Ein falscher Tritt, kein Weg zurück

Die Berge faszinieren mit Weitblick, Freiheit und Abenteuer. Doch wer sich in steiles Gelände wagt, setzt sich auch Risiken aus – vor allem dann, wenn es an Vorbereitung oder einer realistischen Selbsteinschätzung fehlt. Eva Stadler weiß aus eigener Erfahrung, was es heißt, wenn Wandern zur Gefahr wird.

von Anna Eglsoer und Victoria von Schroetter

Auf dem Weg zum Plöckenstein-Gipfelkreuz | Quelle: Anna Eglsoer

Sonntagnachmittag, kurz nach dreizehn Uhr. Heiße und trockene Luft steht still, während sich der Straßenteer unter den Füßen langsam aufheizt. Ein kurzer Blick nach oben – ein milchiger Schleier bedeckt den hellblauen Himmel und nimmt dem Bergpanorama seine klare Kontur. Die Temperaturen sollen laut Wetterbericht auf 32 Grad klettern. Heute sind nicht viele Menschen zu Fuß unterwegs, lediglich ein paar Radfahrer kreuzen den Weg. Eva Stadler schultert ihren Rucksack, zieht die Sportkappe tief ins Gesicht. „Dann geh´ ma mal los.“ Der Pfad schlängelt sich entlang niedriger Bergkiefern und kahler Baumstämme, die stumm in den Himmel ragen. Eva will heute zurück zu der Stelle, an der sie vor dreieinhalb Jahren für einen Moment vollkommen hilflos war. Bis dorthin liegen fünfzig Minuten Fußmarsch vor ihr.

Rückblick – Januar 2022

Dreieinhalb Jahre zuvor – im Januar 2022. Eva kennt die Gegend rund um den Dreisessel gut. Aufgewachsen in Grainet, einem Dorf im Bayerischen Wald, sind es nur rund 15 Kilometer bis dorthin. Wie so oft macht sie sich gemeinsam mit ihrer Familie auf den Weg zu einer spontanen Wanderung. „Der Sonntag war relativ schön, wir saßen beisammen und haben ausgemacht: Jetzt gehen wir noch geschwind zum Dreisessel. Aus diesem geschwind ist eine Woche Krankenhaus geworden“, erzählt sie. Heute soll es für Eva zurück gehen – zurück an den Ort, an dem sie im Januar plötzlich bewegungsunfähig und vollkommen hilflos war.

Der Dreisessel, ein Berg gelegen im Dreiländereck zwischen Deutschland, Österreich und Tschechien, ist mit seinen Wanderrouten sowohl für Anfänger als auch für erfahrene Bergsteiger ein vielbesuchtes Ausflugsziel. Ein wesentlicher Grund für seine Beliebtheit: Wer den Aufstieg vom Tal aus nicht schafft, kann mit dem Auto fast bis zum Gipfel fahren und dort auf über 1000 Metern Höhe Bergluft schnuppern. Oben angelangt führen verschiedene Routen entlang dem Höhenkamm. Besonders beliebt ist die Tour hinauf zum Gipfelkreuz am Plöckenstein. Sie führt über das Steinerne Meer, einen felsigen Weg, der an wogende, steinerne Wellen erinnert. Auch Eva und ihre Begleiter:innen waren an diesem Januartag dorthin unterwegs, ohne zu ahnen, dass sich ihre Pläne innerhalb von Sekunden ändern würden.

Achtsam, aber bestimmt, setzt Eva einen Fuß nach dem anderen auf die unterschiedlich großen Felsbrocken, die den Weg vorgeben. Der Pfad ist von Wurzeln durchzogen, die sich aus dem Boden winden und leicht zu Stolperfallen werden. Jeden Schritt setzt sie mit Bedacht, viel Zeit zum Reden bleibt nicht. Plötzlich bleibt Eva für einen kurzen Moment stehen. Mit ausgestrecktem Finger zeigt sie auf eine Felsformation vor ihr: „Hier oben ist es passiert“. Mit fokussiertem Blick legt sie die letzten Meter zurück, bevor sie schließlich das Gipfelkreuz erreicht.

