Ein Leben Lang der Alien

Maxxi und Dani sind Autisten. Empathielos, unbelastbar, teamunfähig – jeden Tag werden sie mit Vorurteilen konfrontiert. Doch mittlerweile haben sogar Unternehmen ihre Stärken erkannt.

Schrillende Telefone, zahlreiche parallele Mitarbeitergespräche, ein hektisches Arbeitsgeschehen oder auch: der typische Arbeitsalltag in einem Großraumbüro. Was die einen als Förderung der Kreativität der Arbeitnehmenden und Stärkung des Gemeinschaftsgefühls durch ständigen Austausch wahrnehmen, ist für andere ein Albtraum.

Maxxi, Autist © privat

Wenn die Welt zu laut ist

Maxxi ist 22 Jahre alt und Autist. Er zählt zum sogenannten neurodiversen Spektrum. Eine hohe Reizempfindlichkeit ist ein typisches Symptom für autistische Personen und eine der größten Herausforderungen, welchen sich Menschen wie Maxxi in der Arbeitswelt stellen müssen. Ihm graut es vor einem Arbeitsalltag im Großraumbüro.

Neurodiversität

Neurodiversität bedeutet so viel wie „neurologische Vielfalt“. Die australische Soziologin und Autistin Judy Singer prägte den Begriff in den 90er Jahren. Grundsätzlich ist Neurodiversität ein Konzept, welches neurobiologische Unterschiede als eine Variante menschlicher Entwicklung betrachtet und nicht länger als Entwicklungsstörung oder Krankheit.

Zum neurodiversen Spektrum zählen unter anderem:

  • Autismus-Spektrum-Störungen
  • Aufmerksamkeitsstörungen wie ADHS oder ADS
  • Lese- und Rechtschreibstörungen sowie Rechenstörungen
  • Allgemeine Entwicklungsstörungen, welche Sprache und Motorik betreffen

Bereits im Alter von fünf Jahren wurde bei Maxxi das Asperger-Syndrom diagnostiziert. Schon damals war seine starke Reizempfindlichkeit das Indiz dafür, dass er sich anders entwickelte als die restlichen Kinder im Kindergarten. „Meine erste Frage als Kind war: ‚Oh mein Gott, warum findet ihr das toll, alle so laut durch die Gegend zu brüllen und brüllt dann mit? Mir fallen die Ohren ab.‘ Das war tatsächlich die erste Erkenntnis, die ich hatte: dass die Welt viel zu laut ist. Das ist mir auch bis heute alles viel zu laut.“

Die Kommunikationsbedürfnisse von Menschen im Autismus-Spektrum unterscheiden sich stark von denen neurotypischer Menschen, welche sich wiederum dadurch auszeichnen, dass ihre Entwicklung der psychologischen und medizinischen Norm entspricht. So haben Menschen im Autismus-Spektrum starke Probleme mit Doppeldeutigkeiten, unklaren Aussagen und nonverbalen Signalen. „Warum sagt ein Mensch nicht das, was er auch meint? Viele brauchen sehr direkte Aussagen. Auch wenn diese Aussagen harsch klingen, ist es so leichter und kommt bei uns dadurch höflicher und besser an“, erklärt Maxxi.

„Autismus ist kein Systemfehler, sondern ein anderes Betriebssystem.“

Dirk Müller-Remus, Gründer von Auticon, dem ersten Unternehmen in Deutschland, welches ausschließlich autistische Menschen als IT-Consultants einsetzt.

Den Grundsatz, möglichst klar zu kommunizieren und Doppeldeutigkeiten zu vermeiden, hat das Sozialunternehmen Specialisterne bei sich im Team etabliert.

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Die Räumlichkeiten von Specialisterne befinden sich in einem schönen Altbau mit Innenhof, mitten in Wien. Über zwei Stockwerke erstrecken sich die Büroräume, die in ihren Einrichtungsfarben in Naturtönen gehalten sind. Der Eindruck von Naturverbundenheit und Ruhe wird von zahlreichen Pflanzen unterstrichen. Heute haben sich nur insgesamt drei Gäst:innen zum Einführungsvortrag, einer sogenannten „Q&A Session“, über die Leistungen von Specialisterne eingefunden. Zusammen mit zwei Mitarbeiterinnen, Johanna und Martina, sitzen sie in einem großen, hellen Raum, in dem u-förmig mehrere Tische arrangiert wurden. Auf einem Tisch stehen mehrere Obstteller und Süßigkeiten für die Teilnehmenden bereit, bedienen tut sich jedoch niemand. Zu groß ist die Aufregung, was auf sie zukommen wird. Zwischendurch springt Villy, der Bürohund, durch den Raum und lockert die Stimmung etwas auf.

