Das „Café mittendrin“ ist ein Ort der Begegnung, an dem nicht nur das Gedächtnis trainiert, sondern auch das Gefühl von Zugehörigkeit gepflegt wird. Es ist ein Ort, an dem Demenz nicht das Ende bedeutet, sondern einen neuen Anfang. Eine Reportage über das Leben im Moment und die Kraft von Erinnerungen.
Von Leonie Schörnig

Jeden zweiten Mittwoch betritt Beate Schäfer den großen, lichtdurchfluteten Gruppenraum der Tagespflege der Nachbarschaftshilfe Haar. Hier leitet sie als Krankenschwester das „Café mittendrin“, eine Aktivierungsgruppe für Senioren und an Demenz erkrankte Personen. In der Mitte steht ein langer Tisch, dieser ist bunt mit Girlanden dekoriert. Durch die orangenen Vorhänge scheinen die warmen Sonnenstrahlen hinein. An der Seite des langen Raumes gibt es eine kleine Küche mit einer Kaffeemaschine. Beate legt ihre Tasche auf einem hölzernen Stuhl am Rande des Raumes ab und packt ihre Mappe mit verschiedenen Liedern und Spielen aus. „Heute spielen wir Montags-Maler, doch zuerst setzen wir uns in einem Stuhlkreis zusammen und machen eine Vorstellungsrunde“, erklärt sie. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Anke stellt Beate einen Stuhlkreis am Anfang des Raums auf. „Heute kommen sechs unserer Gäste“, berichtet Beate. Die Personen, die das „Café mittendrin“ besuchen, werden bewusst „Gäste“ genannt, denn es soll ein Ort für die Senioren sein, an dem sie nicht nur Patienten sind, sondern sich als individuelle Person wahrgenommen und wertgeschätzt fühlen können.

Wie Kindergarten für Erwachsene

Demenz ist eine Erkrankung, die mit dem fortschreitenden Verlust geistiger Fähigkeiten einhergeht. Sie betrifft vor allem das Gedächtnis, die Orientierung, die Sprache und die Fähigkeit, alltägliche Aufgaben zu bewältigen. Eine Aktivierungsgruppe bietet Aktivitäten an, um die geistigen, sozialen und körperlichen Fähigkeiten der Betroffenen zu fördern und ihre Lebensqualität zu verbessern. Das Ziel ist, Erinnerungen zu wecken, Alltagskompetenzen zu erhalten und positive Erlebnisse zu schaffen. Beate plant und bereitet alle Aktivitäten selbst vor. Oft spielen sie gemeinsam Spiele zur kognitiven Förderung wie Gegenstände erraten oder malen, basteln und singen, um die Kreativität zu fördern. Aber auch körperliche Aktivierung ist sehr wichtig „Bei schönem Wetter gehen wir mit Vorliebe spazieren“, sagt Beate. „Es ist manchmal wie Kindergarten für Erwachsene“, scherzt sie. Durch ihr herzliches Lachen und ihre offene Haltung spürt man sofort ihre Warmherzigkeit und fühlt sich willkommen. Sie hat eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht, vor ihrer Zeit im „Café mittendrin“ in der ambulanten Pflege gearbeitet und ihre Patienten zuhause versorgt. Hier jedoch agiert sie eher als Betreuerin. So trägt sie anders als in der Pflege Alltagsklamotten, eine schwarze Jeans, einen hellblauen Strickpulli und schwarze Lederstiefel. Auch ihre schulterlangen hellbraunen Haare kann sie hier offen tragen.

