Instrument des Jahres 2021, einzigartige Klangwelten und kein Exemplar ist wie das andere. Neben Fans und Alteingesessenen fasziniert die Orgel auch Generation Z.

Von Sophie Babik

 

Jeden Sonntag kurz vor 8:00 Uhr macht sich die 19-jährige Magdalena Huber auf den Weg nach Hausen ob Verena. Sie ist in ihrem ersten Semester an der Hochschule für Kirchenmusik der Diözese Rottenburg-Stuttgart und Hauptorganistin der Stephanuskirche. „Ich bin gerne früher in der Kirche, um die Lieder in Ruhe durchzuspielen.“ Magdalena schließt die Tür zur Sakristei auf, geht mit direkten Schritten zum Stromkasten und betätigt mehrere Schalter. Ihr Klicken hallt durch die Kirche. An der Orgel im Altarbereich drückt sie auf einen Knopf an der rechten Seite. Dieser löst den Beginn des Windstroms aus, der konstant da ist und das Spielen ermöglicht.

Tanz auf den Pedalen der Orgel

„Drücke ich jetzt eine Taste, dann zirkuliert der Wind anders durch das Pfeifensystem und der gewünschte Ton wird erzeugt.“ Sie holt aus ihrer Tasche ein Paar schwarze Tanzschuhe heraus. „Man braucht zum Orgelspielen andere Schuhe als Straßenschuhe. Diese sind nämlich schmaler. Mit ihnen kann ich die Pedale ganz genau treffen.“ Zudem besitzen sie einen Absatz und eine glatte Ledersohle. Damit kann der Organist besser auf den Holztasten gleiten, was das Spiel erleichtert.

Heute ist der Beginn der Passionszeit, der Leidensgeschichte Jesu. Und deshalb gestaltet sie die Lieder heute trüb und düster. Organisten spielen Stücke nicht nur nach Noten, sondern interpretieren sie immer wieder neu. Je nach Anlass und Grundstimmung des Gottesdienstes. „Jede Orgel ist einzigartig. Sie besitzt nie dieselben und auch stets eine andere Anzahl von Registern. Diese hier hat neun.“ Schaut man sich aber zum Beispiel die Orgel im Dom St. Martin in Rottenburg an, dann fällt auf, dass diese 76 Register hat. Magdalena deutet auf Erhebungen links und rechts vom Spieltisch, die wie eine Art Türknauf aussehen. Ein Register umfasst eine über den gesamten Tonumfang reichende Reihe von Pfeifen gleicher Klangfarben. Wenn man den Knauf ein Stück rauszieht, ist das Register und damit die Klangwelt aktiv. „Die Orgel kann sich wie ein ganzes Orchester anhören. Es ist einfach eine wahnsinnig große Vielfalt, die dieses Instrument bietet.“

Das Stück „Priere à Notre Dame“ aus der „Suite gothique“

Magdalena sitzt nun aufrecht auf der Orgelbank. Ihre langen braunen Haare fallen offen über ihre Schultern. Sie legt sich ihre Notenhefte zurecht und beginnt die sechs Werke nacheinander durchzuspielen. Helle und dumpfe Töne hallen durch den leeren Kirchenraum. Mit 13 Jahren spielte sie zum ersten Mal Orgel. „In Spaichingen hat damals ein Kinderorgeltag stattgefunden. Seit der 10. Klasse habe ich dann auch regemäßig Orgelunterricht genommen.“ Ihren ersten Gottesdienst in der Stephanuskirche hat sie mit 15 Jahren gespielt. „Seitdem ich volljährig bin, spiele ich hier jeden Sonntag.“

Jede Orgel ist anders – wie eine Wundertüte

In drei Zeilen sind die Noten in den Heften vor ihr niedergeschrieben. Die beiden oberen sind für die Manuale, die von den Händen bespielt werden und die untere Notenzeile ist für das Pedal, welches aussieht, wie eine große Klaviertastatur. Sie liegt dem Orgelspieler regelrecht zu Füßen. Wenn Magdalena ihre Füße gerade nicht zum Spielen braucht, überkreuzt sie sie unterhalb der Orgelbank. Das macht sie vorsichtig und sacht, damit sie nicht versehentlich auf ein Pedal tritt und damit einen Ton erzeugt, der gerade nicht erklingen soll. „Es ist sinnvoll, dass man bereits Klavier spielen kann, wenn jemand orgeln möchte, denn dabei kommen noch die Füße hinzu.“ Beim Klavier spielen hat man meist drei Pedale, die bespielt werden können, aber keine riesige Tastatur. Magdalenas Blick gilt hauptsächlich den Noten und nicht den Tasten. Doch das war nicht immer so. „Anfangs schaut man noch stark nach unten, denn man ist es natürlich nicht gewohnt mit den Füßen zu spielen.“