Normalerweise seien es mehr Teilnehmende. „Ein Sommertief“, vermutet Martina. Sie und Johanna arbeiten im Talent-Scouting Team von Specialisterne. Auch sie achten bei ihrer Q&A Session auf eine möglichst klare Kommunikation und Struktur. So beginnen sie ihren Vortrag mit einem klaren Ablauf der folgenden sechzig Minuten, um den neurodivergenten Teilnehmenden zu zeigen, worauf sie sich einstellen müssen. „Es ist wichtig, dies auch so einzuhalten und nicht zu sagen: ‚Es dauert 60 Minuten‘ und dann 2 Stunden zu machen“, erklärt Johanna. Zudem enthalten die Folien sehr viel Text und sind möglichst reizarm gestaltet – das heißt, es wurde auf ein aufwendiges Design oder Animationen verzichtet.

Ohropax für die Augen

Ebenso wie der autistische Specialisterne Mitarbeiter Dani hat auch Maxxi über die Jahre hinweg Bewältigungsmechanismen erlernt, um mit den Symptomen seiner Neurodivergenz besser umgehen zu können. So setzt er sich beispielsweise viel mit Verhaltenspsychologie auseinander, um das mangelnde Empathievermögen, welches mit seinem Autismus einhergeht, auszugleichen und sich besser an seine Mitmenschen anzupassen. Auch für einen besseren Umgang mit der ständigen Reizüberflutung in seiner Umwelt hat Maxxi einige Strategien entwickelt. Er vermeidet unter anderem Stoßzeiten in Geschäften, indem er seine Einkäufe nach Möglichkeit abends erledigt. Genauso wie Dani bereiten ihm ein hoher Geräuschpegel und grelle Deckenstrahler Probleme. Er greift aus diesem Grund auf Noise-Cancelling-Kopfhörer und eine Sonnenbrille zurück: „Weil dann die Welt einfach ein wenig dunkler ist und in meinen Augen nicht mehr so laut. Das ist wie Ohropax für die Augen.“

Dass ihn dadurch einige Menschen in seiner Umwelt als „anders“ empfinden, ist Maxxi bewusst. Doch inzwischen kommt er damit gut zurecht. Er geht offen mit seiner Neurodivergenz um und setzt sich auch für andere neurodivergente Menschen ein, die sich nicht trauen, selbst tätig zu werden: „Ich spreche Organisationen oder die Betreiber verschiedener Orte an, um diesen Ort für uns zugänglicher zu machen.“ Aktuell handelt er mit dem Betreiber des lokalen Supermarktes in seiner Heimat eine stille Einkaufsstunde aus, „wo das Licht gedämmt und keine Musik gespielt wird, damit autistische Personen besser zum Einkaufen gehen können.“

Nicht nur das alltägliche Leben, sondern auch unsere Arbeitswelt ist für neurotypische Menschen ausgelegt. Dies zeigt sich allein dadurch, dass unter erwachsenen Menschen im Autismus-Spektrum eine Arbeitslosigkeit von über 80 Prozent herrscht. Und das, obwohl es autistischen Personen nicht an fachlichem Wissen oder einer guten Bildung mangelt. Maxxi erinnert sich: „Soziale Skills haben sich bei mir später entwickelt, dafür aber intellektuelle Skills früher.“ So konnte er bereits vor seinem Schuleintritt flüssig lesen und schreiben. „Grundrechenarten habe ich mit dem sechsten Lebensjahr flüssig beherrscht, auch im dreistelligen Zahlenbereich.“ Im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung haben viele autistische Menschen überdurchschnittliche Bildungserfolge. Zudem zeichnen sich Menschen im Autismus-Spektrum durch ein ausgeprägtes logisches Denkvermögen aus. Maxxi sah seine Stärken in der Schulzeit in Mathematik und naturwissenschaftlichen Fächern und gibt bis heute Nachhilfe in diesen Bereichen. „Wenn ich Zahlen oder wissenschaftliche Dinge sehe, baut sich in meinem Kopf eine Art Matrix vor meinem inneren Auge auf und dann erklärt sich mir das quasi von selbst.“