Plöckenstein-Gipfelkreuz im Sommer 2025 & im Winter 2022 | Quelle: Anna Eglsoer & Eva Stadler

„Als würde man einen Ast mit dem Knie durchbrechen“

Eva lässt ihren Blick schweifen und geht ein paar Schritte. „Im Winter sah es hier ganz anders aus. Ich glaube, es war dort“, ruft sie, während sie auf einen großen, schräg abfallenden Stein zeigt. Eva lässt ihren Unfall Revue passieren. Über ihre Erfahrung auf dem Dreisessel zu sprechen, fällt ihr nicht schwer: „Es war ein traumhafter Wintertag und es waren viele Leute oben auf dem Berg. Wenn ich nicht gestürzt wäre, dann wäre es wahrscheinlich zehn Minuten später jemand anderem passiert.“ Als Eva und ihre Begleiter:innen damals am Gipfelkreuz ankamen, hatten sie eigentlich geplant, sofort weiterzugehen. Doch plötzlich rutscht Eva unglücklich aus und stürzt direkt auf die darunterliegenden Felsen. Noch während des Falls spürt sie, dass etwas nicht stimmt: „Es hat sich angehört, als würde man einen Ast mit dem Knie durchbrechen.“ Ihr Vater versucht ihr zu helfen, stützt sie auf einen nahegelegenen Stein. Eva möchte es aber wagen, sie versucht zwei Schritte zu gehen. Ihr Fuß lässt kaum Gewicht zu.

„Was nun?, habe ich mich in dem Moment gefragt. Ich bin in unwegsamen Gelände, da ist Schnee, ich komme von allein nicht aus der Situation heraus. Ich bin hilflos und muss darauf hoffen, dass so schnell wie möglich jemand kommt, der Erfahrung hat und mir hilft.“

Eva Stadler

Parkplatz Dreisessel
Wanderroute Eva
Wanderroute Eva
Wanderroute Eva
Wanderroute Eva
Wanderroute Eva
Wanderroute Eva
Wanderroute Eva
Steinernes Meer
Gipfelkreuz am Plöckenstein

Evas Wanderroute über das Steinerne Meer bis zum Plöckenstein-Gipfelkreuz

Retter zur Stelle

Acht Personen waren damals an Evas Rettung beteiligt. Der erste vor Ort war Stefan Berger, Bereitschaftsleiter der Bergwacht Passau-Dreisessel. Eva kennt Stefan persönlich und weiß, dass er Mitglied der Bergwacht ist. Anstatt der international gültigen Notrufnummer 112, wählt sie deshalb direkt Stefans Mobilfunknummer: „Eva hat mich privat angerufen und ich habe den Einsatz dann in der Leitstelle ausgelöst. Ich war zufällig selbst gerade am Dreisessel mit einer Gruppe beim Schneeschuhwandern und bin direkt zu Eva marschiert“, erzählt Berger. Gemeinsam mit den nachgerückten Einsatzkräften transportiert er Eva mit einer Gebirgstrage zu Fuß das Steinerne Meer hinab und übergibt sie den dort wartenden Rettungskräften des Roten Kreuz. In der Regel setzt die Bergwacht einen Helikopter für die Bergung ein. Die verletzte Person wird in einem Luftrettungssack verpackt und per Seilwinde in den Hubschrauber gezogen. An diesem Tag machte dichter Nebel einen Anflug allerdings unmöglich. Insgesamt vergehen circa zwei Stunden zwischen Evas Anruf und ihrer Übergabe an den Krankenwagen. „Der Rettungsvorgang dauert um ein Vielfaches länger, wenn die verunfallte Person zu Fuß abtransportiert werden muss“, schildert Berger.

Schweigend lässt Eva den Blick über die Landschaft wandern. Um sie herum ist nichts außer grünes Gebüsch, kahle Bäume und unregelmäßige Steine. Sie geht zwei Schritte und bleibt auf der Kante eines großen Granitsteins stehen. „Normalerweise könnte man jetzt noch weitergehen“, sagt Eva, während sie auf einen schmalen Pfad zeigt, der sich entlang der großen Felssteine hinter dem Gipfelkreuz schlängelt. Weitergehen – das war für Eva damals unmöglich. Ohne die Hilfe der Bergwacht wäre sie nicht mehr ins Tal zurückgekommen. An die Bergung erinnert sich Eva bis heute mit Dankbarkeit zurück: „Ich war einfach nur froh, dass das Team so professionell war – sie haben mich zu keiner Zeit verunsichert und wussten genau, was zu tun ist. Für mich war es ein perfekt eingespieltes Team. Solche Leute braucht man in diesen Momenten.“