Hannelore betritt als erster Gast den Raum, begleitet von ihrer Betreuerin Gabi. „Meinst du wirklich, dass wir hier richtig sind?“, fragt Hannelore. Gabi meint, dass sie sich ziemlich sicher ist. Hannelore ist eine Seniorin Mitte 80, hat rötlich gefärbte Haare und trägt eine Kurzhaarfrisur. Darunter blitzen traubengroße, goldene Ohrringe hervor, ihr hellblauer Strickpullover ist mit Perlen bestickt. Ihre braunen Augen funkeln, als sie mit einem breiten Lächeln hereinkommt und im Stuhlkreis Platz nimmt. Beate und Anke setzen sich zu ihr. „Weißt du noch letzte Woche, als wir Obstsorten erraten haben?“, fragt Beate Hannelore. „Letzte Woche? Nein, das weiß ich nicht mehr“, antwortet Hannelore etwas verwirrt. „Also früher, da konnte ich mir alles merken, aber heute, ich bin ja schon über 80, da vergesse ich manche Sachen einfach. Früher in der Arbeit mit meinem Mann, da konnte ich mir alles merken. Wir hatten ein Ingenieurbüro in München. Wisst ihr, wir haben uns beim Wiener Walzer im Hofbräuhaus kennengelernt. Er konnte wirklich toll tanzen und ein halbes Jahr später haben wir geheiratet.“ Hannelore strahlt vor Lachen, als sie all das erzählt. Beate fragt: „Wow, dann habt ihr euch ja schon früh kennengelernt, oder?“ „Ja, ich war 18, wir haben uns im Hofbräuhaus kennengelernt beim Wiener Walzer und haben auch schnell geheiratet.“

Dass Hannelore genau das vor einer Minute bereits erzählt hat, weiß sie nicht mehr. Der Grund: Demenz beeinflusst in frühen Stadien besonders das Kurzzeitgedächtnis, dieses speichert Informationen für einen kurzen Zeitraum von meistens nur ein paar Sekunden bis Minuten. Menschen mit Demenz haben dadurch Schwierigkeiten, sich an neu erlernte Informationen zu erinnern, etwa „Was habe ich gerade gegessen?“ oder wie eben bei Hannelore „Was habe ich gerade erzählt?“.

„Da kann man auch einfach glücklich sein“

Holger, Thomas, Wolfgang und Robert werden von einem Fahrdienst zur Tagespflege gebracht, den die Nachbarschaftshilfe anbietet. Sie kommen in den Raum, wo Beate und Anke sie herzlich mit einer Umarmung begrüßen. Die Männer suchen sich ihren Platz im Stuhlkreis aus und setzen sich. Links von Beate sitzt Wolfgang, er ist mit 93 der Älteste in der Runde, hat eine Halbglatze und trägt einen Gehstock mit sich. Holger, acht Jahre jünger als Wolfgang, hat dunkelgraue, kurze Haare und trägt einen Schnauzer. Dunkle Augenbrauen sitzen über freundlichen, braunen Augen. Ihm gegenüber sitzt Robert, er wirkt verschlossen und ungesprächig. Robert hat zu seiner Demenz auch Depressionen. Als er die anderen begrüßt, kann man seine raue, dunkle Stimme kurz hören. Der Jüngste der Runde ist Thomas. Er ist anders als die anderen Gäste nicht dement, hatte aber vor 17 Jahren einen Schlaganfall, weshalb er seitdem an Wortfindungsstörungen leidet.

Nun macht sich Beate auf den Weg zu Gabriele, sie wohnt im betreuten Wohnheim über der Tagespflege. Gabriele muss abgeholt werden, denn sie vergisst sonst zu kommen. Sie setzt sich auf den letzten freien Stuhl im Kreis. „Wie geht es euch denn heute?“, beginnt Beate das Gespräch. Holger antwortet: „Also mir geht’s immer gut, man hat ja eigentlich keine Wahl, da kann man auch einfach glücklich sein.“ „Das ist doch mal eine schöne Antwort“, lobt Beate. „Mir geht’s auch gut, Holger hat Recht. Man sollte immer was Positives finden in seinem Leben“, ergänzt Thomas. Beate spricht sehr vertraut mit ihren Gästen, in der Runde duzen sich alle. Dadurch kann eine schöne persönliche Ebene entstehen. Das persönliche Ansprechen hat bei Menschen mit Demenz eine sehr positive Wirkung, denn es führt dazu, das Gefühl von Wertschätzung und Identität zu stärken. So reagieren Betroffene eher, außerdem schafft es eine emotionale Verbindung, was Ängste abbauen kann und beruhigend wirkt.