Eine kleine Plakette mit dem Schriftzug „Friedrich Weigle Orgelbau Echterdingen“ prangt mittig über dem Spieltisch. Allein in Deutschland gibt es ca. 400 Orgelbaufirmen und 50.000 Orgeln. „Eine neue Orgel auszuprobieren ist großartig und faszinierend. Es ist wie eine Wundertüte. Einfach gigantisch, wenn man auf ihr spielt und sie in all ihrer Macht und Fülle spürt. Manche sind groß, andere klein. Die Anzahl und der Klang, den das Register erzeugen kann, sind auch meist unterschiedlich von Modell zu Modell.

Die Königin der Instrumente ist sehr empfindlich, was Kälte und Wärme betrifft, da sich die zahlreichen Pfeifen schnell verstimmen können. Von ihnen gibt es zwei Arten: Lippen- und Zungenpfeifen. Sie unterscheiden sich im Aussehen und an der Art, wie sie gestimmt werden. „Ich war mal bei einer Stimmung mit dabei, die gute sechs Stunden gedauert hat.“

Nach 30 Minuten tönte jedes Stück einmal durch die Kirche. Am Altar besprechen die Messnerin, der Pfarrer und Magdalena kurz den Ablauf des Gottesdienstes. Die ersten älteren Gemeindemitglieder betreten nun das Kirchenschiff und winken Magdalena zu. Sie grüßt sie mit einem fröhlichen „Hallo“ und winkt zurück. Die Kirchenglocken klingen ab, die Türen werden geschlossen und Magdalena lässt sich auf der Orgelbank nieder.

In ihrem Schoß hat sie ihre Hände zusammengefaltet, ihr Blick liegt auf den Tasten, sie holt tief Luft, richtet die Augen auf die Noten und im nächsten Moment hallen kraftvolle Töne durch die Kirche. Ihr Oberkörper wippt manchmal vor und zurück. Sie fühlt das, was sie spielt. Hände und Füße tanzen und schweben federleicht über die Tasten und Pedale. Bei allen Gemeindeliedern spielt und singt Magdalena mit. Melancholische Töne erklingen. Ab und zu pustet sie in ihre Hände, damit die Finger durch die Kälte, die in der Kirche herrscht, nicht steif werden. Eine Dreiviertelstunde später legt sie alle Noten sorgfältig weg, klappt die Schutzabdeckung über die Manuale und drückt den Knopf zum Abstellen des Windstroms. Sie tauscht noch schnell die Tanzschuhe gegen ihre Straßenschuhe ein und als Magdalena an Gemeindemitgliedern vorbei geht, nicken sie ihr zu. „Dankeschön Magdalena“, äußert sich eine ältere Dame. „Es ist toll so Etwas zu hören, denn sie kennen meine ersten Orgelanfänge und wie ich heute spiele. In der Musik können Menschen ankommen. Dass diese Wirkung auch mein Spiel auslöst, ist schön.“

Einzige Studentin an der Orgel im Semester

Wenige Minuten später betritt sie die Lukas-Kapelle in Seitingen-Oberflacht, aus der schon die Orgelklänge ihres 14-jährigen Bruders zu hören sind. Jona Huber spielt heute seinen ersten Gottesdienst. „Schon die letzten Tage war er sehr aufgeregt und nervös. Ich kann aber alle seine Gefühle nachvollziehen. In derselben Kapelle habe auch ich meinen allerersten Gottesdienst gespielt.“ Jona ist erleichtert, dass seine Schwester nun da ist. „Hab Spaß!“ flüstert Magdalena, dann fängt er an zu spielen. Am Ende zeigt sie beide Daumen nach oben. Nach der Premiere ihres Bruders geht es für Magdalena weiter zu ihrem Studienort nach Rottenburg.

