Wenn die Eltern ins Pflegeheim ziehen oder sterben, bleibt es oft den Kindern überlassen, das Elternhaus auszuräumen. Andrea durchlebt dies gerade und gibt Einblicke in die körperlichen sowie emotionalen Anstrengungen, die damit verbunden sind.

Von Nina Zarges

Es ist ein sonniger Nachmittag in einem Wohngebiet der 1970er-Jahre. Die Hausnummer sechs, weiß verputzt, zweistöckig, mit einem riesigen Garten, fügt sich unauffällig ins Gesamtbild ein. Ein einziger langer Sonnenstrahl fällt durch ein eingestaubtes Fenster in die dunkle und vollgestellte Garage des Hauses und erhellt mehrere Kartons voller Dinge, die einst einen festen Platz in diesem Haus hatten. Von Möbeln über Spielsachen bis hin zu Weihnachtsdekoration, alle sind sie Überbleibsel eine Lebens. Sie wurden mit Liebe ausgesucht, verwendet und schließlich aufgehoben und verstaut.

Inmitten der Kartons steht Andrea. Sie ist Ende fünfzig, hat eine zierliche Statur, schwarze Haare und trägt eine Brille. Andrea lächelt, wenn sie davon erzählt, wie sie hier in diesem Haus mit ihren beiden Schwestern aufgewachsen ist. Auch als sie älter war, fühlte sie sich hier immer geborgen. „In den letzten Monaten hat sich das geändert“, sagt Andrea. In dem Haus steckten zwar immer noch viele Erinnerungen, irgendwie fühle es sich aber fremd an. Nach dem Tod des Vaters lebte ihre Mutter alleine hier. Weil sich ihr Gesundheitszustand stets verschlechterte, musste sie schließlich in ein Pflegeheim ziehen. „Da habe ich realisiert, dass nicht ein Gebäude das Elternhaus ausmacht, sondern die Menschen, die darin leben“, reflektiert Andrea wehmütig. Durch die so entstandene emotionale Distanz zum Elternhaus haben sie und ihre Schwestern sich zum ersten Mal Gedanken darüber gemacht, was mit dem Haus in Zukunft geschehen soll.

Tage des Entrümpelns

Mit dieser Erfahrung ist Andrea nicht alleine. Besonders Menschen der Boomer-Generation müssen häufig entscheiden, wie es mit dem Elternhaus weitergeht. Denn während des Wirtschaftswunders konnten sich viele ihrer Eltern den Traum vom Eigenheim erfüllen. In diesem Fall haben die Schwestern beschlossen, schon jetzt mit dem Entrümpeln anzufangen. „Früher oder später muss das sowieso erledigt werden“, meint Andrea. Die vielen über- und nebeneinander gestapelten Kartons, mit denen der Garagenboden übersät ist, nehmen den Platz ein, wo früher das Familienauto stand. Die Kartons sind das Ergebnis von Tagen des Entrümpeln, sowie der damit einhergehenden körperlichen und emotionalen Anstrengungen, die Andrea und ihre Schwestern durchlebt haben. Sie sind jedoch nur die Spitze des Eisberges. Zweimal in der Woche fährt Andrea nach der Arbeit die rund 50 Kilometer zu ihrem Elternhaus, um auszuräumen. „Ich habe bestimmt schon über 20 Stunden ins Aufräumen investiert“, erzählt sie. Trotzdem wird es noch lange dauern, bis das Haus leer ist.

Andrea stößt die schwere Tür zum Keller auf und geht die steinerne Treppe zum Erdgeschoss hinauf. Es ist kalt im gefliesten und langen Flur, von dem mehrere Türen in weitere Räume abgehen. Wo einmal Bilder hingen, stehen nun einzelne Nägel aus der Raufasertapete heraus. Sie sind Überbleibsel der alten Gemütlichkeit, die hier einst zu finden war. Andrea zückt einen kleinen Notizblock und einen Kugelschreiber, während sie durch die Küche ins Esszimmer und schließlich ins Wohnzimmer geht. In jedem Raum notiert sie Dinge, die noch erledigt werden müssen. Diese Liste sei für sie wichtig, um den Überblick zu behalten, erklärt sie. „Am Anfang wusste ich nicht, wo ich überhaupt beginnen soll“, sagt Andrea, „überall stehen so viele Dinge rum, das hat mich überfordert“.

Beim Aussortieren entsteht erstmal Chaos

„Am besten arbeitet man sich von Raum zu Raum vor“, rät Stefanie Jaensch. Sie ist bei 48° Süd beschäftigt, einer GmbH in Trägerschaft der Caritas, die Haushaltsauflösungen durchführt. Sie hat Erfahrung damit, wie überfordernd der Prozess des Ausräumens für Angehörige sein kann. Um den Überblick nicht
zu verlieren, empfehle es sich, mit kleinen Dingen anzufangen.

Andrea räumte irgendwann einfach die Schränke im Elternhaus aus. Einen nach dem anderen. Kleider der Eltern, aber auch jede Menge Krimskrams füllten Karton um Karton. „Ich hatte das Gefühl, ich mache alles noch schlimmer, anstatt besser, denn beim Aussortieren entstand erstmal Chaos“, stellt sie fest.
Doch mit dem dritten Schrank gefüllt mit antiken Gläsern aus der Sammlung des Vaters gesellte sich auch Unverständnis gegenüber den Eltern dazu. Warum haben sie das alles angehäuft und aufgehoben? Wer könnte so viele Gläser je gebrauchen? „Ich habe schon von Gläsern geträumt“, schmunzelt Andrea. Sie schaut auf ihre Liste. Für das Sortieren der vielen Fotos von Familienfeiern, Enkelkindern und Urlauben hat sie jetzt keine Zeit.

