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Seligkeit und Sexarbeit

Mathias (23) entschließt sich nach dem Abi, Priester zu werden. Melli (25) arbeitet als Erotikmodel. Müssen sich die beiden dafür rechtfertigen? Und wieso haben wir überhaupt Vorurteile gegenüber Berufen?

Leontien Heidemann & Samuel Hüttenberger

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Quelle: Pixabay

An einem kleinen See in der Nähe von Regensburg läuft Melli (Anm.: Name geändert) selbstbewusst auf eine Kamera zu. Sie trägt schwarze Latex-Dessous und einen kurzen Rock.

„Sehr schön. Und gleich nochmal“, ruft ihr der Mann hinter der Kamera Regieanweisungen zu. Ein zweiter Mann schießt Fotos.

Es sind über 30 Grad an diesem heißen Sommertag und viele Spaziergänger:innen sind unterwegs. Melli zieht durch ihr Outfit die Blicke auf sich. Einige schauen nur kurz hin und wenden den Blick direkt wieder ab, andere starren sie förmlich an. Eine ältere Dame mit Sonnenhut und Rollator setzt sich auf eine Bank, mit Blick auf die Szenerie. Wegschauen kann auch sie nicht. Dass Melli als Erotikmodel in der Öffentlichkeit komisch angeschaut wird, ist für sie Alltag.

Mathias hat sich heute morgen extra schick gemacht. Im weißen Hemd kommt er vor dem Passauer Dom an und stellt sich zu den rund 100 Menschen, die sich feierlich gekleidet vor den Kirchentüren versammelt haben und darauf warten, dass es endlich losgeht. Heute wird ein neuer Priester geweiht. In zwei Jahren ist Mathias auch an der Reihe. Dieses Mal ist er noch als Ministrant dabei. Seine lange Kutte liegt frisch gebügelt über seinem Arm.

Unter den Gästen sind zahlreiche Priester. Mit ihren festlichen Gewändern ziehen sie die Blicke der Touristen auf sich. Ein paar machen Fotos. Die kirchliche Tracht zieht unweigerlich die Blicke auf sich.

Auch wenn Melli und Mathias nicht viel gemeinsam haben, sobald sie sich in ihrer „Arbeitskleidung” in der Öffentlichkeit zeigen, fallen sie auf. Beide kennen es nur zu gut, dass ihnen die Menschen anders gegenübertreten, sobald sie erkennen, was sie beruflich machen. Aber woran liegt das? Warum haben Menschen Vorurteile gegenüber bestimmten Berufsgruppen? Wie geht Melli als Erotik-Darstellerin damit um? Wie erlebt Mathias das als Priester? Und wieso haben sich die beiden trotz aller Vorurteile für ihre Berufe entschieden?

Hans-Peter Erb ist Professor für Sozialpsychologie an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg. Erb, forscht unter anderem zum Thema Urteilsbildung. Er kann also gut erklären was ein Vorurteil ist:

„Ein Vorurteil ist eine Einstellung gegenüber einer Person oder einer Gruppe von Personen, die rein darauf beruht, dass diese Person einer bestimmten Gruppe zugehört“, erklärt Hans-Peter Erb.

Dabei müssen Vorurteile gar nicht unbedingt negativ sein. „Einem Professor wie mir würde man zum Beispiel hohe Kompetenz zuschreiben“, bemerkt er. Die Charaktereigenschaften der Personen spielen also plötzlich keine Rolle mehr, wenn wir Vorurteile haben.

 

Priesterseminar statt Chemiestudium

In Regensburg steht ein altes Kloster. Es hat seine Ursprünge im 11. Jahrhundert. Heute wohnen hier junge Männer, die sich dazu entschlossen haben, Priester zu werden. Priesterseminar nennt man das. Einer von ihnen ist Mathias Eder, er trägt Hemd und Jeans, hat eine blonde Scheitelfrisur und einen niederbayerischen Dialekt. Er ist mit seinen 23 Jahren der erfahrenste Seminarist hier. Senior nennen sie ihn. Er hat sich direkt nach seinem Abitur dazu entschlossen, ins Priesterseminar einzutreten. In zwei Jahren soll er geweiht werden – „wenn alles gut geht”, wie er immer wieder betont. Schon mit 18 hat er die Entscheidung getroffen, dass er sein ganzes Leben lang der Kirche dienen will, mit allem was dazugehört.

