Wenn ein Teil verloren geht
Was ist der Stolz eines Menschen? Und wie geht jemand damit um, wenn dieser plötzlich wegbricht? Annika hat uns ihre Geschichte erzählt, die zeigt wie schnell sich das Leben durch unerwartete Ereignisse verändern kann.
Katja Bernkopf & Malika Winkler
Das Sonnenlicht ist schon hinter dem Horizont verschwunden, als der Ball auf dem Kunstrasenfeld der Muskingum University in Ohio erstmals in dieser Saison rollt. Nur die Scheinwerfer erhellen den Platz. Mittendrin steht Annika. Sie ist neu im Team und muss sich noch beweisen. Es läuft die 61. Minute. Annika bekommt den Ball an der Außenlinie zugespielt und sprintet. Neben sich spürt sie den Atem der Gegenspielerin. Ihre Augen fokussieren nur den Ball, in Gedanken hat sie den nächsten Spielzug vor sich. Wie gewohnt macht sie einen Ausfallschritt, um die Gegnerin zu täuschen. Doch dieses Mal spürt sie ein Knacksen im Knie und fällt zu Boden. In dem Moment weiß sie noch nicht, dass der Stolz, der sie bis hierher gebracht hat, in Scherben liegt.
Annika Mutzbauer ist 23 Jahre alt, kommt aus Amberg in der Oberpfalz und studiert im achten Semester Sport und Englisch für Gymnasiallehramt an der Universität Passau. Im Herbst 2023 hat sie sich ihren großen Traum erfüllt und ist für ein Auslandsjahr in die USA gezogen. Seit sie eine Jugendliche war, hat sie davon geträumt, dort zu studieren und nebenbei Fußball zu spielen. Annika ist ein sportbegeisterter Mensch. Sie spielt Fußball, seit sie fünf Jahre alt ist. Ihre Eltern wohnen direkt neben dem Sportplatz in ihrer Heimat und „deswegen gab es auch gar keine Alternative.“ Heute spielt sie beim 1. FC Passau in der Bezirksoberliga und der Fußball ist ein großer Teil von ihr und ihrer Identität.
Im Alter von 15 Jahren war Annika im Rahmen eines Schüleraustausches für einen Monat in Texas. Diese Zeit habe sie sehr geprägt. Von da an war klar: Das möchte sie noch einmal erleben. Selbstbewusst ging sie an den Bewerbungsprozess für ihr Auslandsstipendium heran. „Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass ich das Stipendium bekomme. Es war das beste Motivationsschreiben, das ich jemals geschrieben habe“, blickt sie zurück. Als die Zusage kam, habe sie erst mal einen Freudensprung gemacht. Sie war stolz, dass sie ausgewählt wurde. Stolz, weil sie das schon immer erleben wollte. Stolz ihren Eltern erzählen zu können, dass sie das wirklich geschafft hat.
„Stolz ist man meiner Meinung nach auf eine Leistung, die man bringt. Dementsprechend hat es mich sehr stolz gemacht, als ich diese Zusage bekommen habe“
Annika Mutzbauer
Der American Dream
Der Sehnsuchtsort USA übt auf viele Europäer:innen eine Faszination aus, geprägt durch die kulturelle Dominanz von Hollywood-Filmen und Popmusik, die ein Bild von Glamour und unbegrenzten Möglichkeiten vermitteln. Die ikonischen gelben Schulbusse, weitläufigen Highways und City-Skylines verkörpern den American Dream von Freiheit und Abenteuer – in Annikas Fall ist es der Fußball. Mit diesen Vorstellungen kommen viele Menschen aus aller Welt in die USA, um zu studieren. Das College-Fußballsystem bietet jungen Talenten die Chance, ihre sportlichen Fähigkeiten zu entwickeln und gleichzeitig eine akademische Ausbildung zu erhalten. Vereins – oder Verbandsstrukturen, wie man sie aus Deutschland kennt, gibt es in den USA nicht. Der Sport ist fest in das Bildungssystem integriert. Die Trainingsbedingungen sind hoch professionalisiert. Der College-Sport hat daher eine identitätsstiftende Wirkung für die Student:innen. Der Sport am College organisiert sich durch drei gemeinnützige Verbände:
Nachdem Annika ihre Zusage erhalten hatte, waren die folgenden Wochen geprägt von Vorfreude und Organisation. Ihre Reise begann am 9. August 2023 am Flughafen München. Die ersten Tage vor Ort waren vor allem eines: „aufregend und schlaflos.“ Viel Zeit, sich einzuleben, blieb nicht, denn die Vorbereitung im Fußball begann bereits nach vier Tagen. Sie erinnert sich an das erste Training: Bevor es losging, stand das Team zusammen im Kreis. Hände und Schuhe berührten sich, damit alle miteinander verbunden sind. Es wurde still und alle hielten inne. Dann klatschte die Mannschaft und die Trainingseinheit begann. Leistungstechnisch konnte Annika sofort mithalten. Es hat ihr Spaß gemacht, auf diesem Niveau zu spielen.