Heute will sie den Kriechspeicher hinter ihrem ehemaligen Kinderzimmer weitgehend ausräumen. Die braune Tür mit roten Malereien auf grünem Hintergrund schleift beim Öffnen über den Teppichboden. Der Speicher ist so vollgestellt, dass man ihn nicht betreten kann. Kartons und Möbel versperren den Weg. Andrea leuchtet mit einer Taschenlampe in den kleinen, langen Raum. Die Isolierung an der Dachschräge ist sichtbar. Staub liegt in der abgestandenen Luft. Bis auf ein Bücherregal, das im Schein der Taschenlampe deutlich zu erkennen ist, bleibt der restliche Inhalt des Speichers im Dunkeln verborgen.

Zielstrebig nimmt Andrea den obersten Karton vom vordersten Stapel und öffnet ihn. Er ist gefüllt mit alten Schallplatten. „Das kann erst mal bleiben. Vielleicht ist ja etwas Brauchbares dabei“, meint sie. Sie schiebt den Karton durch die bemalte Tür auf die linke Seite des Zimmers. Dann nimmt sie den nächsten Karton. Dieser ist gefüllt mit alten Bettdecken und Kopfkissen, die angestaubt und gelblich verfärbt sind. Andrea schiebt den Karton auf die rechte Seite des Zimmers. „Da steckt ein System dahinter“, sagt sie, „nach links kommen Dinge, die verkauft oder behalten werden. Die Dinge auf der rechten Seite sind nicht mehr zu
gebrauchen und werden entsorgt.“ Der Karton mit Puzzeln und Spielen kommt nach links, der mit alten Teppichen nach rechts. Bei einer Kiste gefüllt mit Steiff-Tieren verharrt sie für einen Moment. Natürlich falle es ihr schwer, sich von Dingen zu trennen, die ihr einmal viel bedeutet haben und Andenken an die
Kindheit sind. Andrea zeigt auf die Kammer. „Da muss man rational denken. Man kann nicht alles behalten, sonst sieht es auch bei mir zuhause irgendwann so aus.“ Dennoch schiebt sie den Karton erstmal nach links.

Wenn Gegenstände Erinnerungen wecken

Stefanie Jaensch kennt da andere Beispiele. Sie erzählt von einer Angehörigen, die beim Ausräumen helfen wollte und allein beim Anblick der Gegenstände ihrer verstorbenen Mutter in Tränen ausbrach. Oftmals ist sind solch emotionale Situationen der Grund dafür, dass Angehörige eine Firma mit der Haushaltsauflösung beauftragen. Für Stefanie Jaensch sei es zwar nicht immer einfach, fremde, private Dinge zu durchstöbern und zu entsorgen. Doch als externe Person könne sie damit rationaler umgehen. „Irgendwann wird das zur Routine“, sagt sie.

Im Kinderzimmer geht Andrea nun geduckt ein Stück in den Speicher hinein, es staubt bei jedem Schritt. Nach und nach arbeitet sie sich immer weiter hinein. Gleichzeitig häuft sich auf der rechten Seite des Zimmers immer mehr an. Als Andrea einen braunen, alten Koffer aus der Kammer zieht, erinnert sie sich an einen Familienurlaub in den bayerischen Alpen zurück. Egal was sie findet, sie hat stets eine passende Geschichte parat. Das alles auszusortieren sei auch ein Aufleben vergangener Zeiten, die sie nun hinter sich lasse.

Nach vier Stunden ist die Kammer leer

Mittlerweile wird es draußen dämmerig und Andrea schaltet das grelle Licht im Zimmer an. Sie räumt die übrigen alten, verstaubten Bücher aus dem Bücherregal und schiebt den letzten Karton auf die rechte Seite. Nach vier Stunden Arbeit ist die Kammer bis auf einige Möbel, die dort an die Dachschräge
gerückt stehen, leer. Andrea hat Spinnweben in ihren schwarzen Haaren und klopft sich Staub von den Kleidern. Sie klemmt sich zwei Kartons unter die Arme und trägt diese die Holztreppe hinunter ins Erdgeschoss, dann noch ein Stockwerk tiefer in die Garage. Zehnmal nimmt sie die Treppen, bis alle Kartons des
rechten Stapels in der Garage stehen. Dort sortiert sie die ausgemusterten Dinge nach Metallschrott, Altholz, Elektroschrott, Kunststoff sowie Altkleider und Restmüll.

Nach einer halben Stunde ist sie zwar schon weitergekommen, aber fertig ist sie noch lange nicht. Trotzdem macht sie Schluss für heute. Bevor sie geht, lädt Andrea einige der sortierten Kartons gefüllt mit Metallschrott und Restmüll in ihr Auto, um sie morgen zur Deponie zu bringen. „Die kennen mich dort schon“,
schmunzelt sie. Mittlerweile ist es dunkel geworden. Übermorgen geht es weiter für Andrea. Dann will sie sich, zusammen mit ihren Schwestern, dem nächsten Punkten auf ihrer Liste annehmen. Solange, bis in ihrem alten Zuhause kaum noch Spuren des Lebens, das dort einst stattgefunden hat, zurückbleiben.