Wenn du das Leben an dir vorbei scrollst…

Immer mehr Jugendliche verbringen täglich Stunden am Smartphone. Auch wenn sie selbst merken, dass ihnen dabei oft die Zeit entgleitet. Eine Reportage über digitale Routinen, Selbstwahrnehmung und den Versuch, das eigene Verhalten zu hinterfragen.

von Pia Büttner und Constantin Wundt

Quelle: Constantin Wundt

Es ist Freitag, 11 Uhr und es sind Pfingstferien. Sebastian lehnt in seinem Zimmer auf dem Bett, das Smartphone fest in der Hand. Sein Daumen streicht wie von selbst über den Bildschirm – hoch, runter, weiter. Er ist 14 Jahre alt, geht in die neunte Klasse und kennt das Gefühl nur zu gut: Endloses Scrollen, das einen in seinen Bann zieht und kaum mehr loslässt.

„Heute sind es 45 Minuten“, sagt er, während er auf seine Bildschirmzeit schaut. „Also, gestern war ein schlimmer Tag, da waren es vier Stunden.“ Er sieht etwas beschämt von seinem Handy hoch. Vier Stunden, in denen Reels und Storys an ihm vorbeizogen sind, ohne dass etwas wirklich hängengeblieben ist. Laut einer Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sind fast drei Viertel der 15-Jährigen in Deutschland mehr als zwei Stunden pro Tag am Bildschirm, um sich unterhalten zu lassen.

Sebastians Bildschirmzeit. Quelle:Sebastian

„Ja, also ganz oben ist Instagram“, sagt Sebastian auf die Frage, welche Apps er am meisten nutzt. Danach kommt WhatsApp. Manchmal ist YouTube auch dabei.
Instagram – das ist für ihn mehr als nur Bilder ansehen. „Ich schreibe viel mit Freunden“, sagt er. „Aber ich weiß schon auch, dass ich ziemlich viel Zeit bei „Reels“ verbringe, und halt auch verschwende.”

Die Reels: Kurze Clips, die einen winzigen Moment lang fesseln, bevor der nächste Impuls folgt. Sebastian ist sich dessen bewusst. Und doch landet er immer wieder dort. Diesen Morgen saß er nach dem Frühstück ungefähr eine Dreiviertelstunde auf dem Sofa und hat auf seinem Handy gescrollt. Ihm fällt auf: „Danach habe ich versucht, mich zurückzuerinnern, was ich jetzt in dieser Stunde gesehen habe, aber da hatte ich nur noch ganz wenige Beispiele in meinem Kopf. Da dachte ich mir auch, dass es jetzt vielleicht besser gewesen wäre, hätte ich irgendwas anderes gemacht.“

Er lacht kurz – ein bisschen verlegen, ein bisschen resigniert. Seine Stimme klingt nachdenklich, aber auch ein bisschen angespannt. Seine große Schwester Hannah beobachtet Sebastian hin und wieder beim Endless Scrolling. „Letztens saß er auch morgens auf dem Sofa und ist nur durch Instagram-Reels beziehungsweise YouTube-Shorts gescrollt. Dann habe ich zu ihm gesagt, er soll sich nicht ‚verscrollen‘ und auch noch etwas anderes machen an dem Tag.”

Was ist Endless Scrolling?

„Endless Scrolling ist das Gefühl, dass man durch einen „Feed“ scrollt, immer neue Inhalte generiert werden und man nie ans Ziel gelangt.“

~Gunnar Mau, Psychologe und Professor für Konsumforschung an der Hochschule Magdeburg-Stendal

„So ganz bisschen Trauer ist schon dabei“, gibt Sebastian zu. „Ich denke mir: ‚Ja, ich hätte ja was viel Cooleres machen können in der Zeit.‘ Vor allem, wenn es länger ist, zum Beispiel vier Stunden oder so, dann ist das schon ein unschönes Gefühl.“ Seine Schwester pflichtet ihm bei. Denn auch sie habe das Gefühl, er bereue das dann und es tue ihm für sich selbst leid, dass er so viel gescrollt habe.

