Vor Dominik Altmanns Augen stirbt ein 18-Jähriger nach einem Verkehrsunfall. Ein Tag, der sein Leben für immer verändern soll. Plötzlich heißt es bei ihm selbst: Leben oder Tod?

Von Lea Griesbeck

Symbolbild: pixabay.com

In der Finsternis verschwimmt die Straße in einem undeutlichen Schatten. Nur Umrisse lässt sie erkennen. Die Umrisse des hölzernen Kreuzes am Straßengraben. Ein paar Meter entfernt von der Kreuzung Ecke Churpfalzpark Loifling, Verbindungsstraße Radling Wilting. Es herrscht Stille. Dominik Altmann stellt den Motor des grauen Opel Corsas am Straßenrand ab. Mit demselben Auto war er damals hergekommen. An jene Stelle, an der ein 18-Jähriger nach einem Fahrfehler mit einem Lieferwagen kollidierte, sein gleichaltriger Beifahrer an den Verletzungen stirbt. Jener Abend, der Dominiks Leben verändern sollte.

„Martins-Hörner im Stadtgebiet – was ist los?“

Es war der 24. November 2015. Dominiks Finger klappern auf der Tastatur. Die Uhranzeige rechts unten am Computer springt auf halb fünf. Nicht mehr lange bis zum Redaktionsschluss. „Zum Glück“, denkt Dominik. Eigentlich ist sein Beruf als Redakteur bei der Chamer Zeitung seine Leidenschaft. Doch es ist irgendwie nicht sein Tag. Der Magen grummelt, seine Augen sind schwer. Mehrere Tatütata waren plötzlich draußen zu hören, erinnert er sich. Der übliche Griff zum Telefon, die bekannte Nummer wählen, wie immer die Frage: „Martins-Hörner im Stadtgebiet – was ist los?“  „Da ist etwas Größeres passiert. Das muss morgen in die Zeitung“, verabschiedet sich Dominik von seinen Kollegen. Er nimmt Block und Stift in die Hand, hängt seine Kamera um den Hals, flitzt aus der Redaktion.

Dominik Altmann ist damals 29 Jahre alt. Er hat Medientechnik studiert, beim Straubinger Tagblatt volontiert. Seit Dominik bei der Zeitung arbeitet, ist er Blaulichtreporter. Eine maßgeschneiderte Rolle, wie er findet. Gerade, weil er sich privat als Bergretter sowie Feuerwehrmann engagiert. Er weiß die Rettungskräfte in Ruhe arbeiten zu lassen, wann und wo er stören würde. Sensationsgier Fehlanzeige.

Die Nacht war schwarz, erinnert sich Dominik. In der Ferne erhellen Blaulichter die Straße. Wie ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit. Gleich angekommen. Dominik drückt auf das Bremspedal, lenkt den Corsa an den Straßenrand. Vor ihm steht ein Großaufgebot an Einsatzkräften. Feuerwehrautos. Rettungswagen. Polizei. Sie umringen einen 5er-BMW. Schwarz mit verbeulter Beifahrertür.  „Weißt du schon mehr?“, fragt Dominik einen anderen Unfallreporter aus der Region. Der verneint. Sie warten, reden über dies und das, blödeln.

Ein letzter verzweifelter Versuch, den jungen Kerl zu retten

„Vermutlich Ex“, sagt der Rettungsdienstleiter im Vorbeigehen, als er einen Moment findet, um den Ernst der Lage zu schildern. Ex bedeutet, jemand steht kurz vor dem Tod. Kurz darauf landet ein Hubschrauber. Dominik weiß noch, wie die Besatzung zum Unfallwagen marschiert ist und sich mit dem Rettungsdienstleiter ausgetauscht hat. Die Einsatzkräfte legen ein Unfallopfer auf die Fahrbahre. Einen jungen Kerl. Die Sanitäter schieben ihn zum Helikopter. Der Notarzt kniet über ihm. Beide Hände auf der Brust. Sein Oberkörper wippt auf und ab, immer wieder. Im nächsten Moment begleitet er die Fahrbahre nur noch, drückt nur noch mit einer Hand. Ein letzter verzweifelter Versuch zu retten, was nicht zu retten ist.

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Der Unfall liegt bald neun Jahre zurück. Dominik steigt aus dem Corsa aus. Er zeigt mit dem Finger auf die Wiese, in welcher der Hubschrauber damals gelandet ist. Dann auf eine Stelle, wo die Sparkasse eine rote Bank aufstellen hat lassen. Von da aus hat er damals die Szene verfolgt.

„18-Jähriger stirbt nach Unfall“, verkündet die Chamer Zeitung am Morgen nach dem Unfall auf dem Titelblatt. Dominik sitzt wieder an seinem Schreibtisch. Der Unfall ist eigentlich für ihn erledigt. Wie alle Unfälle, wenn er sie ins Blatt gebracht hat. „Stift und Kamera sind meine Blitzableiter“, sagt er.

Eine Woche später. Der Notarzt drückt auf die Brust des jungen Kerls. Auf und Ab. Ein letztes Mal. Vorbei. Dominik reißt es aus dem Schlaf. Er hat von diesem Unfall geträumt. Dabei träumt er doch nie. Immer öfter holen Dominik die Flashbacks ein. In der Arbeit. Am Sofa. In der Nacht. Die Brust. Der Junge. Der Sanitäter.

