Schwarzweißfilm

Wären deutsche Spielfilmproduktionen wirklich ein Spiegelbild der Gesellschaft, wäre diese zu 95% weiß. Was läuft schief? Wir haben mit den Menschen gesprochen, die in der deutschen Filmindustrie entscheiden, kuratieren und verantworten.

Viele Menschen müssen noch immer für ihre Sichtbarkeit auf der Kinoleinwand kämpfen. (Foto: Tima Miroshnichenko)

Von Lara Limbrunner und Anna Moreno

Deutsch-Südwestafrika, Anfang des 20. Jahrhunderts: In der Omaheke-Wüste steht ein weißer Wissenschaftler über dem leblosen Körper eines geschlachteten Afrikaners, als er dessen Schädel vom Rumpf des Leichnams abtrennt. Der Auftrag des Ethnologen ist es, Schädel getöteter Afrikaner*innen zu sammeln, um diese später für rassenkundliche Forschungen zu vermessen. Dahinter steht eine pseudowissenschaftliche, evolutionistische Rassentheorie, die die kognitive Überlegenheit der weißen Rasse beweisen soll.

Diese Szene aus dem Film Der vermessene Mensch ist nur eine von vielen, die auf eine verstörende Weise den Völkermord im heutigen Namibia in Szene setzt. Anfang des 20. Jahrhunderts ermordeten dort deutsche Soldaten bis zu 100.000 Menschen vom Volk der OvaHerero und der Nama. Die deutsche Produktion ist die erste, welche die Geschichte dieses deutschen Genozids aufarbeitet. Der Regisseur und Drehbuchautor des Films, Lars Kraume, erklärt seine Motivation für den Film auf der Kinotour in Namibia: Die deutsche Perspektive ist in diesem Fall eine sehr dunkle. In Deutschland weiß kaum jemand von dem Völkermord, ich möchte das ändern.“ Der Schatten dieser Leidensgeschichte ragt bis in die Gegenwart und prägt die kollektive Identität der OvaHerero und Nama bis heute. Kann es richtig sein, den Genozid aus einer deutschen Täterperspektive zu erzählen?

Laute Stimmen nach der Berlinale

Der Film „Der vermessene Mensch“ wird seit seiner Uraufführung im Februar 2023 stark diskutiert und kritisiert. Besonders der Verein Schwarze Filmschaffende äußerte sich in einer Stellungnahme kritisch. Der Vorwurf: Anti-Schwarzer Rassismus.

Der Berufsverband Schwarze Filmschaffende ist ein Netzwerk von Schwarzen Filmschaffenden im deutschsprachigen Raum mit und ohne Migrationsgeschichte.
Der Verein setzt sich vor allem für Chancengleichheit und Diversität vor und hinter der Kamera ein.

Anti-Schwarzer Rassismus (ASR) ist eine spezifische Form des Rassismus und hat in Europa und Deutschland seit der Zeit der Versklavung Tradition. Bei ASR handelt es sich um eine spezifische Herabwürdigung, Entmenschlichung und rassistische Diskriminierung von Schwarzen Menschen afrikanischer Herkunft.

Schwarze*r ist eine politische Selbstbezeichnung. Schwarz-Sein bedeutet in diesem Kontext nicht, einer tatsächlichen oder angenommenen „ethnischen Gruppe“ zugeordnet zu werden, es ist vielmehr eine Selbstbezeichnung, die gemeinsame Erfahrungen sowie die gesellschaftspolitische Position und die Lebensrealität von Menschen beschreibt, die von Anti-Schwarzem Rassismus betroffen sind. Schwarz wird in diesem Kontext immer groß geschrieben.

In seiner Stellungnahme kritisiert das Netzwerk die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), Claudia Roth, die Verantwortlichen der Kulturveranstaltungen des Bundes und der Berlinale, Charlotte Sieben, Mariëtte Rissenbeek und Carlo Chatrian sowie die Geschäftsführerinnen der Deutschen Filmakademie, Anne Leppin und Maria Köpf dafür, den Filmen eine Leinwand gegeben zu haben (neben „Der vermessene Mensch“ sind die ebenfalls deutsche Produktion „Seneca“ und der norwegische Animationsfilm „Helt Super“ Gegenstand der Kritik).

„Als Schwarze Europäer*innen sind wir zutiefst besorgt und betroffen von der Auswahl, Befürwortung und Unterstützung dieser drei anti-Schwarzen Filme, von denen zwei deutsche (Ko-)Produktionen sind, die von deutschen Filmförderungen (mit-)finanziert wurden, die von der Deutschen Filmakademie nominiert worden sind und auf der jüngsten 73. Berlinale ausgewählt und gezeigt wurden.“ – Auszug aus der Stellungnahme

Eine Frage der Perspektive?

Berlin, Ende des 19. Jahrhunderts: Eine Delegation der OvaHerero und Nama reist aus der Kolonie Deutsch-Südwestafrika nach Berlin, um gegen den Landraub in ihrer Heimat vorzugehen. Doch ihre Anliegen werden nicht angehört. Stattdessen werden sie in einer „Völkerschau“ wie Zootiere einem sensationshungrigen Publikum vorgeführt und von Student*innen untersucht. “Hat Wanderlust Sie hierher gebracht?”, fragt der weiße Forscher Alexander Hoffmann die Schwarze Dolmetscherin Kezia Kambazembi naiv. Später wird sie von dem Berliner Studenten vermessen – eine Träne rollt bitter über das Gesicht der jungen Frau.