Helfen Ja, Betteln Nein

Diese speziellen Fähigkeiten von vielen autistischen Menschen waren der Grundbaustein für das Kursangebot der Specialisterne Academy. Derzeit bieten sie vier neurodivergenzgerechte Fachkurse im IT-Bereich an. Mit der Öffnung der Leistungen gegenüber weiterer Symptomatiken des neurodiversen Spektrums soll das Angebot in Zukunft erweitert werden. „Mittlerweile evaluieren wir hier Themen wie Projektmanagement und auch kreative Berufe“, sagt CEO Anna Marton. Dies seien Tätigkeiten, in denen es sehr stark darum geht, in chaotischen Momenten Überblick zu behalten und krisensichere Entscheidungen zu treffen. „Das betrifft Menschen im ADHS-Spektrum mehr als Menschen im Autismus-Spektrum.“ Jedoch sei es auch innerhalb des jeweiligen Spektrums wichtig, jeden individuellen Fall genauer zu betrachten, weswegen Johannas und Martinas Aufgabe in den Q&A Sessions nicht nur darin besteht, den Interessenten Infos an die Hand zu geben, sondern zudem abzuklären, ob sie überhaupt für eine Ausbildung im IT-Bereich geeignet sind. „Wenn wir für ein Ausbildungsformat bei uns aussuchen, dann geht es nicht um die Diagnose, sondern um das Stärkenprofil“, erklärt Marton. Dies gelte auch für die weitere Vermittlung der Spezialisten. Das hieße aber auch, dass nicht jeder rein aufgrund seiner Diagnose angenommen werde. Da die angebotenen Fachkurse nicht auf null aufbauen, sind Vorerfahrungen im IT-Bereich essenziell. Damit ist jedoch nicht zwingend Berufserfahrung gemeint: „Teilweise kommen Personen zu uns, die jahrelang nur zuhause waren, aber zehn Stunden am Tag vor dem PC sitzen, gerne gamen und schon selbst kleine Spiele programmiert haben“, erklärt Martina. „Wir bewerten Lücken im Lebenslauf nicht schlecht“, fügt Johanna hinzu. Bei Menschen aus dem neurodivergenten Spektrum sei dies nämlich keine Seltenheit. Auch Personen, welche bereits fundierte Ausbildungs- oder Berufserfahrungen mitbringen, werden in den Q&A-Sessions identifiziert und unmittelbar in die Direktvermittlung weitergeleitet. „Nicht jede Person bekommt bei uns eine Ausbildung, weil nicht jede eine braucht“, erklärt Marton.

Anna Marton, © Specialisterne

Neben Martinas und Johannas erster persönlicher Einschätzung gibt es auch einen zweiten Filter, den die Interessenten durchlaufen müssen, bevor sie eine Ausbildung bei Specialisterne beginnen können: einen zweiwöchigen Kompetenzcheck. Die Gründe, weshalb es am Ende nicht klappt, sind vielfältig. Specialisterne unterstützt Interessenten nur bei der Jobvermittlung auf dem ersten Arbeitsmarkt. Geht die Neurodivergenz einzelner Personen jedoch mit stark kognitiven Defiziten einher, „sind andere Arbeitswelten besser geeignet“, erklärt Johanna. „Wir sind kein Sozialprojekt und betteln nicht bei Unternehmen: bitte nehmen Sie die Person“, stellt Martina klar.