Mathias wurde katholisch erzogen, mit 14 prophezeit ihm sein Gemeindepfarrer, dass er dessen Nachfolger wird. Trotzdem tut Mathias das immer wieder ab: „Das wird man doch heute nicht mehr”, und gesteht: „Die Vorstellung war für mich irgendwie surreal.“ Auf dem Gymnasium interessiert er sich vor allem für Naturwissenschaften. In der 11. Klasse hat er auch noch die „ein oder andere Sommerromanze”. Doch als es in der 12. Klasse dann darum geht, sich für einen Beruf zu entscheiden, wird die Idee, ins Priesterseminar einzutreten, immer konkreter. Er lässt die Bewerbungsfrist für ein Chemiestudium, sein ursprünglicher Plan, bewusst verstreichen und geht zum Schnuppern ins Priesterseminar.

Mathias im Priesterseminar | Foto: Heidemann

Auch Missbrauchsskandale sind damals schon in aller Munde: „Sich trotz des gesellschaftlichen Gegenwindes dazu zu entscheiden, nun eine Gemeinschaft zu verkörpern, die nicht unbedingt den besten Ruf in der Gesellschaft genießt, da ist auch ein Stück Hemmnis dabei”, erzählt er. Die Vorurteile, die es über seinen zukünftigen Beruf gibt, sind ihm von Anfang an bewusst.

Erst Marketing, jetzt Pornostar

Melli am Set | Foto: Hüttenberger

Am Rande von Regensburg steht ein neues Hotel. In einem der modernen Zimmer mit dem riesigen Bett in der Mitte wird heute ein Porno gedreht. Melli sitzt auf einem der Sessel vor der großen Fensterfront. Sie trägt eine enge, schwarze Hose, ein gestreiftes, dunkelgraues Hemd und eine Brille. Ihre langen, schwarzen Haare fallen wie frisch gestylt über ihre Schultern. Hier wird sie „Goddess Venom” genannt. Melli ist erst seit einem halben Jahr hauptberuflich Erotik-Model und Pornodarstellerin. Irgendwie hat sie die Szene immer schon gereizt. Aber trotzdem hat sie über mehrere Umwege erstmal eine klassische Ausbildung angefangen – zur Gestalterin für visuelles Marketing.

Das hatte ihr ohnehin immer schon Spaß gemacht. Aber dann kamen zum Ausbildungsstress noch Probleme in ihrer damaligen Beziehung dazu. Sie muss ihre Ausbildung abbrechen. Die Diagnose: Burn-out. Und ihr wird klar, dass sie sich im klassischen Berufsleben einfach nicht wiederfindet: „Es macht mich einfach kaputt, jeden Tag das Gleiche zu machen. Entweder man ist überfordert oder unterfordert. Aber glücklich macht es mich nicht.” Nachdem dann auch ihre Beziehung scheiterte, fing sie an, in dem Club, in dem sie privat immer feiern ging, als Tänzerin anzufangen. Als Stimmungsmacherin. Dann bekam sie in dem Club das Angebot, ob sie nicht auch mal bei „Kink-Veranstaltungen” mit dabei sein wolle, also Partys mit einer sexuellen Komponente. Dort hatte sie ihre ersten Kontakte mit der Erotikszene. Die Faszination für die Szene war bei Melli also länger schon da.

Aber so etwas hauptberuflich machen? In einer Branche, die keinen sonderlich guten Ruf hat? Für Melli steht fest, dass das der Weg ist, den sie gehen will: „Für mich war irgendwie immer klar, dass es nicht der geradlinige Weg Schule, Ausbildung, Arbeit wird”, sagt sie. Bis zur elften Klasse war sie auf dem Gymnasium. Und sie wusste auch schnell, dass ein Bürojob, bei dem sie von morgens bis abends das gleiche macht, einfach nichts für sie ist. Schließlich geht Melli den Schritt und bewirbt sich bei einer Erotik-Agentur. Der Agenturchef erkennt ihr Potential und nimmt sie in seine Kartei auf. Das war vor einem halben Jahr.

