Der eine Tag, der alles verändert. Als Franz während eines Gleitschirmflugs abstürzt, wandelt sich schlagartig sein ganzes Leben.
Von Alina Seitz
Ein Dienstag im März. Draußen heult der Wind und Regentropfen prasseln unaufhörlich gegen die Scheiben der Bäckerei. Die Tür öffnet sich, herein kommt ein Mann um die 50, graue Jacke, graue Schuhe, schwarze Hose. Er tritt ein und bestellt einen großen Milchkaffee. Die Cap, die er trägt, ist ebenfalls grau. AIRCRAFT steht in großen Lettern darauf. Der Mann heißt Franz, ist 54 Jahre alt und hier, um seine Geschichte zu erzählen. Von einem Abenteuerurlaub, der zum Albtraum wurde. Von Angst, Schmerz, Fassungslosigkeit und von einem Neubeginn. Seinem Neubeginn. Doch dafür muss er zurückspringen, zu einem Ereignis vor zehn Jahren.
Das Gefühl von Freiheit
Alles beginnt an einer Flugschule am Hochries in der Nähe von Rosenheim. Franz ist gerade mit dem Tandempiloten abgehoben und fliegt jetzt mit dem Gleitschirm hoch über den Chiemgauer Alpen. Der Wind trägt ihn scheinbar mühelos durch die Luft. Während die Landschaft unter ihm immer kleiner wird, genießt Franz das Gefühl von Freiheit. Der Tandemflug dauert nur eine Viertelstunde, danach meldet er sich sofort bei der Flugschule an. Drei Monate später hat er seinen ersten Schein in der Tasche. Das war vor 10 Jahren.
“Jeder Berg hat seine Eigenheiten und sein eigenes Windsystem. Wenn man oft an seinem sogenannten Hausberg fliegt, kennt man ihn mit der Zeit richtig gut. Dann liebt man ihn auch”, fügt er schmunzelnd hinzu und nimmt einen Schluck von seinem Kaffee. Franz vergleicht seinen Hausberg mit der Bäckerei, in der er gerade sitzt. “Das ist wie bei einem guten Bäcker – wenn ich weiß, dass er gut ist, kaufe ich dort immer ein. Es ist auch interessant, wegzufliegen und neue Gebiete zu erkunden, aber am Hausberg macht es einfach noch mehr Spaß.”
Und so reisen Franz und sein Kumpel einmal im Jahr zum Paragliden in andere Länder. Griechenland, Frankreich, Marokko – für 2023 trifft die Wahl auf Kolumbien. Atemberaubende Landschaften, beeindruckende Berge und günstige Wetterbedingungen machen das Land perfekt für einen dreiwöchigen Urlaub zum Gleitschirmfliegen.
Im März 2023 landet das Flugzeug in Bogotá. Eine Reisegruppe aus etwa 15 Personen macht sich auf den Weg nach El Paraiso – das Paradies, ein Gebiet etwas abseits gelegen von der Hauptstadt des Landes. Wenige Tage später geht es los. Ausrüstung packen, anziehen und hinauf zum Berg. Während das Auto sich den Weg hinaufschlängelt, gibt der Guide letzte Sicherheitsanweisungen. Die Wichtigste lautet: Auf keinen Fall im Dschungel landen, dort gibt es im Notfall keine Hilfe.
Dann wird alles um ihn herum schwarz
Oben angekommen bereitet Franz sich auf den Abflug vor: Klirrend werden Leinen und Gurte am Boden ausgelegt, das Segel ausgebreitet. Eine Leine verheddert sich dabei im Segel, doch das ist nicht weiter schlimm. Gerade als er sie entwirren will, wird Franz von einer Böe erfasst. Sein Gleitschirm erhebt sich und reißt ihn innerhalb von Sekunden hoch in die Luft. Er schaut nach oben. Der Gleitschirm hat sich nicht vollständig ausgebreitet, die rechte Seite hängt schlaff nach unten. Binnen weniger Augenblicke verliert Franz rasant an Höhe.
In den Dschungel abstürzen? Oder versuchen zurück zum Berg zu fliegen? Zum Nachdenken ist keine Zeit, er muss sich jetzt entscheiden. Doch der Berg ist zu nah und Franz zu schnell. Mit mehr als 70 Stundenkilometern rast er auf die Felswand zu. Das Letzte, was er mitbekommt, ist sein dumpfer Aufprall gegen die massive Bergwand. Dann wird alles um ihn herum schwarz.
Der Schock: Das Krankenhaus weist sie ab
Franz macht die Augen auf. Er liegt auf der Ladefläche eines Pick-ups, der sich gerade auf den Weg zurück ins Tal macht. Die Straße ist eng und nicht asphaltiert, sie windet sich in engen Kurven bis zum Fuß des Berges hinab. Franz spürt jede noch so kleine Unebenheit. Der Schmerz lässt nicht lange auf sich warten, wird immer stärker, unaufhörlich. Franz beäugt sein Bein, überall ist Blut, darunter lugt ein Teil seines Knochens hervor. Doch niemand kann helfen, es gibt keinen Rettungsdienst am Berg, kein Krankenhaus, keine Medikamente und der Weg hinunter ist lang. Unbeschreiblich lang. Eine Stunde verstreicht, schließlich zwei, dann drei. Nach sechs Stunden quälender Fahrt erreicht der Pick-up ein Krankenhaus. Quietschend kommt der Wagen zum Stehen, Rettungskräfte eilen zur Ladefläche. Doch dann der Schock: Sie werden abgewiesen. Das Krankenhaus könne solch eine Verletzung nicht behandeln, meint eine Mitarbeiterin und macht hastig die Tür zu.
