Wenn Pflege krank macht

20 Jahre lang war Alexandra Keßler in der Pflege tätig. Der Druck und die schlechten Arbeitsbedingungen bringen sie an ihre Grenzen – Sie wurde krank. Heute leitet sie eine Nachhilfe für Auszubildende in der Pflege.

Menschen im Pflegeberuf (Symbolbild) © Colourbox

Am Bahnhof in Pfarrkirchen befindet sich ein kleines Café. Draußen sitzen an einem Morgen Anfang Juli schon einige Leute an Holztischen in der Sonne. Nur wenige Meter entfernt ist das GreG, das Gründerzentrum in Pfarrkirchen. Denkfabrik steht auf der Hausfassade. Innen ist die Einrichtung minimalistisch, hier stehen in Büros und Co-Working-Räumen große hölzerne Tische – die Werkbank für neue Konzepte. In einem kleinen Raum sitzt Alexandra Keßler. Sie ist die Gründerin von Mathetes, einem Nachhilfeservice für Pflegeauszubildende. Eine Pflanze und moderne Stühle mit einer runden Lehne und gelbem Polster im Hintergrund wirken einladend. Auf einem hohen Tisch liegen Notebook und Tablet. Vor Keßler steht ein Glas Cola, die trinkt sie lieber als Kaffee. Sie war lange Pflegerin, vor allem ambulant bei Patient:innen zu Hause – bis die Anforderungen so groß wurden und sie ein Burnout bekam. Heute leitet sie in ihrem Start-up Pflegende an. Sie erzählt von sich. Zwanzig Jahre in der aktiven Pflege.

Alexandra Keßler © Daniel Freye

Keßler, eine Frau mit randloser Brille und elegantem Kurzhaarschnitt, erzählt ausführlich von ihrem Start-up. Eine Freundin von ihr erlitt ein ähnliches Schicksal. Zusammen hatten sie eine Idee: Eine Nachhilfe für Pflege-Auszubildende. Schon früher hatte sie Azubis angeleitet. „Das war damals schon mein Steckenpferd“, erzählt sie.

Sie berichtet, der Unterrichtsstoff in der Ausbildung werde aus Zeitmangel oft nur oberflächlich erklärt. Am Tag in den Betrieben zu arbeiten ist anstrengend, oft ohne Pause, insbesondere in der Pandemie. Sie möchte Auszubildenden in der Pflege helfen, weil sie selbst negative Erfahrungen in ihrer eigenen Lehre gemacht hat. Mit 18 begann sie ihre Ausbildung zur Krankenpflegerin. Doch dass ihre Vorstellungen von der selbstlosen Hingabe nicht der Realität entsprechen, merkte sie bereits damals. Der Klinikalltag war ihr zu unpersönlich und zu hektisch. Keßler bedauert das: „Da ist es irgendwann nicht mehr Herr Müller, sondern die Galle auf 107”.

„Am Ende des Tages ist man platt“. Sich dann am Abend noch zu Hause hinzusetzen und zu lernen oder Aufgaben zu erledigen müssen, ist viel verlangt. „Nicht jeder schafft das“. Das schreckt einige von der Ausbildung ab, manche brechen ab und andere sind am Ende vollkommen erschöpft, so wie sie selbst.

Mit ihrem Start-up Mathetes will Alexandra Keßler es besser machen. Die digitale Nachhilfe hat den Vorteil, dass Lehrer wie Schüler von überall aus zusammenkommen können. Zoom-Meetings und Power-Point-Präsentationen ersetzen das Klassenzimmer. Keßler hat, so wie viele ehemalige Pflegenden, reichlich Erfahrung mit den Patientinnen und Patienten gesammelt. „Viele Tricks eignet man sich mit der Zeit an“, warum soll man diese Erfahrung nicht weitergeben? Inzwischen hat sie zwei Kolleg:innen, die nebenberuflich bei ihr in der Nachhilfe arbeiten. Da sie auch noch in der Pflege arbeiten, sorgen sie dafür, dass die Informationen aktuell bleiben. Keßler ist es wichtig, ihre Nachhilfe auf die Bedürfnisse und Interessen der Azubis auszurichten. „Anderen zu helfen, tut mir gut” – ob in der Pflege selbst oder in der Ausbildung.

Teil ihrer Lehre war es auch, Kranke zuhause zu besuchen und vor Ort zu pflegen. Diese Arbeitsweise unterschied sich grundsätzlich von der Arbeit im Krankenhaus. „Ich war total glücklich, dass ich so schnell in die Ambulanz wechseln konnte”. Es gefiel ihr, dass sie ihren Patient:innen mehr Zeit schenken konnte. Besonders viel Freude bereitet ihr, sie schön herzurichten, sodass auch sie sich wohlfühlen.

Dass Keßler von ihrem Beruf erfüllt war, merkt man im Gespräch, sie lächelt und macht kurze Pausen als erlebe sie in Gedanken schöne Momente erneut. Es macht sie glücklich, sich um die Menschen zu kümmern.