Unser Gehirn kategorisiert. Kategorisieren bedeutet, Objekte und auch Menschen einzuordnen. Das geschieht meist ohne, dass wir es merken. Wir stecken also relativ schnell in eine Schublade. Das ist grundsätzlich auch gut, denn es spart Energie. Wir haben nicht die kognitiven Fähigkeiten, alles aufzunehmen, erklärt Hans-Peter Erb. Und da unsere Aufmerksamkeit also begrenzt ist, ordnen wir auch Menschen nach bestimmten Merkmalen in Gruppen ein. Unser Gehirn hat also gar nicht die Möglichkeit, Personen nicht in eine Schublade zu stecken und so entstehen Vorurteile. Natürlich sind wir ihnen trotzdem nicht hilflos ausgeliefert. Aber Vorurteile gibt es gegen jeden Beruf.

 

Warum hast du dich als Kinderficker verkleidet?” Vorurteile, die Priester erleben.

Vielen Leuten muss Mathias von seiner Entscheidung, Priester zu werden, gar nicht erzählen. Als an einem 18. Geburtstag zu später Stunde das Thema Beziehungen aufkommt, genügt der Nebensatz „im späteren Berufsleben wird das schwierig”, der seine Freunde stutzig macht. Kurz darauf ist es raus. „Das hat eine kurze Schockstarre ausgelöst”, erinnert er sich. Und plötzlich weiß jeder, dass er ins Priesterseminar eintreten will.

Die Reaktionen darauf sind gemischt: „Manche waren irritiert. Wie kann man denn sowas werden? Andere fanden es eher cool, einen Freund zu haben, der einen so außergewöhnlichen Lebensweg geht.”

Aber vereinzelt erfährt er auch recht harten Gegenwind: „Ein paar Leute sind mir schon im Gedächtnis geblieben, die einen konfrontieren mit so Aussagen, wie man denn sein Leben so verschandeln kann.” Mit einem Bekannten kommt es sogar zum Bruch, nachdem dieser Mathias immer wieder „kirchenfeindliche Hass-Posts“ schickt: „Er wollte mir den ganzen Hass, den er gegen die Kirche hegt, vor Augen führen und hat mich als Person gar nicht mehr beachtet. Ich war dann nicht mehr der Mathias Eder, sondern nur noch jemand, der die Kirche repräsentiert.”

Ein typisches Beispiel dafür, wie einzelne Menschen ein Vorurteil gegen ihre Berufsgruppe zu spüren bekommen. Aber es geht noch krasser.

Als sich Mathias an Fasching als Mönch verkleidet, wird er gefragt: „Warum hast du dich denn als Kinderficker verkleidet?” Aber auch ohne Verkleidung, wenn Mathias mit seinem Talar, dem typischen Gewand eines Priesters, in der Stadt unterwegs ist, fiel auch schon „die ein oder andere ähnliche Bemerkung”.

Im Priesterseminar isst Mathias jeden Abend mit den anderen Seminaristen zusammen. Die Stimmung ist locker, es wird viel gelacht. Obwohl alle Männer sind, fällt auf, wie divers die Gruppe ist. Jedes Alter und die verschiedensten Herkünfte sind vertreten. Ein über 50- jähriger ehemaliger Finanzbeamter zum Beispiel oder ein 19- jähriger junger Mann, der seit September im Priesterseminar wohnt. Oder der ehemaliger Richter, der mit dem Informatiker gemeinsam am Tisch sitzt. Sie kommen aus ganz unterschiedlichen Lebenssituationen, doch was sie eint, ist das Ziel Priester werden zu wollen.

„Der normale Weg ist nicht mehr der normale“, meint Mathias. Quereinsteiger werden zur Regel. Wenn man mit den Männern über Vorurteile redet, ist die Krise der katholischen Kirche das erste, das aufkommt. Insbesondere der Missbrauchsskandal beschäftigt sie: „Man erwartet von uns zurecht, ein moralisches Vorbild zu sein. Das macht den Missbrauchsskandal besonders schlimm, vor allem weil die Kirche auch noch Dinge absichtlich unter den Teppich gekehrt hat. Das ist auch für uns sehr belastend“, beschreibt einer von ihnen.

Ein anderer meint auf die Frage, ob der Priesterberuf mehr als andere Berufe von Vorurteilen belastet ist: Die Vorurteile gegenüber Priestern sind nicht mehr, aber verletzender.”

Anders als bei den meisten Berufen mussten sie sich alle erklären. Warum wird denn ein ehemaliger Richter Priesterseminarist? Für mich war der Schritt gar nicht so groß“, meint er. Das Bearbeiten und Interpretieren von Texten ist in Jura und Theologie sehr ähnlich. Und klar, das Einstehen für die einzelnen Leute ist mir wichtig. Und als Priester kann ich das eben noch persönlicher machen und mehr auf Augenhöhe.“ Als er entschließt, ins Seminar einzutreten, verkündet er es öffentlich auf Facebook. Er zeigt den Post auf seinem Handy. Nur positive Kommentare stehen darunter.