„Können sich alle noch einmal vorstellen?“, fragt Gabriele. Beate knüpft an: „Gerne, fang du doch direkt an, dich vorzustellen, Gabriele.“ Sie fasst sich nervös durch ihre Haare und zögert etwas beim Sprechen. „Ich bin in Stettin während des Zweiten Weltkriegs geboren und mit meiner Familie geflohen, als ich eine Woche alt war.“ Sie verhaspelt sich im Satz und hört dann auf zu reden. Wolfgang knüpft an Gabrieles Vorstellung an und berichtet von seiner Kindheit und von seinen Erlebnissen aus vielen Ländern. Als Nächster ist Thomas dran. Er versucht, einen Satz zu beginnen, kommt aber immer wieder ins Stottern. Beate und die Gäste bleiben geduldig und hören auch ihm aufmerksam zu. Diese Geduld ist besonders wichtig. Die Senioren fühlen sich durch die Gespräche eingebunden und man kann dadurch Einsamkeit verringern. Gemeinsames Erinnern und Lachen verbessern die Stimmung und das Zugehörigkeitsgefühl. Auch bei Robert lässt sich das gut erkennen. Anfangs war er sehr zurückgezogen, doch im Laufe des Gesprächs möchte auch er persönliche Erlebnisse erzählen. Hannelore stellt sich vor: „Also ich komme aus Kolbermoor und wir hatten dort eine sehr schöne Kindheit. Ich wollte dennoch unbedingt nach München zum Arbeiten.“ Nachdem alle Gäste an der Reihe waren, fasst Beate das Gesagte noch mal kurz zusammen, um alle zu inkludieren.

Nächste Woche wird sie nicht mehr wissen, dass sie heute hier war

Nun ist Zeit für Kaffee und Kuchen. Die Gäste setzen sich zu Tisch und führen die Gespräche über ihre früheren Berufe weiter. Beate und Anke verteilen dabei Essen und Getränke. Sie spielen das Rate-Spiel Montags-Maler. Beate steht am Ende des Tischs an einer Tafel und beginnt, Begriffe zu zeichnen, die sie sich vorher überlegt hat. Sie malt einen langen, gewellten Strich und darauf eine Blume. Als sie die Dornen an den Stängel malt, erkennt Robert die gemalte Rose und ruft laut die Lösung. Robert errät auch bei den nächsten Begriffen als Erster richtig. Beate freut sich sichtlich darüber und lächelt, wenn Robert wieder ein Wort einwirft. Durch dieses Erfolgserlebnis scheint er gesprächiger zu werden und seine Stimmung hat sich verbessert.

Am anderen Ende des Tischs unterhalten sich Hannelore und Anke. „Wie komme ich denn heute nachhause?“, fragt Hannelore besorgt. Anke versucht sie zu beruhigen und erklärt, dass ihre Enkelin Sarah sie heute um 17 Uhr abholt. Hannelore hat Angst, dass Sarah den Weg nicht findet, denn sie kann sich nicht erinnern, dass sie jede Woche von ihr nachhause begleitet wird. Als Sarah um kurz vor fünf in den Gruppenraum kommt und sich neben ihre Oma setzt freut sich Hannelore sehr darüber und sagt auch zu Beate, wie sehr es ihr heute gefallen hat. Beate und Anke helfen den anderen Gästen mit ihren Mänteln und umarmen und verabschieden jeden persönlich. Hannelore wird von ihrer Enkelin aus der Tür begleitet und sagt zum Abschied noch mal: „Vielen Dank, ihr Lieben, es hat sehr Spaß gemacht!“ Doch nächste Woche wird sie sich nicht mehr erinnern können, dass sie heute hier war. Das gute Gefühl, das Lachen und die Aktivität aber nimmt sie mit nach Hause.