Ein weiteres bislang nicht genutztes Potential sieht Maxxi in den Spezialinteressen, die viele autistische Menschen entwickeln. Spezialinteressen können bestimmte Themen oder Objekte sein, mit welchen sich die Personen sehr intensiv, teilweise auch ungewöhnlich lange beschäftigen. In Maxxis Fall ist eines dieser Spezialinteressen die Bahntechnik. Auch dies erkennen viele Führungskräfte nicht: „Sie könnten unsere Spezialinteressen dadurch, dass wir in diesen Gebieten meist ziemlich gut sind, fachlich nutzen.“ Zudem haben viele Menschen mit Autismus ein gutes Auge für Details und Muster sowie Anomalien und mögliche Fehler und können diese Gabe im beruflichen Kontext nutzen.

Potentiale neurodivergenter Personen

Ausgebrannt

Die größte Hürde ist also nicht eine mangelnde Leistungsfähigkeit auf Seiten der autistischen Personen, sondern vielmehr die mangelnde Barrierefreiheit des Arbeitsumfelds. Und diese beginnt schon deutlich vor dem konstanten Geräuschpegel im Großraumbüro. Maxxi berichtet, dass bereits das Anschreiben im Bewerbungsverfahren bei vielen neurodivergenten Menschen zu Schwierigkeiten führt. Grund hierfür ist die mangelnde Transparenz auf Seiten der Arbeitgeber bezüglich der Erwartungen und Entscheidungsprozesse, welche für Menschen mit Autismus eine starke Belastung darstellen. Meistern neurodivergente Menschen dennoch diesen ersten Schritt, erstreckt sich die mangelnde Barrierefreiheit auch auf das folgende Bewerbungsgespräch und die dort herrschende Etikette. So erklärt Maxxi, dass viele Menschen aus dem Autismus-Spektrum zum Beispiel Probleme haben, Augenkontakt zu halten: „Das wird oft als unhöflich oder desinteressiert wahrgenommen. Schon da fallen die meisten Leute aus dem Bewerbungsverfahren einfach raus.“

Schaffen neurodivergente Menschen trotz dieser Hürden einen Start ins Arbeitsleben, werden die Herausforderungen nur dann kleiner, wenn der Arbeitgeber sich gezielt auf sie einstellt und die nötigen Anpassungen trifft. Dennoch gibt es viele Menschen mit Autismus, die in einem nicht-barrierefreien Arbeitsumfeld arbeiten. Um dort zu bestehen, betreiben viele das sogenannte „Masking“, was bedeutet, dass sie versuchen, sich möglichst „normal“ zu verhalten und sich so in ihr neurotypisches Umfeld einpassen. Statt die Umweltbedingungen zu verändern, verändert sich der Einzelne, um mit dem Strom zu schwimmen. „Du bist der Alien. Du bist dein Leben lang der Alien. Und wenn du nicht wie ein Alien behandelt werden möchtest, lernst du dich zu verstellen“, erklärt Maxxi. Hinzu kommt die permanente Reizüberflutung, der Menschen mit Autismus im Arbeitsumfeld ausgesetzt sind. Nicht selten resultiert dies in einem sogenannten neurodivergenten Burnout: „Irgendwann ist man einfach mit den Nerven am Ende, irgendwann ist man ‚burned out‘. Wenn andere Leute das bekommen, weil sie eine 70 Stunden Woche nach der anderen machen, kriegen wir das einfach dadurch, dass wir in dieser Welt existieren und versuchen zu überleben.“

Neurodivergentes / autistisches Burnout

Obwohl viele autistische oder neurodivergente Personen ein Burnout erleben, gibt es bislang wenige wissenschaftliche Erkenntnisse hierzu. Autistische oder neurodivergente Burnouts werden oft als herkömmlichen Burnouts abgestempelt. Doch was sind die Unterschiede?

Bei neurotypischen Menschen steht die Überforderung im Job ursächlich an erster Stelle. Der autistische Burnout ist keine Folge des Leistungsdrucks, sondern vielmehr die ständige Bemühung sich an die neurotypische Umwelt anzupassen.