Die meisten Priester berichten von weitgehend bestärkenden oder zumindest nicht negativen” Reaktionen aus ihrem Umfeld. Aber nicht alle. Ein Seminarist erzählt, dass er wegen seiner Entscheidung mit beiden Eltern keinen Kontakt mehr hat. Wegen seiner Entscheidung, Priester werden zu wollen.

Video: Berufe zwischen Vorurteil und Realität

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In unserem Video haben wir andere junge Menschen gefragt, welche Vorurteile sie zu Berufen haben.

Es ist schon so, dass man als dreckigere Person wahrgenommen wird.” Welche Vorurteile Sexarbeiter:innen erleben.“

Melli nennt das, was sie beruflich macht „Sexwork”. Oder auch Sexarbeit. Ein relativ neuer Begriff, der auch ein neues Verständnis des Berufes ausdrückt, meint Benjamin Abt. Er ist Forscher für Sexarbeit und Gründungsmitglied der Gesellschaft für Sexarbeits- und Prostitutionsforschung.

Abt stellt fest, dass Pornografie und Prostitution in unserer Gesellschaft immer noch als eine Perversion gesehen werden – und nicht als Arbeit. Dass sich das ändert, ist auch Melli ein wichtiges Anliegen. Sie wünscht sich, „dass die Leute es als das betrachten, was es ist: Eine Dienstleistung.”

Eines der ersten Bilder, das Benjamin Abt aufführt, wenn er über Vorurteile spricht, ist das des Sexarbeitenden als Überträger:in von Krankheiten. Eine Stigmatisierung mit einer langen Geschichte: „Auch früher gab es viele Geschlechtskrankheiten, die damals dann nicht geheilt werden konnten. Sexarbeitende wurden daraufhin mit dem Teuflischen in Verbindung gebracht und landeten auf dem Scheiterhaufen.”

Das Vorurteil über die Krankheiten kennt Melli sehr gut: „Es ist schon so, dass man als schmutzigere, dreckigere Person wahrgenommen wird.“ Tatsächlich ist die Gefahr, dass Pornodarsteller:innen Geschlechtskrankheiten übertragen, sehr gering. Denn Tests sind der absolute Standard. Melli erzählt, dass sie sich vor jedem Dreh testet: „Das ist eigentlich die Norm und wird auch erwartet.“ Gerade wenn sie privat auf Dates geht, stößt sie zu diesem Thema öfter auf Unsicherheiten: „Da haben natürlich viele Angst, dass sie sich Krankheiten holen könnten.” Bis jetzt konnte sie ihren Dates aber immer die Angst nehmen, sobald sie offen darüber gesprochen haben.

Lockere Stimmung am Porno-Set

Benjamin Abt nennt noch ein weiteres Vorurteil: Die sexarbeitende Person als Opfer. Es wird oft unterstellt, dass Sexarbeiter:innen ihren Job nicht freiwillig machen. Nach den vorherrschenden Geschlechter-Bildern ist die Frau, in dem Fall Melli als Pornodarstellerin, immer das Opfer eines Mannes. In Mellis Fall wäre das den Vorurteilen folgend, David, der Leiter der Erotik-Agentur, bei der sie unter Vertrag steht. Mit ihm wird sie heute einen Porno drehen. Melli und David besprechen das Konzept für den Dreh: „Girl mit Toys” oder „Solo-Dreh”. David hat sich ein konkretes Konzept für den Porno überlegt. Routiniert baut er das Set auf. Licht, Kameras, Verlängerungskabel. Alles wird um das große Bett herum aufgebaut. Während David weiter aufbaut, zieht sich Melli schon mal um. Dann klettert sie auf das Bett und David fängt an zu filmen. Immer wieder gibt er Regieanweisungen. Jeder Take wird so oft wiederholt, bis David zufrieden ist. Wie an anderen Filmsets auch. Nur dass Melli irgendwann nackt auf dem Bett liegt. Zwischen den Szenen wird viel gescherzt und gelacht. Respektvoll fragt Daniel nach, ob er Mellis Dessou zurechtziehen kann. Sie sind ein eingespieltes Team.