Es ist ein Kreislauf: Kurze Clips, ständiger Wechsel, kaum bleibende Erinnerung. „Größtenteils würde ich sagen, dass es ein Rein und Raus ist“, meint er. “An manche Inhalte kann ich mich schon ein bisschen erinnern. Aber ich glaube, das Gehirn baut das bei mir so auf, dass ich es kurz gut finde, es aber nicht in mein Langzeitgedächtnis aufgenommen wird und einfach direkt wieder weg ist.” Sebastian sitzt auf seinem Schreibtischstuhl und schaut aus dem Fenster.

Sein Zimmer sieht aus wie das eines typischen 14-jährigen Jungen heutzutage. Zwischen Bett, Schrank, einem Regal und einem Sessel mit einigen Klamotten darauf verteilt, sticht sofort der Schreibtisch mit seinen zwei großen Bildschirmen heraus. Sofort ist klar: Dieser Teil des Zimmers ist besonders wichtig für ihn. Auffällig ist, dass zwischen Legosteinen und Hanteln im Regal nur vereinzelt Bücher liegen. „Ich würde in meiner Freizeit eher zum Handy greifen als zu einem Buch, obwohl ich gut lesen kann“, sagt Sebastian. Er beobachtet das auch bei seinen Mitschüler:innen: „Die können aber teilweise nicht mal wirklich gut lesen.“ Was Sebastian auffällt, bestätigen die Zahlen der letztjährigen PISA-Studie der OECD. Denn laut der Studie kann jeder fünfte Mensch in Deutschland ab 16 Jahren nicht richtig lesen. Die Forscher:innen sehen einen Grund dafür in der Internet- und Social-Media-Nutzung, da dort viele Texte sehr kurz und einfach geschrieben sind. So können Kinder, die viel am Handy seien, deshalb Sprachentwicklungsstörungen entwickeln, da ein wichtiger Verbindungsstrang zwischen den beiden großen Spracharealen im Gehirn leide, erklärt der Hirnforscher Martin Korte von der Technischen Universität Braunschweig in einem Artikel des GEO-Magazins. Außerdem führt exzessive Handy-Nutzung bei Kindern laut Korte zu fehlender emotionaler Intelligenz, da sie sich weniger gut in die Lage anderer Menschen hineinversetzen können.

Trotz all der Gefahren, ist der Griff zum Smartphone für viele Jugendliche fast schon automatisch, wenn es darum geht, sich die Zeit zu vertreiben und Spaß zu haben. In der Bitkom: Kinder & Jugendstudie 2024 geben das 89 der 14- bis 17-Jährigen an – das sind 75 Prozent.

Sebastian schwankt während des Scrollens zwischen Langeweile und Suchtgefühl. „Manchmal denke ich mir: ‚Ja, das ist jetzt eher langweilig, was ich hier gerade mache. Und ich höre gleich auf.‘ Da sind schon viele Videos, die mich gar nicht interessieren und ich scrolle nach spätestens 15 Sekunden weiter. Aber mein Kopf ist dann irgendwie auch süchtig danach“, erzählt er.
„Zum Beispiel, wenn es jetzt 11 Uhr ist, dann denke ich mir: ‚Okay, ich höre um 11:15 Uhr auf.‘ Dann ist es 11:16 Uhr, dann sage ich: ‚11:20 Uhr.‘ Und dann bleibe ich trotzdem so ein bisschen drinhängen, obwohl es sich nicht ganz super anfühlt.“

Warum das so ist, sei schwierig zu sagen für Sebastian. Gunnar Mau, Psychologe und Professor für Konsumforschung an der Hochschule Magdeburg-Stendal, hat dafür eine Erklärung: „Wir Menschen suchen immer nach positiven oder überraschenden Momenten. Diese Erwartungshaltung wird aber nicht immer erfüllt, da viele Inhalte in diesen Feeds das Gegenteil davon sind. Viele Inhalte sind eher uninteressant oder langweilig. Deswegen jagen wir immer nach den wenigen positiven, besonderen Videos und verlieren uns manchmal ein bisschen darin.“

