Mit Nadel und Farbe zur neuen Brustwarze

Tattoos in verschiedensten Motiven sind zur Normalität geworden. Eher ungewöhnlich sind dagegen Brustwarzentattoos. Für Frauen nach einer Brustkrebserkrankung kann es jedoch ein Schritt auf dem Weg zu mehr Selbstakzeptanz sein. Eine Frau hat sich in Hamburg unter die Nadel gelegt.

 Annika Exner & Miriam Mair

Brustwarzentätowierung | Quelle: Annika Exner

Sanft legt Julia Precht ihre Hände auf Anjas (Name von der Redaktion geändert) Schultern. „Bereit?“, fragt sie. Zaghaftes Nicken. Anja öffnet vorsichtig ihre Augen. Zwei Stunden saß sie auf dem Tätowierstuhl. Nun steht sie vor dem runden Spiegel, in den sie endlich blicken darf. Sie sieht hinunter zu ihrer linken Brust. Zitternd schlägt sie sich ihre Hand vor den Mund. Ihr Blick verschwimmt. Sie bringt nur ein Wort hervor: „Wow“.

Zweieinhalb Jahre zuvor, im Februar 2022. Anja ertastet während eines orthopädischen Reha-Aufenthaltes einen Knoten hinter ihrer linken Brustwarze. Es folgen viele Untersuchungen. Die finale Diagnose: Mammakarzinom, ein bösartiger Tumor wächst in ihrer Brust. „Für meine Kinder ist eine Welt zusammengebrochen. Meine Tochter sagte: Mama du kannst mich nicht alleine lassen, ich habe doch keinen außer dir“, erinnert sie sich mit brüchiger Stimme. Deshalb sagt Anja dem Krebs den Kampf an. Auch in schlimmen Momenten, als ihr beide Brüste entfernt werden müssen, will sie niemals aufgeben, sondern leben.
Nur eine Sache kann sie sich nicht vorstellen: ohne Brüste zu leben. Sie entscheidet sich für einen Aufbau mit Silikon. Als sie nach der Operation in den Spiegel sieht, ist sie zufrieden mit ihrem Körper: „Mir war egal, ob da eine Brustwarze war oder nicht.“

„Loch in meiner Brust“

Doch durch die Krebsbestrahlung kam es zu einer Kapselfibrose: Eine dünne Bindegewebsschicht schloss Anjas Silikonimplantat ein und wollte es abstoßen. Die Folge: Das Silikon musste wieder entfernt werden. „Ich hatte ein richtiges Loch in meiner Brust. Es war einfach nur schrecklich.“ Anja fühlte sich „extrem unwohl“ in ihrem Körper.

Infos zu Brustkrebs

In Deutschland erkranken pro Jahr etwa 230.000 Frauen an Krebs, mehr als 70.000 davon an Brustkrebs. Damit ist Brustkrebs mit 30 Prozent aller Fälle die häufigste Krebsart bei Frauen. Rechtzeitig erkannt, ist die Erkrankung meistens heilbar. Die Sterberate ist seit Jahren kontinuierlich rückläufig. Nach fünf Jahren sind 87 Prozent der Patientinnen noch am Leben. Auch Männer können an Brustkrebs erkranken, allerdings seltener. Nur ein Prozent aller Fälle sind männliche Patienten.

Quellen: Zentrum für Krebsregisterdaten und ONKO Internetportal

Warum gerade die Brust so anfällig für Krebs ist, warum Früherkennung so wichtig ist und wo Betroffene Unterstützung erhalten, hört ihr in der Podcastfolge.

Neuer Lebensabschnitt durch Brustwarzentattoo

Jetzt, an einem Samstag im Juni 2024, steht Anja vor einem Tattoostudio in einem roten Backsteinhaus mit milchiger Glasfront in Hamburg. Ihre Tochter und ihr Sohn begleiten sie. Hier wird Anja sich die nächsten Stunden unter die Nadel legen. Nicht für ein gewöhnliches Herz oder eine Blumenranke, sondern für eine neue Brustwarze.