Dass das Bild seines Berufes so schlecht ist, liegt laut David vor allem daran, dass niemand über Pornos redet. Deswegen kann auch Kriminalität in der Branche weniger bekämpft werden, meint er. Das öffentliche Interesse fehlt.

Die Folge von Vorurteilen kann im schlimmsten Fall Diskriminierung sein. Das passiert, wenn wir unsere ganze Einstellung gegenüber einem Menschen auf Vorurteilen aufbauen und ihn dann aufgrund dessen anders behandeln. Opfer regelmäßiger Diskrminierung leiden – wenig überraschend – psychich darunter. Hans-Peter Erb erklärt, dass so ein geringes Selbstwertgefühl entsteht. „Wenn man dauernd ausgeschlossen wird, hat man das Gefühl man ist weniger wert.” Das kann ernsthafte Krankheiten zur Folge haben, vor allem Depression.

Auch die bloße Mitgliedschaft in Gruppen, die diskriminiert werden, kann verletzen. Denn wenn man die Mitgliedschaft einer Gruppe, also auch eines Berufes, als Teil seiner Identität begreift, „dann laufe ich herum und denke, ich bin ein scheiß Professor, ein scheiß Erotikmodell, ein komischer Priester und so weiter”, erklärt Erb. Fühlen sich Melli und Mathias auch manchmal so?

„Der Blick auf die Märtyrer hat da viel verändert.“ Wie Mathias mit Vorurteilen umgeht.

Mathias erlebt Vorurteile vor allem bei Menschen, die nichts mit der Kirche zu tun haben: „Ich glaube, dass der Priesterberuf nicht mehr als andere Berufe mit Vorurteilen belastet ist, sondern, dass er einfach nur mehr polarisiert.” Mittlerweile kann Mathias besser mit Situationen umgehen, in denen er vorverurteilt wird: „Ich weiß, ich kann auf eine Gemeinschaft zurückgreifen, hier im Haus oder auch außerhalb des Hauses. Ich weiß, ich bin eingebettet, ich kann mir Rat holen.” Mathias ist im Priesterseminar den ganzen Tag mit Gleichgesinnten umgeben, hier versteht man ihn, hier spielen Vorurteile keine Rolle. Generell kann man sich im Umfeld der katholischen Kirche leicht zurückziehen. In eine Welt, in der ein Priester der ehrbarste aller Berufe ist.

Er selbst ist sich dessen bewusst und versucht auch „hinter den hohen Klostermauern”, weiterhin mit Leuten in Kontakt zu bleiben, die nicht aus dem kirchlichen Umfeld kommen. Etwa bei der Feuerwehr, an der Uni oder zu Hause mit seinen Freunden bei geselligen Runden im Bauwagen im Garten.

Zum Umgang mit Vorurteilen zieht Mathias seinen Glauben heran. Und möchte trotz des Gegenwindes dafür einstehen, Christ und Priester zu sein. „Der Blick auf die Märtyrer hat da viel verändert. Der heilige Stephanus zum Beispiel, der aufgrund seines Rufes mit Steinen beworfen worden ist. Das relativiert dann doch gewisse Sorgen”.

„Das Vereinsleben sollte man als Priester nicht stiefmütterlich behandeln“. Mathias in Feuerwehruniform. | Foto: Hüttenberger

Ich bin da ganz radikal”, wie Melli mit Vorurteilen umgeht.

Und wie erlebt Melli das? Spricht sie offen über ihren Job? Oder hat sie Angst vor der Reaktion der Leute? „Also ich bin da ganz radikal”, erzählt sie, „ich geh da komplett offen mit um, meine Freunde wissen das alle”. Nur vor ihren ehemaligen Arbeitskolleg:innen verheimlicht sie ihren Job: „Bei denen bin ich super vorsichtig, weil ich da schon Angst habe, auf Vorurteile zu treffen. Also auch nicht nur ein bisschen, sondern sehr.” Zu ihrer Verwandtschaft hat sie keinen Kontakt, aber die Menschen in ihrem engen Umfeld wissen über ihren Beruf Bescheid und stehen hinter ihr, ohne Ausnahme.