Es ist 13:30 Uhr, Zeit für Mittagessen. Auf dem Weg von seinem Zimmer in der oberen Etage in das Esszimmer im Erdgeschoss holt Sebastian sein Handy aus der rechten Hosentasche und schaut auf den Bildschirm. Selbst in den 30 Sekunden zwischen eigenem Zimmer und Küche ist das Handy ein treuer Begleiter. Am Esstisch selbst gilt striktes Handyverbot und daran wird sich auch gehalten. Das Smartphone verschwindet schnell wieder in der Hosentasche. Während des Essens wird deutlich: Sebastian ist sich seines Verhaltens bewusst. Trotzdem fällt es ihm schwer, weniger zu scrollen. Der Moment, das Handy bewusst wegzulegen, ist selten – aber kommt vor. „Es wird ein bisschen häufiger bei mir zurzeit“, sagt er.

„Ich finde, ich werde ein bisschen besser, was so bestimmte Grenzen angeht.“
Oft sind es auch seine Eltern, die ihn daran erinnern, sein Handy lieber einmal wegzulegen. “Damit du abends nicht denkst, du hast nichts gemacht“, heißt es dann. Solche Sätze hallen in ihm nach.

Auch seine Schwester versucht, ihn konstruktiv dabei zu unterstützen, sein Handy wegzulegen: „Mit ihm zu schimpfen, bringt ja auch nichts. Lieber sage ich ihm, er soll vielleicht noch etwas anderes machen und manchmal, wenn wir beide zusammen scrollen, stellen wir uns gemeinsam einen Timer auf zehn Minuten und machen dann danach zusammen etwas ohne Handy.“ Sebastian sieht in seinem eigenen Verhalten noch Verbesserungspotenzial: „Ich kann mir schon Grenzen setzen, aber ich glaube trotzdem, dass man die Grenze noch enger ziehen könnte.“ Mit diesem Gefühl ist Sebastian nicht allein. Denn laut der Bitkom: Kinder & Jugendstudie 2024 sagen 42 Prozent der 10–18-Jährigen in Deutschland, dass sie mehr Zeit in den sozialen Netzwerken verbringen, als sie eigentlich wollen.

Quelle: Eigene Darstellung nach Bitkom: Kinder- & Jugendstudie 2024

Um als Jugendliche an diesem Gefühl etwas ändern zu können oder vielleicht erst einmal dafür sensibilisiert zu werden, gibt es seit September 2024 ein sogenanntes Konzept Resilienz stärken des Vereins mediasmart, einer gemeinnützigen Bildungsinitiative, die sich für die Förderung von Werbe- und Medienkompetenz einsetzt. Mediasmart hat dieses Konzept, das in der Schule über das Mediennutzungsverhalten aufklären soll, für die Klassenstufen fünf bis zehn entwickelt. Teil davon ist ein Workshop zum Thema Endless Scrolling. Auch Sebastian hätte sich so einen Workshop an seiner Schule gut vorstellen können: „Ich glaube, so ein Workshop würde mir schon weiterhelfen. Andererseits weiß ich nicht, wie lange ich dann die Anregungen aus so einem Workshop durchziehen würde. Aber es wäre auf jeden Fall schon ein Anfang.“

Er weiß, dass er sich besser abgrenzen möchte und manchmal gelingt es ihm auch. Kleine Schritte, ein bisschen mehr Kontrolle. Vielleicht ist das schon der Anfang.
Denn zwischen Reels und Realität bleibt am Ende die Frage: Wie schafft man es, langfristig einen bewussteren Umgang mit Medien zu entwickeln?

Am Sophie-Scholl Gymnasium in München hat eine Lehrkraft mit ihrer neunten Klasse nach Antworten auf diese Frage gesucht und einen Workshop zum Thema Endless Scrolling durchgeführt.

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Pia Büttner & Constantin Wundt

Auch wir scrollen selbst manchmal zu viel. Genau deshalb hat uns dieses Thema so interessiert. Wir wollten verstehen, warum man so schnell viel Zeit auf Apps wie Youtube, Instagram oder TikTok verbringt.