Die Begeisterung dafür entwickelte sie bereits früh. Schon als Kind wurde sie mit dem Krankenhausalltag konfrontiert, da ihre Mutter lange Zeit im Krankenhaus lag. Was Keßler fasziniert hat: die Aufopferung der Pflegekräfte für ihre Patientinnen und Patienten. Sie stellte sich vor, wie sie sich selbst um die Menschen kümmert, ihnen Essen bringt und sie unterhalten kann. So fasste sie schon früh den Beschluss, später einen sozialen Beruf auszuüben. Mit 18 setzte sie diesen Traum in die Tat um und begann ihre Ausbildung zur Krankenpflegerin.

Doch dass ihre Vorstellungen nicht der Realität entsprechen, merkte sie bereits in der Ausbildung. Der Klinikalltag war ihr zu unpersönlich und hektisch. Keßler bedauert das: „Da ist es irgendwann nicht mehr Herr Müller, sondern die Galle auf 107. Irgendwann erhöhte sich nicht nur im Krankenhaus, sondern auch bei den Hausbesuchen der Druck. Weniger Zeit, mehr Leistung: Du darfst fürs Rasieren nur noch drei Minuten brauchen“. Der tägliche Lauf im Hamsterrad wurde, so empfand sie es, schneller. Darunter litt auch der Kontakt zu ihren Kolleg:innen. Damals, mitten im Beruf, hinterfragte sie diesen Stress fast gar nicht.

« In der Pflege brauchen wir einen 180°-Paradigmenwechsel. »

Der ehemalige Pfleger Bernhard Krautz arbeitet jetzt bei der Vereinigung der Pflegenden in Bayern (VdPB). Über den Ausstieg aus dem Pflegeberuf sagt er: „Pflegende steigen aus, weil sie es schlicht körperlich oder psychisch nicht mehr schaffen” Die Belastung ist zu hoch, sie werden den eigenen Ansprüchen an den Beruf nicht mehr gerecht. „Man wird in dem System mürbe”. Ethisch seien solche Bedingungen nicht vertretbar. „Bundesweit werden wir die derzeitige Pflegesituation nicht erhalten können”. Die Gesellschaft wird älter, Arbeitskräfte steigen aus. Der Beruf muss weiterentwickelt werden. Prävention für Pflegebedürftigkeit ist möglich.

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Alexandra Keßler beschreibt, wie gerne ihr trotz des Drucks und der Überanstrengung der Pflegeberuf gefällt. Lange Zeit gelang es ihr noch, einen Teil ihrer kindlichen Faszination an dem Pflegeberuf zu erhalten. Später übernahm sie die Leitung des mobilen Pflegeteams, mit dem dazugehörigen Mehraufwand. Neben der Koordination der Mitarbeiter:innen, gehörten auch Gespräche mit Patient:innen und Angehörigen dazu, die sich für den Pflegeservice interessierten. Sie lächelt, wenn sie von diesen Gesprächen erzählt, weil sie den Menschen oft helfen konnte.

Sich in der Freizeit zu erholen, wurde immer schwieriger. „Du nimmst Schicksale mit“. Auch im Urlaub haben mitunter Kolleg:innen angerufen haben und zu einem bestimmten Thema oder Patient:innen eine Frage gestellt. Dann war der Kopf wieder bei der Arbeit. Die Angst, dass jemand anruft, war immer da. Einige Male hatten Patient:innen es auch geschafft ihre Privatnummer zu bekommen. „Das war nicht so lustig”, gibt sie zu.

« Ich habe mich überschätzt. Von einem Tag auf den nächsten ging nichts mehr. »

Die zunehmende Belastung zerrte an ihr, bis ihr Körper plötzlich protestierte. Das erlebte sie wie eine Lähmung. „Es ging plötzlich nichts mehr”. Über mehrere Tage hinweg saß sie in ihrer Wohnung. „Ich saß irgendwann auf dem Stuhl, hatte Hunger, Durst, wollte unter die Dusche. Es ging nicht.” Der Antrieb, der privat wie beruflich ihr ständiger Begleiter war, war von heute auf morgen verschwunden. Ihr wurde schlagartig bewusst: So kann es nicht weitergehen. Sie ließ sich krankschreiben, auf unbestimmte Zeit. Die Diagnose: Burnout.

Burnout als Krankheitsbild ist seit den 70er-Jahren etabliert. Häufig betrifft er Menschen in sozialen Berufen, die sich übermäßig engagieren und sich dabei verausgaben, deren Arbeit aber wenig wertgeschätzt wird. Emotional, körperlich wie auch geistig sind Betroffene erschöpft. Symptome bei einem Burnout sind von Person und Situation abhängig.