Dort hat sie bereits nach ihrem Abitur 2020 ein Jahr lang ihre C-Ausbildung intern erfolgreich absolviert. Mit ihr kann man dann nebenberuflich als OrganistIn und ChorleiterIn arbeiten. „Das war schon wie ein Vollzeitstudium und gewohnt habe ich auch im Studentenwohnheim.“ Auf externem Weg ist eine Absolvierung der C-Ausbildung auch schon während der Schulzeit innerhalb von zwei Jahren ab dem 15. Lebensjahr möglich. In der Umgebung des Heimatortes bekommen Interessierte jede Woche Unterricht im Orgelspiel mit Improvisation, Klavierspiel, Harmonielehre und Gehörbildung. Das macht insgesamt einen wöchentlichen Zeitaufwand von ca. 135 Minuten aus. Dazu kommen noch das eigenständige Üben zu Hause und insgesamt vier intensive Kompaktkurse, die an der Hochschule für Kirchenmusik stattfinden.

Durchhaltevermögen und Disziplin sind das A und O. Dennoch hatte Magdalena seit 2019 den Wunsch, Kirchenmusik zu studieren. „Tatsächlich bin ich die Einzige in meinem Semester. Somit muss ich stets mit voller Konzentration anwesend sein.“ Für sie bedeutet das viel Einzelunterricht.

Das Spiel auf der Domorgel: „Einfach nur wow!“

Schon zu Schulzeiten hat sie selbst mit dem Orgelunterricht angefangen. Ihr Orgellehrer war Helmut Brandt, Bezirkskantor in Tuttlingen seit 1985 und Kirchenmusikdirektor seit 1997. Er hatte schon viele Jahren über immer nur vier bis sechs SchülerInnen, denen er das Orgelspiel beibrachte. „Ich finde es schade, dass sehr wenige Jugendliche Orgelunterricht nehmen, denn so geht es verloren.“ sagt die Organisatorin der „Musik zur Marktzeit“. So darf sich Magdalena nämlich seit Oktober 2021 nennen. Jede Woche am Markttag darf ein Student ab 11:00 Uhr für 30 Minuten im Dom St. Martin Orgel spielen. Sie hatte bereits das Vergnügen. „Es war so cool auf der großen Domorgel spielen zu dürfen. Einfach nur wow!“

Heute spielt auf der großen Orgel Vincent Warnier ein Konzert. Schnell packt Magdalena die Noten für den Taizé-Gottesdienst, den sie heute Abend noch spielt, in ihren Rucksack. Durch die Stadt geht es zum Dom, denn um 17:00 Uhr beginnt dort das Orgelkonzert des Pariser Organisten. Es ist eines der internationalen Rottenburger Orgelkonzerte 2022. Die Flügeltüren des Doms sind weit geöffnet. „Ich hätte auch gerne so ein Bild von mir.“ sagt Magdalena, während sie durch das Programmheft blättert und ein Porträt des Organisten Stephen Tharp sieht. „Im Sommer benötige ich auch eines.“ Magdalena spielt nämlich beim diesjährigem Orgelsommer in Tübingen ein Konzert. Selbst komponieren kommt für die junge Organistin nicht in Frage. „Ich wäre mit meinen Stücken immer unzufrieden, weil es nie so klingt, wie ich es mir vorstelle. Ich freue mich jetzt aber sehr aufs Zuhören und in Gedanken versuche ich technisch mitzugehen.“

Sieben Stücke und 80 Minuten später erklingt der letzte Ton. „Das war ein schönes Konzert. Ein guter Mix aus der Epoche der Romantik.“

Das Stück „Menuet gotique“ aus der „Suite gothique“

Viel Zeit zum Eindrücke einfangen bleibt nicht. In acht Minuten beginnt die Probe für den Taizé-Gottesdienst in der Kirche St. Moriz. „Jedes Mal, wenn ich hier spiele, ist das ein tolles Gefühl.“ Trotz des vollgepackten Tages und der späten Stunde freut sie sich dennoch auf das weitere Orgelspiel. „Schön, dass du wieder da bist“ begrüßt die Organisatorin Magdalena mit einem Lächeln. Sie holt sich bereits den Schlüssel für die kleine Chororgel und stimmt ein Improvisationsstück an. Voller Tatendrang spielt sie einfach direkt auf Socken los und schnürt sich nicht erst die Tanzschuhe an die Füße. Die Kirche ist gut gefüllt und kurz vor 19:30 Uhr zieht sie sich doch noch schnell die Schuhe an. Ihre Hände und Füße gehen in Position und sie beginnt zu spielen.

Magdalenas Tag ist noch immer nicht vorbei. Morgen steht ein Vorspiel auf dem Plan, für welches sie noch proben möchte. Auch wenn es nur kurz ist. „Mit der Zeit wird der Organist eins mit der Orgel.“