Es ist egal ob Gott, Allah oder irgendein Naturgeist, Hoffnung hat viel mit Glauben zu tun.“ Vor allem bei sehr verzweifelten Menschen versucht sie, das Gespräch durch Nachfragen auf einen Rückhalt, auf das was im Hintergrund steht, zu lenken: „Gibt es irgendetwas, woran du dich festhalten kannst?“, fragt sie dann. Finden die Anrufenden auf diese Frage eine Antwort, dann seien sie – zumindest für den Augenblick – viel leichter positiv zu stimmen. Diesen einen Funken Hoffnung in den Menschen zu erwecken ist es, was sie in jedem Gespräch zu erreichen versucht.

Hinweis der Telefonseelsorge:

“Wenn Sie sich mit dem Gedanken der Selbsttötung tragen, sprechen Sie mit der TelefonSeelsorge. Telefonisch unter 0800/1110111 oder 0800/1110222, per Mail oder Chat unter https://online.telefonseelsorge.de.

Hilfe bei depressiven Gefühlen und Suizidgedanken bietet auch der KrisenKompass der TelefonSeelsorge: Kostenlos zum Download im App Store und im Play Store.“