Neonlichter, volle Gänge, ein Mix aus Gesprächen und Musik. Was für die meisten Menschen ein normaler Supermarktbesuch ist, war für Keßler die pure Reizüberflutung. Während sie versucht zusammenzusuchen, was sie braucht, merkt sie immer mehr, wie die Überforderung mit der Situation sie übermannt. Panik steigt in ihr hoch. Alles ist zu viel – bis sie nur noch einen Ausweg sieht. Fluchtartig verlässt sie den Laden und lässt ihre Einkäufe zurück. Sie ringt um Worte. „Dann ins Arbeitsleben einzusteigen, ist schwierig“. Rückblickend ist sie selbst erstaunt, wie schwierig die Lage damals war.

Aus der kurzfristigen Krankschreibung wurden eineinhalb Jahre inklusive Reha-Aufenthalt und Therapie. Neben der psychischen Überforderung hatte sie auch lange Schmerzen am ganzen Körper, die eine Folge des Burnouts waren. Es gab gute und schlechte Phasen.

Nachdem die Krankschreibung von 18 Monaten auslief, stand eine Entscheidung an: Kann Alexandra Keßler bereits wieder in der Pflege arbeiten?

Wiedereinstieg in die Pflege

In einer Onlinebefragung des Instituts Arbeit und Technik Gelsenkirchen wurden Aussteigerinnen und Aussteiger aus der Pflege befragt. Knapp 60 Prozent der ausgestiegenen Pflegekräfte können sich vorstellen, wiedereinzusteigen. Würden sie wieder anfangen, wären, je nach Modell, zusätzlich 260.000 bis 580.000 Vollzeitstellen besetzt. Dafür müssen sich aber Arbeitsbedingungen ändern. Die Studie macht auch Vorschläge für Reformen. Ein besseres Ausfallmanagement könnte verhindern, dass aufgrund von Personalnot kurzfristig freie Tage geopfert werden müssen. In Aus- und Weiterbildung müsse mehr auf Teamorganisation und wertschätzende Führungskultur eingegangen werden, damit die Arbeitsatmosphäre verbessert wird. Für ehemalige Pflegende können Programme zur Einarbeitung gestartet werden. Diese helfen auch ausländischen Kräften, jungen Mitarbeitern oder Quereinsteigern.

Zu der Studie sagt Bernhard Krautz von der Vereinigung der Pflegenden in Bayern (VdPB): „Die Studie beschreibt auch, die Leute kommen nur zurück, wenn die Rahmenbedingungen stimmen“. Es geht um die Arbeitsaufgaben, um die Arbeitsbelastung, körperlich und psychisch und auch die Wertschätzung im Team oder von den Vorgesetzten. Auch Schichtdienst oder klare Arbeitszeiten spielen eine Rolle, damit Familie und Beruf gleichzeitig möglich werden. Die Bezahlung sei weniger relevant. Die Strukturen müssen geändert werden. Die VdPB macht den Vorschlag, dass Betriebe individuelle Lehrangebote machen, damit jeder passende Module aussuchen kann.

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„Ich hätte es nicht gekonnt, es hätte keinen Sinn gemacht. Ich konnte keine zwei Dinge gleichzeitig tun”, ist sich Alexandra Keßler sicher. Aufgrund der anspruchsvollen Wiedereingliederung in den Pflegeberuf entschied sich die ehemalige Pflegerin, den Betrieb endgültig zu verlassen. Diese Endgültigkeit schenkte ihr Erleichterung. Davor empfand sie die unklare Situation als zusätzliche Belastung – wie eine Pausentaste im Leben.

Keßler atmet tief durch und trinkt einen Schluck. Nach all diesen Höhen und Tiefen, die sie in ihrem Beruf erlebte, ist es ihr ein Anliegen, die Situation für kommende Pflegerinnen und Pfleger zu verbessern.

« Nach einer Pflegenachhilfe googelt keiner, wir müssen selbst bekannt werden »

Eine Nachhilfe für Pflegeauszubildende gibt es bisher noch nicht. Es ist nicht einfach, sich als neuer Dienstleister zu etablieren. Bisher wirbt sie vor allem über Messen und soziale Netzwerke. Zukünftig will Mathetes den Kontakt zu den Ausbildern direkt suchen, um effektiver zu wachsen, denn von gut ausgebildetem Personal profitieren auch die Betriebe.

Keßler will anderen Menschen Hoffnung geben. „Ich versuche, Leuten wie mir, die aussteigen, die Hoffnung zu geben, dass ihr Wissen und ihre Fähigkeiten nicht verloren sind”. So können sie die nächste Generation von Pflegerinnen und Pflegern unterstützen.

Alexandra Keßler sitzt vor ihrem Computer, hinter ihr stützen Holzbalken die schräge Decke. Sie hat viel durchgemacht in ihrem Beruf. Pflege verlernt man nicht. Inzwischen fühlt sie sich bereit, einen Wiedereinstieg in der Pflege anzugehen, jedoch in einem anderen Bereich als zuvor. „Ich möchte einfach etwas ganz Neues machen als bisher.“