Auch den Mitarbeitenden von Specialisterne sind Fälle wie dieser bekannt. Aus diesem Grund bildet das Unternehmen ihre Kund:innen nicht nur aus und entlässt sie dann im Alleingang in die Arbeitswelt, sondern betreut sie bei ihrem Einstieg in den Beruf mit einem begleitendem Coaching. Dieses beinhaltet auch ein standardisiertes Onboarding und ein von Specialisterne angeleitetes Bewerbungsgespräch, um den von Maxxi geschilderten Herausforderungen im Bewerbungsverfahren entgegenzuwirken. Jedoch hat Specialisterne in den letzten Jahren gelernt, dass die Coachings sich immer weniger auf die Mitarbeitenden selbst beziehen sollten, sondern zunehmend auf die Unternehmensseite: „Wenn man sich überlegt, dass man nach einem Ausbildungsprogramm von uns ein halbes Jahr Vorbereitungszeit hat, ist man sehr gut vorbereitet, aber das Team vor Ort vielleicht noch nicht. Hier muss ein wichtiger Baustein gelegt werden, dass es für alle gemeinsam funktioniert“, erklärt Marton.

Nach abgeschlossener Kursabsolvierung liegt die Vermittlungsquote von Specialisterne je nach Kurs bei 70 bis 80 Prozent. Zu den Unternehmen mit denen sie bereits zusammengearbeitet haben, zählen unter anderem die ÖBB, Magenta und Rewe. „Branchenmäßig ist das sehr schwer zusammenzufassen“, meint Marton, „grundsätzlich kann man sagen: Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitern, mit ausreichend Standardisierungen in den Prozessen und ersten Evaluierungen im Bereich Vielfalt.“ Um beständig sicherzustellen, dass die Arbeitssituation innerhalb des Unternehmens für alle Beteiligte angenehm ist und die Gefahr eines neurodivergenten Burnouts gänzlich auszuschließen, holen sich die Coaches regelmäßige Rückmeldungen ein. Die Rückmeldungen aus den Unternehmen zu den neuen, neurodivergenten Teammitgliedern seien vielfältig. Eine Entwicklung, die jedoch wiederholt beobachtet wurde, sei die steigende Effizienz des gesamten Teams: „Wenn ein funktionierendes Inklusionsprogramm besteht, dann sind Teams meistens nach spätestens sechs Monaten robuster, erfolgreicher und innovativer. Das ist die Rückmeldung. Sie werden auch achtsamer miteinander und die Kommunikation und Stärkenverteilung im Team wird klarer“, so Marton. Auch die vermittelten Mitarbeitenden seien begeistert davon, was alles richtig gehen kann, „wenn die Bereitschaft von beiden Seiten da ist, sich anzunähern.“

Spiky Profiles sind eine visuelle Repräsentation der persönlichen und arbeitsbezogenen Stärken neurodivergenter Personen.

2019 erlitt Maxxi selbst ein solches neurodivergentes Burnout und musste aus diesem Grund sein Mathematik-Studium abbrechen. Eine klare Lösung hierfür gibt es nicht. Obwohl Maxxi seither versucht, mehr auf seine mentale Gesundheit zu achten und dafür weniger zu „masken“, überwiegt seine Angst vor Einsamkeit: „Das ist einfach mit furchtbar starken Ängsten verbunden, die Maske fallen zu lassen, weswegen ich immer noch mitten in diesem Burnout drinstecke. Es ist mittlerweile weniger schlimm als es 2019 der Fall war, aber ich leide immer noch sehr stark unter den Folgen.“

Das Thema Abbrechen spielte in der Vergangenheit auch bei Specialisterne eine große Rolle, denn egal wie neurodivergenzgerecht die Arbeitsbedingungen sind, neurodivergente Personen sind in ihrem Alltag mit Herausforderungen konfrontiert, welche sich neurotypische Personen nur schwer vorstellen können. Martina berichtet beispielsweise von einem Teilnehmer, der ihr einst abgesagt hat, weil die Busfahrt zu Specialisterne ihn bereits so gestresst hat, dass er mittendrin abgebrochen hat und umgekehrt ist. Auch dies sei ein Grund, warum nicht jede:r Interessierte für den ersten Arbeitsmarkt geeignet sei: „Wir outsourcen jetzt genauer. In dem Kompetenzcheck evaluieren wir inzwischen in Bezug auf Stressresistenz, Belastbarkeit und Jobfitness“, erklärt Marton. Mittlerweile habe das Unternehmen die Abbruchquote so auf unter 10 Prozent gesenkt. „Darauf sind wir sehr stolz.“

Beispiele wie die reizüberflutete Busfahrt veranschaulichen für Maxxi das größte Problem mit Behinderungen in unserer Gesellschaft: Nicht die Neurodivergenz selbst behindert Menschen wie ihn, sondern die mangelnde Anpassung ihres Umfelds. „Es ist zum Beispiel ja auch nicht der Rollstuhl, der behindert, sondern das Nicht-Vorhandensein eines Aufzugs oder einer Rampe“, erklärt er.