Annika ist eine sehr offene und kontaktfreudige Person. Obwohl das erste Training aufgrund der neuen Eindrücke ein bisschen „ungewohnt“ war, fiel es ihr nicht schwer, Anschluss zu finden. Die Menschen dort hat sie als sehr freundlich und das Land als sehr bunt in Erinnerung.
Das erste Spiel
Nach einigen Wochen Vorbereitung auf dem Trainingsplatz und im Kraftraum, folgte dann das erste Saisonspiel gegen Washington & Jefferson. Annika erinnert sich an den Tag zurück: Sie war motiviert, ein gutes Spiel zu machen, wollte einfach Spaß haben und die Zeit genießen. Zwei Stunden vor Anpfiff traf sich das Team in der Umkleide und hörte Musik, um sich einzustimmen. Die Stimmung innerhalb der Mannschaft war gut, aber „ich selbst war ein bisschen frustriert, weil ich nicht von Anfang an spielen durfte, was mir vorher zugesagt worden ist“, sagt Annika. Das negative Gefühl konnte sie aber schnell in positive Energie ummünzen; spätestens als die Nationalhymne erklang, alle ihre Hand aufs Herz legten und zur Flagge schauten. Obwohl es nicht ihre Hymne sei, habe sie das bewegt.
In der 24. Minute war es dann so weit. Annika betrat das Feld, während der Stadionsprecher im Hintergrund ihren Namen durchsagte. „Ich habe mich richtig stolz gefühlt, weil einfach ein Traum wahr wurde“, erzählt sie. Sie fühlte sich sofort wohl, weil sie ihre ersten Zweikämpfe direkt gewann. „Ich hatte das Gefühl, dass ich mit Präsenz und Selbstbewusstsein auf dem Platz stehe, was mir daheim oft gefehlt hat“, sagt sie.
In der 61. Minute veränderte sich alles. Annika bekam den Ball an der Außenlinie zugespielt. Als sie eine Gegenspielerin täuschen wollte, blieb sie im Rasen hängen. Eine Bewegung, die sie in ihrem Leben schon unzählige Male gemacht hatte. Nun lag sie da. In dem Moment ärgerte sie sich nur über sich selbst, weil sie einen guten Spielzug machen wollte. Sie habe keinen Gedanken daran verschwendet, dass etwas Schlimmeres passiert sein könnte. Als sie aufstehen wollte, ging es nicht. Das war ungewohnt, weil sie bekannt dafür war, immer sofort wieder weiterzumachen. Mit der Hilfe des Physiotherapeuten und der Trainerin wurde sie vom Platz geführt.
Die Schockdiagnose
„Ein paar Tage später ist meine Welt zusammengebrochen, als ich dann die Gewissheit hatte. Ich war auf dem Höhepunkt meines ganzen Studiums und dann kam diese Ohrfeige.“ Diagnose: Kreuzbandriss. Eine der schwersten und hartnäckigsten Verletzungen, die Sportler:innen haben können. Dass Annika dieses Schicksal ereilte, ist dramatisch, aber keine Rarität. Fußballerinnen reißen sich bis zu acht Mal wahrscheinlicher das Kreuzband als ihre männlichen Kollegen.
„Die folgenden Tage war ich extrem traurig. Ich wusste nicht, wohin mit meinen Gefühlen.“ Vor ihren Augen sah sie ihren langen Weg zur Genesung. Annika hatte das Gefühl, einen Teil ihres Stolzes verloren zu haben, weil „der Hauptgrund, warum ich hier war, plötzlich nicht mehr möglich war und das hat mich sehr verletzt.“ Anfangs hatte sie viel Zeit zu grübeln. „Warum ich?“ oder „Was habe ich verbrochen?“ fragte sie sich oft.