Julia Precht ist eine der wenigen Tätowierer:innen in Deutschland, die sich auf fotorealistische rekonstruktive medizinische Tätowierungen spezialisiert hat: Dort, wo keine Brustwarzen mehr sind, lässt Precht Neue entstehen und Narben verschwinden. „Um sich etwas Gutes zu tun, reicht es manchmal, ein wenig Farbe ins Leben zu bringen“, sagt sie.
Eine Brustwarzentätowierung kostet bei Julia Precht etwa 2.000 Euro. Ob und welchen Anteil der Kosten die privaten und gesetzlichen Krankenkassen übernehmen, sei eine Einzelfallentscheidung. Bei den privaten Krankenversicherungen liege die Wahrscheinlichkeit einer Kostenübernahme jedoch höher.

Precht ist Fachärztin für Strahlentherapie. Zwei Tage die Woche verbringt sie aber im Tattoostudio. Der Brustkrebs nehme Patientinnen die Wahl, was mit ihrem Körper geschehen soll. Genau diese Selbstbestimmung möchte Precht den Frauen zurückgeben: „Du hast das Recht auf ein symmetrisches Körperbild nach dieser Erkrankung, weil du sonst immer stigmatisiert wirst und damit auch nicht abschließen kannst.“

Tätowiererin Julia Precht bei der Bearbeitung der Brustwarzenfotos | Quelle: Annika Exner

Von der „Landkarte“ zur Brustwarze

Julia Precht und Anja gehen in einen kleinen Raum neben dem Empfang. Anja zieht sich ihr weißes T-Shirt über den Kopf. Zunächst tastet Precht Anjas Brust ab. Mittlerweile hat Anja einen zweiten Brustaufbau hinter sich – dieses Mal mit eigenem Körperfett. Die Tätowiererin greift zur Kamera und fotografiert die noch vorhandene, rechte Brustwarze. Danach verschwindet sie im Eingangsbereich und bearbeitet das Foto auf ihrem Tablet. Das bedeutet für Anja: Kurz durchschnaufen. Sie beißt herzhaft in ein Brötchen, damit der „Kreislauf später nicht schlappmacht“.

Prechts Ziel ist es nun, eine „Landkarte“ der Brustwarze zu erstellen. An deren Linien wird sie sich bei der Tätowierung orientieren. Dafür druckt sie das Foto in drei verschiedenen Größen aus. Sie geht zurück zu Anja und legt die Fotos auf ihre Brust. Die beiden entscheiden sich für die mittlere Größe. Für Precht beginnt jetzt „der kreative Part“. Sie schneidet das Foto der Brustwarze aus und paust es auf ein spezielles Papier ab. Es entsteht die „Blaupause“. Dabei macht sie kleine Markierungen und verleiht der Brustwarze ihre nötige Struktur.

„Freude, Aufregung, Angst“

Anja fährt sich mit der Hand nervös durch ihre kurzen dunklen Haare. „Was ich fühle? Freude, Aufregung, Angst“, sagt sie, während Precht einen rosafarbenen Mundschutz anzieht und ihre Hände desinfiziert. Mit einem pinken Stift zeichnet sie freihändig mehrere Striche auf Anjas Brust, um die Position für die Tätowierung zu bestimmen. Sie trägt eine Überträgersubstanz auf, damit die „Blaupause“ trotz Desinfektionsmittel an Anjas Haut haftet. Precht zieht die Folie ab, die Vorlage bleibt sichtbar zurück.
Prüfend wandert ihr Blick über die Brust. Mit einem „lassen wir so“ von Precht und einem bestätigenden Nicken von Anja geht es los: Angespannt nimmt Anja auf dem Tätowierstuhl Platz. Die Brust ist mittlerweile zu ihrem persönlichen „Kunstwerk“ geworden. Deshalb ist sie viel aufgeregter als bei ihren restlichen Tattoos, wie dem Schlüssel und Anker auf ihrem Oberarm.

Tattoofarben: von blassrosa bis tiefrot

Die Vorbereitungen für die Tätowierung sind fast abgeschlossen. Precht mischt die Farben an. Leicht klopft sie die Farbfläschchen in unterschiedlichen Hauttönen auf ihre Hand. Die Farben reichen von blassrosa bis tiefrot. „Für die Warze brauchen wir ein bisschen lila“, meint Precht. „Was lila?“, fragt Anja leicht entsetzt. „Eher so ein bisschen aubergine“, beruhigt die Tätowiererin lachend.