Sowohl Martina als auch Johanna haben einen psychologischen Hintergrund und stimmen Maxxi in seiner Ansicht sehr stark zu. Während Martina bereits vor zweieinhalb Jahren Teil von Specialisterne wurde, ist Johanna erst seit drei Monaten dabei und steckt noch mitten in ihrem Psychologie-Master-Studium. Einen Grund für die mangelnde Anpassung des Umfelds sieht Johanna bereits darin, dass die Psychologie Neurodiversität als Diagnose und somit auf eine sehr problemzentrierte Weise betrachtet. Dies ist allgemein ein großes Problem von Diagnosen im psychologischen Bereich, da sie eine klare Trennlinie zwischen „krank“ und „gesund“ ziehen und somit eine neuronal untypische Entwicklung nicht als Teil von natürlicher menschlicher Entwicklung betrachten, auf den sich die Umwelt einstellen sollte, sondern vielmehr als Störung. So zeige Psychologie neurodivergenten Personen in ihrer Diagnose vor allem ihre Defizite auf. „Wir arbeiten genau andersrum und suchen nach den Stärken“, fügt Martina hinzu.

Diagnosen sind nichts grundsätzlich Schlechtes und in der Medizin durchaus sinnvoll und notwendig, um Behandlungen zu standardisieren und Erfahrungen auszutauschen. Vor allem psychische Diagnosen sind jedoch ein heikles Thema, da eine Diagnose eine Klassifizierung bedeutet, welche im komplexen seelischen Bereich kaum möglich ist.

Ein steiniger Weg

Neurodiversität bietet Maxxis Meinung nach vielmehr eine Chance als eine Herausforderung. Eine Chance, eine menschenorientierte, diverse Arbeitswelt zu schaffen, von der am Ende neurodivergente, ebenso wie neurotypische Arbeitnehmende profitieren. Bereits bei der Kleiderwahl spielen Reize eine wichtige Rolle: „Sehr viele von uns haben mit Reizen von Kleidung ein Problem. Es gibt Stoffe, die ich absolut nicht tragen kann oder möchte, weil sich das auf meiner Haut ganz furchtbar anfühlt bis hin, dass es weh tut.“ Dementsprechend wäre auch ein flexibler Dresscode hilfreich für viele neurodivergente Menschen. Zudem bedarf es einer flexiblen Zeiteinteilung und Pausenregelung, um autistischen Personen die Möglichkeit zu geben, sich bei eventueller Reizüberflutung zurückzuziehen.

Dennoch sind Planbarkeit und transparente Strukturen innerhalb des Arbeitsalltags enorm wichtig für autistische Personen: „Keine Überraschungen, du musst jetzt spontan da und da hin. Unterschiede in der Routine bringen für autistische Menschen unheimlich viel Stress mit sich.“

Kommt eine Interessent:in so weit, einen Fachkurs bei Specialisterne zu belegen, ist es aufgrund dieser zahlreichen zu berücksichtigenden Faktoren keine leichte Aufgabe, den Kurs auf alle Teilnehmenden anzupassen. Obwohl es einer der Grundsätze von Specialisterne sei, nicht in Schubladen zu denken, käme man in diesem Fall nicht drum herum: „Es gibt Dinge, die für 80 Prozent der Personen relevant sind. In Bezug auf die Schulungsräume sind es Schalldämmung, regelmäßige Pausen.“ Auch der Bedarf nach transparenten Strukturen und einer Planbarkeit der Tätigkeiten, welche Maxxis als wichtige Faktoren identifiziert hat, finden in den Fachkursen von Specialisterne Berücksichtigung: „Wir haben eine Tages- und Wochenstruktur, das heißt: was steht diese Woche an“, erklärt Marton. Zudem gebe es individuelle Kurstracks und somit die Möglichkeit, die Geschwindigkeit anzupassen. „Damit haben wir 80 Prozent der Bedürfnisse abgedeckt.“ Auch die Frage, welche Trainer:innen für neurodivergenzgerechte Fachkurse am besten geeignet sind, beschäftigte das Unternehmen lange: „Brauchen wir Neurodiversitätsexperten oder brauchen wir Fachexperten? Wir glauben, dass die fachliche Komponente in der Ausbildung entscheidend ist. Wir stehen als Experten im Bereich Neurodiversität einem Trainer bei“, erläutert Marton.