So sind sie weiter unterwegs, irgendwo im Dschungel Kolumbiens, weit abgelegen von Bogotá. Einige Kilometer weiter haben sie Glück. Um behandelt zu werden, muss Franz 3000 Dollar bezahlen, sonst weigern sich die Mitarbeiter ihn aufzunehmen. Das Gebäude sieht nicht aus wie ein Krankenhaus. Der Putz ist an vielen Stellen schon abgeblättert und die Farbe verblasst. Das Zimmer ist karg, die Möbel abgenutzt. Fenster gibt es keines. Es riecht modrig, daran kann auch die Klimaanlage nichts ändern. Sie surrt unaufhörlich und durchbricht die Stille im Raum, abschalten kann man sie nicht. Eine Schwester bringt ihm einen Heizlüfter ans Bett, das muss reichen.
In diesen prekären Verhältnissen verbringt Franz die nächsten Wochen seines Kolumbienurlaubs. Ab und an klopft es an der Tür, dann kommt der Arzt in sein Zimmer. “Operación”, verkündet er harsch und schiebt ihn über den heruntergekommenen Flur in Richtung Operationssaal. Auf sein “Why?”, bekommt Franz keine Antwort. Auf dem Gang wird er an einer ebenfalls kranken Frau vorbei geschoben. Sie röchelt schwach, keine drei Minuten später ist sie tot. Franz ist dabei, als sie ihren letzten Atemzug macht.
Insgesamt wird er in Kolumbien sechs Mal operiert. Was Franz zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, ist, dass er sich bei einer dieser OPs mit Krankenhauskeimen infiziert. An die Zeit dort erinnert sich Franz nur ungern zurück. “Die Menschenwürde wurde mir in diesem Krankenhaus genommen. Du wirst dort nicht behandelt wie ein Mensch, bekommst keinen Funken Empathie. Du bist ihnen scheißegal.”
„Das Bein ist nicht zu retten“
Zwei Wochen nach dem Unfall am El Paraiso klopft es erneut an der Tür. Herein kommt diesmal nicht die Krankenschwester, sondern eine Frau vom ADAC. Sie ist hier, um ihn mitzunehmen und versucht bei einer Fluggesellschaft einen Platz für ihn zu organisieren. Eine Woche später hat sie sein Flugticket. “Ich dachte in diesem Moment wirklich, da steht ein Engel“, murmelt Franz und lacht.
Insgesamt dauert der Flug fast zwei Tage, dann kommt er in der Unfallklinik Murnau an. Vorsichtig nehmen die Ärzte dort einige Abstriche und Proben und schicken sie ins Labor. Am nächsten Tag kommen die Ergebnisse, Franz wird positiv auf Staphylococcus aureus – kurz MRSA getestet. Umgangssprachlich auch als resistente Krankenhauskeime bekannt. Allein in Deutschland sterben jährlich 10.000 bis 20.000 Menschen an den Folgen einer solchen Infektion. Als der Arzt mit der Nachricht in sein Zimmer kommt, bricht für den 54-Jährigen eine Welt zusammen. “Herr Mayr, das Bein ist nicht zu retten.” Franz wird vor die Wahl gestellt: Entweder muss das Bein abgenommen werden oder er stirbt an den Folgen der Krankenhauskeime. Er hat einen Tag Zeit, sich zu entscheiden. Franz fühlt sich elend. Allein verbringt er die Zeit nach der Diagnose in seinem Zimmer. Fertig werden muss er damit allein, doch die Krankenschwestern tun ihr Bestes, um ihn aufzubauen.
Der Beginn seines zweiten Lebens
Ein Tag später. Sonnenstrahlen fallen durch das Fenster auf sein Krankenhausbett. Die OP ist vorbei, die Amputation ohne Komplikationen verlaufen. Seine Ärzte sind erleichtert, nennen sie “Die Operation des Jahres”. Von nun an geht es aufwärts mit seiner Gesundheit. Zwei Wochen später kann Franz das Krankenhaus auf Krücken verlassen. Die erste Prothese kommt einige Wochen später. Anfangs drückt und ziept sie, er muss sich erst an sie gewöhnen. Auf der Reha lernt er, wie er mit ihr umgehen muss.
“Nach der Reha habe ich mir dann einen Hund gekauft, er war meine beste Medizin. Durch das Fliegen in den letzten zehn Jahren konnte ich mir keinen Hund zulegen – ich wäre ihm nicht gerecht geworden.” Ein Appenzeller namens Bonifaz ist es, der Franz jetzt wieder auf Trab hält, doch auch seine Gleitschirmfreunde sind weiter an seiner Seite. Obwohl Franz nicht mit am Berg ist, checkt er für sie die aktuellen Wettervorhersagen und fiebert mit. Bei jedem einzelnen Flug.
“Ohne meine Lebensretter und Freunde, die mich am Berg in Kolumbien geborgen haben, wäre ich jetzt nicht hier. Sie sind der Grund, warum ich heute noch lebe.”
Ein Jahr später ist es endlich soweit: Franz ist das erste Mal nach seinem Unfall wieder dabei. Nicht als Paraglider, sondern als Beobachter, trotzdem ist es für ihn ein unbeschreibliches Gefühl. Er schaut seinen Freunden zu, wie sie starten, abheben und sich nur mit Hilfe der Thermik hoch in die Luft über dem Altmühltal schrauben. Von dort aus trägt sie der Wind stundenlang, bis in die Nähe von Deggendorf. “In vier Wochen ist es für mich auch soweit. Der Termin zum Tandemflug steht”, ergänzt er und verzieht das Gesicht zu einem Grinsen. Fliegen wird Franz natürlich an seinem Hausberg – dem Hochries. Für ihn ist es der Beginn seines zweiten Lebens.
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