Ein großer Teil des langen Reha-Prozesses bei einer Kreuzbandverletzung, ist die Operation. Diese wurde 18 Tage nach Annikas Verletzung durchgeführt. Sie hat sich für eine OP in den USA entschieden, weil der Umgang mit Kreuzbandrissen dort professionalisierter sei, als in Deutschland. Dass sie in dieser Zeit so weit von ihrer Heimat entfernt war, sei auch für ihre Familie nicht leicht gewesen. „Das war heftig. Wir wussten, wie schlimm es für Annika ist, diese Diagnose zu bekommen“, sagt ihre Mutter, Silke Mutzbauer. Die Entfernung zu ihrer Tochter habe ihr sehr zu schaffen gemacht: „Man kann nicht persönlich für sie da sein, man kann sein Kind nicht in den Arm nehmen. Für mich als Mama war das schwierig.“
Zu der Zeit sei auch die geliebte Hündin der Familie verstorben. Für Annika und ihr Umfeld kam „viel zusammen“. Mehr als das Telefon blieb ihr und der Familie nicht, um in Kontakt zu bleiben. Annikas Mutter habe probiert, viel positive Energie von A nach B zu schicken. „Es war sehr wichtig, dass sie über ihre Gefühle gesprochen hat. Es bringt nichts, wenn man alles in sich hineinfrisst.“
Mit der Zeit fand Annika einen Weg, mit der Verletzung umzugehen: Weg vom Selbstmitleid, hin zu einer „jetzt erst recht“-Einstellung. Sie hatte stetig ihr Comeback vor Augen. Annika setzte sich das ambitionierte Ziel, dass sie nach 180 Tagen wieder auf dem Feld stehen will. Ihre Reise hat sie auf Instagram dokumentiert und täglich Updates gepostet. „Ich habe sehr hart trainiert, teilweise mehrmals am Tag. Dafür habe ich echt viele Komplimente bekommen, weil sie meinen Umgang mit der Verletzung bewundert haben.“ Auch ihre Mutter hatte starkes Vertrauen in ihre Tochter: „Ich wusste, wenn es jemand schafft, dann ist es Annika.“ Besonders beigestanden habe ihr außerdem ihre Zimmerpartnerin, die sie schon aus Passau kannte. Sie hatte die gleiche Verletzung selbst schon durchgemacht. Auch das Team vor Ort hat sie sehr unterstützt. An manchen Tagen war sie übermütiger, als es ihr Körper zuließ. „Ich wollte sehr schnell Fortschritte sehen, aber manchmal ging es einfach nicht.“ Den Fußball hat sie „sehr vermisst“, vor allem wenn sie ihren Teamkolleginnen bei Training oder Spielen zugesehen hat.
Ihre Selbstzweifel versuchte sie durch ihre stabile Psyche abzufedern. Angst, nie wieder spielen zu können, hatte sie nicht. „Ich habe mir und meinem Körper sehr stark vertraut und ihn auch nie verurteilt“, sagt sie. Nicht jeder kann so gut mit Rückschlägen im Sport umgehen. Deshalb gibt es Sportpsycholog:innen, die Sportler:innen in schweren Zeiten beistehen. Mit welchen Methoden dabei gearbeitet wird, erklärt Sportpsychologe Jan Bursik im Podcast.
Auf sportpsychologische Hilfe war Annika nie angewiesen. Der Reha-Prozess verlief nach ihren Vorstellungen. Sie habe jeden Tag hart auf ihr Comeback hingearbeitet. Elf Wochen nach dem Kreuzbandriss ist sie das erste Mal wieder gelaufen; der Durchschnitt liege laut Annika bei 12-14 Wochen. Vier Monate nach der OP fing sie wieder an, mit Ball zu trainieren. 176 Tage danach durfte sie wieder ins Mannschaftstraining einsteigen.
Das Comeback
Nach sechs Monaten und vier Wochen war es so weit: das Comeback. „Ich habe Rotz und Wasser geweint, als ich grünes Licht von meinem Arzt bekommen habe“, erinnert sie sich. Es war der letzte Tag, bevor sie heimgeflogen ist. „Alle meine Freunde sind gekommen, um mir zuzusehen. Es war ein emotionaler Moment, als ich eingewechselt wurde.“ Sie verspürte vor allem ein Gefühl: Stolz. „Alle haben mir gesagt, dass ich das niemals in sechs Monaten schaffen werde. Es macht mich stolz, dass ich sie vom Gegenteil überzeugen konnte.“
So schließt sich der Kreis. Auch wenn Annika mit einem anderen Gefühl von Stolz und anderen Erwartungen in ihr Auslandsjahr gestartet war, ist sie mit einem positiven Gefühl nach Hause geflogen. „Ich hatte trotzdem das Gefühl, dass ich meinen Traum leben konnte. Es ist zwar anders gekommen als geplant, aber alles passiert aus einem Grund.“ Sie sei dankbar für alle Erinnerungen und Erfahrungen, die sie gemacht hat.
„Diese Geschichte ist Teil von mir“
Annika Mutzbauer
Die Zeit in den USA hat auch ihre Vorstellung und ihren Umgang mit Stolz verändert. Sie sagt, „ich habe es mehr zu schätzen gelernt, wenn man einen gesunden, funktionierenden Körper hat. Es ist schade, dass es so weit kommen muss, um das zu tun.“ Heute ist sie noch immer nicht bei 100 Prozent − sowohl körperlich als auch mental. Wie es ihr aktuell geht und wie sie mit den Ereignissen der letzten Monate umgeht, erzählt sie im Video.
Annika ist ein positiver Mensch, der versucht negative Gefühle in positive Energie umzuwandeln. So blickt sie auch auf ihre letzten Monate zurück: „Ich habe nicht das Gefühl, dass ich einen Teil meiner Identität verloren habe. Ich habe einen neuen Part dazu bekommen. Diese Geschichte ist Teil von mir.“
Malika Winkler & Katja Bernkopf
Wir wollten dem Thema „Kreuzbandrisse im Frauenfußball“ eine größere Plattform bieten. Unsere Protagonistin hat uns mit ihrer Positivität beeindruckt.
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