Blöde Situationen, in denen sie wegen ihres Jobs verurteilt wurde, hatte sie bis jetzt kaum. Wenn überhaupt, sind die Menschen eher unsicher, wie sie reagieren sollen. Aber vor allem sind sie neugierig. Denn fast jede:r Erwachsene hat schonmal einen Porno gesehen oder schaut regelmäßig Pornos. Das weiß auch Melli: „Pornografie existiert. Und zwar nicht als Randgruppe, sondern Pornografie ist eine ganz große Sache, die im Leben von fast jedem Menschen eine Rolle spielt. Und das dann so zu verurteilen, finde ich falsch”, sagt Melli und fügt hinzu: „Mein Job ist auch wichtig. Fast jeder Mensch hat diesen Drang nach Befriedigung und ich bin dann da, um den Menschen dieses Bedürfnis zu erfüllen. Und das ist ein Bedürfnis wie jedes andere auch. Man feuert ja eigentlich gegen sich selbst, wenn man sich regelmäßig Pornografie anschaut, aber dann Sexworker verteufelt.”

Podcast: Zwei Entscheidungen, gegen die Erwartung.

Vorurteile sind menschlich

Die Kirche und die Erotikbranche haben auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam. Was die Menschen vereint, die diesen Berufsgruppen angehören, ist die Tatsache, dass sie sich jeden Tag mit Vorurteilen auseinandersetzen müssen. So wie in krassen Fällen, wenn Mathias als „Kinderficker” beschimpft wird. Oder in etwas harmloseren Fällen, wenn Melli zum zehnten Mal erklären muss, warum Sexarbeiter:innen ein geringeres Risiko für sexuelle Krankheiten haben als andere Menschen.

Sozialpsychologe Hans-Peter Erb: Unser Gerechtigkeitsgefühl hilft uns gegen Vorurteile. – Foto: Erb

Können Menschen ihre Vorurteile gegenüber bestimmten Berufsgruppen irgendwann ablegen? Schwierig, sagt Hans-Peter Erb, Professor für Sozialpsychologie und Forscher zum Thema Urteilsbildung. Stereotype gehören dazu. So funktioniert das menschliche Gehirn: „Dagegen kann man im Grunde gar nicht viel tun.” Aber: „Was man tun kann, ist sich bewusst zu machen, dass man gerade auf ein Vorurteil reinfällt.”

Melli wünscht sich, dass ihr Beruf die gleiche Wertschätzung bekommt, wie alle anderen Berufe auch. Und das fängt damit an, Sexarbeiter:innen nicht über den Ruf zu definieren, den die Branche in den Köpfen vieler Menschen hat: „Ich bin ein Mensch, der in der Gesellschaft genauso wichtig ist wie jeder andere auch.” Wie lange sie in der Erotikbranche bleiben wird, weiß sie nicht. Aktuell kann sie sich nichts anderes vorstellen. Sie fühlt sich sehr wohl in ihrem Beruf. Später will sie vielleicht mal eine Ausbildung zur Synchronsprecherin machen. Aber das lässt sie sich offen.

Mathias weiß, dass er seine Berufung gefunden hat. Eine Stelle aus der Bibel hat er für sich als Motivation entdeckt: „Freut euch in der Hoffnung, seid geduldig in der Bedrängnis, beharrlich im Gebet.” Er freut sich auf die Arbeit als Priester: „Es gibt mir einen großen Halt, den Menschen nicht nur in harten Krisensituationen dienen zu dürfen, sondern auch in schönen Situationen, wenn sie heiraten, wenn sie eine Taufe haben und ihnen gerade bei diesen Feindlichkeiten zur Seite zu stehen.”

Und Hans-Peter Erb gibt uns Hoffnung: „Die meisten Menschen korrigieren ihre Vorurteile, wenn sie ihnen bewusst werden.” Denn die Mehrheit weiß, dass Vorurteile nur das sind, was sie sind: Vor-Urteile. Und dann gibt es ja noch dieses innere Gerechtigkeitsgefühl im Menschen. Dieses Gefühl von „das darf ich nicht“, wie Erb es nennt. „Und das ist doch eigentlich eine schöne Sache”, fügt er hinzu, „dass es dieses Gerechtigkeitsgefühl gibt und sich die Menschen im Inneren sagen `Ich darf jetzt nicht unfair sein´.” Am Ende sind ein Priesteranwärter und eine Pornodarstellerin vielleicht der Beweis dafür, dass es sich lohnt, mal hinter die Vorurteile zu schauen.

Leontien Heidemann & Samuel Hüttenberger

Sich mit Leuten in unserem Alter zu beschäftigen, die mit Überzeugung ihr Ding machen, hat uns sehr inspiriert.