Doch eine vollkommene Barrierefreiheit im beruflichen Kontext entsteht nicht allein durch „technische“ Anpassungen. Besonderen Wert haben vor allem der soziale Kontext und der Umgang des Teams mit neurodivergenten Personen. So müssen sich beispielsweise viele autistische Menschen in der Mittagspause zurückziehen, um die Eindrücke des Arbeitstages zu verarbeiten. Auch Firmenfeiern und andere soziale Events überfordern sie oftmals und werden aus diesem Grund lieber ausgesetzt. Dies sollte klar innerhalb des Teams kommuniziert und Vorurteile durch Aufklärung bekämpft werden. Die von Specialisterne angebotenen Vorträge und Workshops knüpfen hier an und versuchen Verständnis im Umgang mit den neurodivergenten Kolleg:innen zu schaffen.

Betrachtet Anna Marton den aktuellen Stand der Neurodiversität auf dem Arbeitsmarkt, ist sie zwiegespalten. Eine Sache, die sie besonders ärgert: „War of Talent ist derzeit in aller Munde, und trotzdem werden Fachkräfte und besondere Fähigkeit in klassischen HR-Prozessen übersehen.“ Versucht sie ein Unternehmen oder eine Führungskraft von ihren Ansichten zu überzeugen, beruft sie sich vor allem auf aktuelle Studien zum Einfluss von Neurodiversität auf den wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen. So zeigt eine Evaluierung von HPE in Bezug auf Software-Testing von Menschen mit autistischer Wahrnehmung, dass diese über 30 Prozent effektiver sind als neurotypische Teams. Eine Schweizer Studie vermerkt, dass Neurodiversität die Kündigungsabsichten von Mitarbeitenden zu 48 Prozent reduziert, die psychische Arbeitsfähigkeit um ungefähr 34 Prozent steigert und die emotionale Erschöpfung um nahezu 24 Prozent senkt: „In Zeiten wie diesen, wo wir vor Herausforderungen am Markt, in der Wirtschaft, in der Gesellschaft stehen, die so noch nicht da gewesen sind, braucht es Teams, die in Lösungen denken, die es so noch nicht gegeben hat“, sagt Marton. Auch intern lebt Specialisterne diese Überzeugung und hat neben Dani viele neurodivergente Mitarbeitende, welche in den Bereichen Software-Testing, Qualitätssicherung und Datenmangement tätig sind. Mehr über Danis Weg zu Specialisterne erfahrt ihr im Podcast.

Maxxi wurden bislang viele Steine in den Weg gelegt. Dennoch erlebt er auch Lichtblicke. Besonders im Gespräch mit der jungen Generation trifft er auf zunehmendes Verständnis und Aufgeschlossenheit gegenüber seiner Neurodiversität. Auch Unternehmen wie Specialisterne geben ihm Hoffnung, dass die Zukunft eine tolerantere, (neuro-)diversere Arbeitswelt bereithält, obwohl er sich natürlich wünschen würde, dass es von Grund auf keinen Bedarf für derartige Unternehmen gebe. Er ist fest davon überzeugt, dass schlussendlich jeder einzelne Mensch von einer neurodiversen Arbeitswelt profitieren würde: „Wenn wir einen Ort für eine Gruppe barrierefrei machen, wird er nicht nur für diese Gruppe angenehmer, sondern auch für Menschen, die gar nicht direkt davon betroffen sind, sondern einfach diese Barrierefreiheit für sich nutzen.“ Sein Traumberuf ist es, einmal Fahrdienstleiter bei der Deutschen Bahn zu werden, wie es bereits seine Eltern sind.