Seine Miene ist starr

Dominik steigt nach ein paar Minuten wieder in den Corsa. Zu kalt ist es an diesem Abend, um seine Geschichte weiter an der frischen Luft zu erzählen. Er blickt durch die Windschutzscheibe in die Dunkelheit. Seine Miene ist starr. So kennt man ihn nicht.

März 2016. Dominik betritt die Küche der Redaktion. Die Dunkelkammer. Ein Raum, in dem früher Fotos entwickelt wurden. Kein Tageslicht, kaum Platz zum Bewegen. Matthias, ein Kollege, kochte gerade Kaffee. Das ist Dominik im Gedächtnis geblieben. Normal bringt Dominik in jede Dunkelheit Sonnenschein. Er hat dieses breite Grinsen, das seine Miene immer ziert, bevor ihm ein Witz von der Zunge geht. Doch diesmal ist es anders. Er sagt zu Matthias. „Ich bekomme diesen Unfall nicht aus meinem Kopf.“ Es ist das erste Mal, dass Dominik darüber sprechen muss. Und obwohl ihm der Kollege ein offenes Ohr anbietet, spricht er danach für eine lange Zeit nicht mehr darüber.

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Dominik beginnt, mehr Kraft- und Ausdauersport zu treiben. „Ich wollte für mich etwas reißen, vermutlich gleichzeitig fliehen.“ Vor der Arbeit eine Stunde Sport, in der Mittagspause, nach Feierabend. Und am besten noch mit dem Fahrrad in die Arbeit. Fünf bis sechs Mal die Woche. Dazu 50 Stunden Arbeit. Meist der erste und der letzte in der Redaktion. Dass es Dominik schlecht geht, ahnt niemand. Weder privat noch in der Arbeit. Denn trotz all der Anstrengungen sprüht er vor Energie.

„Tja. Ich bin ein Mensch, der viel redet, aber nichts sagt.“ An die Kreuzung kommt ein Auto gefahren. Das Zweite, seit Dominik den Motor abgestellt hat. Es biegt rechts ab. Wie damals der 18-Jährige. Er unternahm jedoch wieder eine Kehrtwende, übersah den Pritschenwagen und kollidierte. Wie es wohl den anderen Beteiligten gehen mag? Sechs weitere Menschen wurden beim Unfall teils schwer verletzt.

August 2017. Dominik schaut durch sein Facebook-Feed. Auffällig viele kommentieren bei einem Freund. RIP Ludwig, schreiben sie alle. Kurze Nachfrage bei einem gemeinsamen Bekannten, um das Unglaubliche bestätigt zu bekommen. Dann die Antwort: Dominiks Herz bleibt für einen Augenblick stehen. Ein alter Freund ist beim Bergsteigen tödlich verunglückt. Irgendwie reißt diese Nachricht alte Wunden wieder auf. Wieder so ein junger Mensch.

Der Weg aus der Dunkelheit

Dominik stopft seinen Terminkalender nun auch an den Wochenenden mit Arbeit voll. Immer mehr, mehr, mehr. Über Jahre hinweg.

Frühling 2020. Die Corona-Pandemie wütet. Dominik kann nicht mehr vorm Alleinsein fliehen. Aus in die Arbeit radeln wird im Homeoffice vor dem PC gammeln. Die übermäßige Energie verwandelt sich in Depressionen. Ein Jahr später versucht Dominik, sich das Leben zu nehmen.

Nach seinen Suizidversuch meldet er sich in der Psychiatrie an. Erst im September 2022 bekommt er für sechs Wochen einen Platz in der „medbo“, das Zentrum für Psychiatrie Cham. Dominiks Diagnose: Depression.

Eines der ersten Dinge, an die sich Dominik von nun an gewöhnen muss, ist koffeinfreier Kaffee – normaler wird in der Klinik nicht ausgegeben. Sein Bewegungsdrang ist hoch. Rauf und runter joggt er die Treppenstufen der Klinik in der Mittagspause. Doch langsam scheint der Weg aus der Dunkelheit leichter zu werden.

Dafür muss sich niemand schämen

Anfang 2023. Dominik lernt seine heutige Partnerin kennen. Spricht er über sie, ziert dieses Grinsen sein Gesicht. Das besondere Dominik-Grinsen, das er endlich wieder zurück hat.

„Ich rate jedem, dem es nicht so gut geht, sich Hilfe zu suchen.“ Mit Vertrauten zu sprechen, eine Therapie zu machen. Dafür müsse sich niemand schämen. „Wenn sich jemand den Fuß bricht, geht er ja auch zum Arzt.“ Dominik ist überzeugt, dass es jeder wieder schaffen kann, ein glückliches Leben zu führen.

In seiner Hosentasche vibriert Dominiks Handy. Feuerwehreinsatz. In all den Jahren, die seit dem Unfall vergangen sind, hat Dominik sein Ehrenamt nie aufgegeben. Er ist ein Helfer, sein Herz ist am rechten Fleck. Diesmal ist es kein gravierender Unfall, nur ein kleiner Einsatz. „Bis wir jetzt hier wegkommen, sind die Kollegen wahrscheinlich schon fertig. Aber eine Nach-Einsatz-Halbe könnt noch gehen“, sagt er und startet den Motor.