Wenn Stefan Bergers Meldeempfänger piepst, dann rückt er gemeinsam mit seinen Kolleg:innen in einem Dienstgebiet von Bad Griesbach bis zum Dreisessel aus – in unwegsames Gelände – also überall dort, wo der Landrettungsdienst nicht hinkommt.  Die Bergwacht Passau-Dreisessel bildet zusammen mit der Bergwacht Hauzenberg-Waldkirchen den Einsatzleitbereich Unterer Bayerischer Wald. Evas Sturz am Plöckenstein-Gipfelkreuz ist kein Einzelfall. Laut Stefan Berger zählen das Steinerne Meer sowie auch der Adalbert-Stifter-Steig zu den typischen Einsatzorten der Bergwacht. In der kompletten Region Ilztal, Innleiten, Dreisessel und Donauleiten kommt es durchschnittlich zu 35 Alarmierungen pro Jahr. Betroffen sind Menschen jeden Alters, vom Kind bis zum 80-jährigen Rentner. Die Zahl der Einsätze schwankt stark mit den Jahreszeiten: Während die Bergwacht Bayern im Sommer letzten Jahres 1478-mal ausrücken musste, gingen die Einsätze im Winter auf 457 gerettete Wander:innen zurück. Auch Stefan Berger spricht davon, dass sich seine Arbeit als Einsatzkraft der Bergwacht verändert hat: „Die Bergwacht ist ursprünglich der Winterzeit entstanden zur Rettung verunfallter Skifahrer. Mittlerweile gibt es auf dem Dreisessel keinen Skilift mehr und das Einsatzgeschehen verlagert sich mehr in Richtung Sommer.” Zwar sind noch immer viele Skitourengeher:innen unterwegs, doch Unfälle seien in dieser Jahreszeit seltener geworden. „Das sind meist erfahrene Leute, die den Berg gut kennen“, erklärt Berger.

Vorbereitung ist das A und O 

Laut Berger mangelt es den Verunfallten meist nicht an einer guten Ausrüstung. Die eigentliche Ursache vieler Wanderunfälle sieht der Bereitschaftsleiter in einer mangelnden Vorbereitung: „Viele verlassen sich viel zu sehr auf Apps und Foren im Internet und setzen sich nicht wirklich mit der Tour auseinander. Sie verlassen sich auf Angaben von durchtrainierten Wanderern und denken sich: ‚Wenn der das schafft, dann schaffe ich das auch.‘“ Im Fall von Eva war es anders: Sie kannte die Route gut, war vorbereitet und entsprechend ausgerüstet – dennoch kam es zum Unfall. Ihr Erlebnis zeigt, dass sich selbst mit sorgfältiger Planung nicht alle Gefahren vermeiden lassen. Fehlt hingegen die nötige Vorbereitung, steigt das Risiko erheblich. Ist der Körper den Belastungen nicht gewachsen, kann eine vermeintlich harmlose Wanderung schnell überfordernd und gefährlich werden. Dass sich Wander:innen von Angaben im Netz in die Irre führen lassen, das beobachtet Berger mittlerweile häufig:

„Die einen schreiben unreflektiert irgendwelche Angaben ins Netz und die anderen übernehmen das genauso unreflektiert und denken gar nicht darüber nach, ob der Verfasser in der gleichen Leistungsstufe ist.“

Stefan Berger 

Mehr über Evas Sturz, ihre Ausrüstung, den Ablauf der Rettung und darüber, was ihr selbst tun könnt, um beim Wandern sicher unterwegs zu sein, erfahrt ihr in der Podcastfolge:

Der Deutsche Alpenverein (DAV) erfasst alle zwei Jahre die Bergunfälle seiner Vereinsmitglieder. Der zuletzt veröffentlichte Bericht im Jahr 2022 weist mit 1242 verunfallten Mitgliedern einen Rekord bei den absoluten Unfallzahlen aus. Auf einem niedrigen Niveau waren die Todeszahlen: Im Jahr 2025 sind 28 DAV-Mitglieder tödlich verunglückt. Einsatzkräfte der Bergwacht wie Stefan Berger arbeiten oft Hand in Hand mit Polizeibergführer:innen, speziell geschulte Polizeibeamt:innen für Einsätze im Gebirge. Wann die Polizeibergführer:innen ausrücken und welche Übungen sie absolvieren, um für den Notfall gerüstet zu sein, seht ihr im Video.

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Es ist inzwischen fünfzehn Uhr. Eva befindet sich auf dem Rückweg ihrer Tour. Mit großen Schritten steigt sie das Steinerne Meer hinab. Kurz bleibt sie stehen und dreht sich um – ein letzter Blick zurück zum Gipfelkreuz. Die Berge und das Gefühl von Freiheit, das sie mit ihnen verbindet, hat sie nicht einfach aufgegeben. Der Unfall hat sie nicht entmutigt. Ihre Verletzung ist längst verheilt und die Tour zum Gipfelkreuz am Plöckenstein ist sie seitdem schon mehrfach wieder gegangen. Wann es das nächste Mal in die Berge geht? Eva lacht leise. „Morgen, übermorgen, mal sehen.”

Anna Eglsoer & Victoria von Schroetter 

Unser Projekt hat uns gezeigt, wie wertvoll der Einsatz engagierter Helfer und Helferinnen ist, die im Ernstfall bereit sind, schnell zu handeln und dabei sogar ihr eigenes Leben für das Wohl anderer aufs Spiel setzen.