Es folgt der letzte vorbereitende Handgriff. Precht klebt das Foto der Brustwarze knapp unter die linke Brust und wechselt ihre Handschuhe. Ihr Arbeitsplatz mit der aufgebauten Farbpalette erinnert nun eher an ein Kunstatelier.

Leise Musik spielt im Hintergrund. Eine Verpackung raschelt, Gummi quietscht. Wie ein Startsignal ertönt das Sprühen der Desinfektionsmittelflasche. Precht legt Anja ermutigend die Hände auf die Knie und setzt mit der rechten Hand die Nadel an. Ein Summen setzt ein. Behutsam arbeitet sich Precht von innen nach außen vor. Sie beginnt „mit dem Nippel, denn der muss als Erstes sitzen.“ Während der Behandlung ist es der Tätowiererin wichtig, eine Wohlfühlatmosphäre zu schaffen: „Die Patientinnen weinen schon genug, hier sollen sie auch mal wieder lächeln und lachen können.“

„Malen nach Zahlen“

Während Anja zuvor viel geredet hat, sitzt sie nun schweigend auf dem Stuhl. Ihre Hände liegen verschränkt und leicht verkrampft in ihrem Schoß. „Ich spüre nichts. Wirklich null Gefühl“, sagt sie. Lange Zeit ist nur das Surren der Nadel zu hören.
„Narben sind wie Kleber. Die sind wie Gummi. Da hüpft die Nadel drauf, wie auf einem Trampolin“, durchbricht Precht die Stille. Deswegen ist es eine Herausforderung, die Farbe permanent in die Hautschichten zu tätowieren. Schwierigkeiten bereiten auch Hautrötungen, die sich schwer von den Farben unterscheiden lassen, erklärt Precht. Sie orientiert sich deswegen stark an der anderen Brustwarze. „Es ist ein bisschen wie Malen nach Zahlen“, sagt sie.

Der erste Blick in den Spiegel

Die Tätowiererin ist fast fertig. Vorsichtig tupft sie die überschüssige Farbe ab. Mit Weiß verleiht sie noch Struktur, damit „wir am Ende keine kreisrunde Salamischeibe haben“. Schließlich geht Precht drei Schritte nach hinten und nickt zufrieden. Anjas Blick wandert leicht ängstlich hinüber zu ihrer Tochter, die auf dem Stuhl schräg gegenüber sitzt. „Es sieht toll aus, Mama!“, ruft sie. Zögernd, aber dennoch bestimmt, drückt sich Anja aus dem Behandlungsstuhl hoch. Ein letztes Mal sucht sie den bestätigenden Blick ihrer Tochter, ihrer größten Unterstützung während der schweren Zeit.

Mit geschlossenen Augen tritt Anja vor den Spiegel, holt zitternd Luft und öffnet ihre Augen. In diesem Moment fühlt sie sich – so sagt sie selbst – wieder „vollständiger“ und „wohler als Frau“. Anja nimmt ihre Brille ab und versucht, die Tränen wegzuwischen. „Hammer! Auch die Narbe fällt gar nicht mehr so auf! Es ist einfach ein ganz anderes Bild“, sagt sie. Während die Musik leise im Hintergrund spielt, steht Anja noch eine Weile lächelnd und sprachlos vor dem Spiegel.

Erst als sie ihr T-Shirt anzieht, kommen ihr wieder die Worte: „Ich bin stolz darauf, diesen Weg gegangen zu sein. Ich komme mir selbst wieder näher. Aber es wird noch lange dauern, bis ich das wirklich realisiert habe.“

Anja sieht das Brustwarzentattoo zum ersten Mal | Quelle: Annika Exner

Anjas Weg ist eine von vielen Möglichkeiten, nach einer Brustkrebserkrankung wieder mehr zu sich selbst zu finden. Eine andere Option ist ein besonderes Fotoshooting – oben ohne und ohne Brüste.

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Annika Exner & Miriam Mair

„Narben sind Tattoos mit den besseren Geschichten.“ Dieses Zitat ist uns besonders in Erinnerung geblieben. Trotz Narben kann man stolz auf seinen Körper sein. Wir müssen nicht perfekt sein, um uns selbst zu lieben!