Der Verein der Schwarzen Filmschaffenden sehen in der Erzählperspektive von „Der vermessene Mensch“ ein vermeidbares Problem: Die Geschichte des Genozids an den OvaHerero und den Nama wird aus der Perspektive eines deutschen opportunistischen Wissenschaftlers – der fiktiven Figur Alexander Hoffmann – erzählt. Die Täter*innen werden vermenschlicht, der Genozid rücke in den Hintergrund. Der Film sei eine anti-Schwarze Darstellung, welche dazu beitrage, Gewalt gegenüber BPOCs zu normalisieren.

POC ist die Kurzform von „Person of Color“ oder „People of Color“ und bedeutet wörtlich übersetzt „Mensch(en) von Farbe“ bedeutet. Es ist eine Selbstbezeichnung von Schwarzen Menschen. Oft wird auch der Begriff BPOC verwendet, was für „Black Person of Color“ steht. BIPOC steht für „Black Indigenous Person (oder People) of Color“ und schließt auch indigene Menschen ein.

Der Film Der vermessene Mensch erhebt den Anspruch, einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte und seiner Verbrechen zu leisten, tut dies aber bewusst aus einer reinen Täter*innen-Perspektive, lässt die Opfer zu Statisten werden und retraumatisiert ihre Nachkommen, Schwarze im Allgemeinen, mit schrecklichen, verstörenden Bildern von desakralisierten und entmenschlichten Schwarzen Menschen. – Auszug aus der Stellungnahme

Alexander Hoffmann reist im Rahmen einer Expedition nach Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Seine Aufgabe ist es, Schädel und Skelette toter OvaHerero für Vermessungen nach Deutschland zu schicken. Mithilfe dieser Schädel soll eine pseudowissenschaftliche, evolutionistische Rassentheorie bestätigt werden. Die Theorie beruht auf der Prämisse, dass der Schädel eines „Berliner Arbeiters“ größer sei als der eines afrikanischen „Buschmanns“. Der Vergleich soll die Theorie belegen, Deutsche seien intelligenter als Afrikaner*innen. Doch Hoffmann plagen Gewissensbisse, seine romantischen Gefühle für Kezia Kambazembi übermannen ihn. Das Drehbuch geht sogar so weit, dass er die Rassentheorie komplett hinterfragt: “Frau Kambazembi zeigt erstaunliche geistige Fähigkeiten. Und ich behaupte, dass ihr ein höherer Bildungsgrad nur durch äußere Umstände versagt blieb. Nicht durch genetische Veranlagung”, trägt der Berliner Ethnologe dem Forscherteam vor. Letztendlich macht sich der Hauptdarsteller durch seine pseudowissenschaftliche Arbeit sowie den Raub von Kunst- und Kultobjekten der OvaHerero mitschuldig an den Gräueltaten der deutschen Kolonialmacht im heutigen Namibia.

Dass der Protagonist keine Heldenfigur darstellt und im Laufe des Films moralische Grenzen trotz seiner Skrupel und Schuldgefühle überschreitet, ist dem Produzenten Thomas Kufus besonders wichtig zu betonen. Wie ist seine Perspektive auf den Film, die Kritik und welchen Herausforderungen musste sich die Produktion in Namibia stellen?

Strukturelle Herausforderungen im deutschen Film

Die strukturellen Herausforderungen in Namibia zeigen sich auch in der deutschen Filmbranche – nur dass in Deutschland „zu wenig Geld” kaum als Ausrede für eine anachronistische Filmindustrie gelten kann.

Der Verein der Schwarzen Filmschaffenden nimmt die Filme, die auf der Berlinale gezeigt wurden, ein weiteres Mal zum Anlass, Veränderung in der Struktur der deutschen Filmindustrie zu bewirken und einzufordern.

Mit diesem Brief wollen wir nicht nur unser Recht wahrnehmen, die Existenz und den Umgang mit diesen beleidigenden, rassistischen Filmen und deren Auswirkungen anzuprangern, sondern auch auf die systemischen Fehler und den strukturellen anti-Schwarzen Rassismus im Ökosystem hinweisen, die zu diesem Zustand geführt haben, der nicht mehr ignoriert werden kann. – Auszug aus der Stellungnahme

Die Schwarzen Filmschaffenden fordern in ihrer Stellungnahme unter anderem eine diversere Neubesetzung der Jury der kulturellen Filmförderung der BKM (Bundesministerin für Kultur und Medien). Die Entscheidungsmacht der Jurys ist innerhalb der kulturellen Filmförderung des Bundes enorm. Was die Jury entscheidet, wird umgesetzt. Kein Wunder, dass die Schwarzen Filmschaffenden genau an dieser Stelle Veränderung wünschen. Ulrike Schauz, die Referatsleiterin der kulturellen Filmförderung des Bundes, erklärt: „In meiner Zeit, und das sind bald 17 Jahre, kenne ich keinen Fall, in dem es eine Entscheidung gegen die Jury gegeben hätte.“ Um die Unabhängigkeit der Kultur zu garantieren, entscheiden die selbständigen Jurys über die Filmförderung. Dies geschieht auf Basis der Papierlage, wie etwa dem Track-Record der Regisseure oder der Erfolgsaussichten der Projekte. Ulrike Schauz räumt ein: „Beide Filme (“Der vermessene Mensch” und “Seneca”) haben Regisseure, die eine entsprechende Handschrift haben, die auch nicht zum ersten Mal durch die BKM gefördert worden sind.“ Sie nehme die Kritik der Schwarzen Filmschaffenden besonders ernst und fährt fort: „Was aber letzten Endes an Film auf die Leinwand kommt, da haben wir kaum Einfluss darauf.“ Weitere Details zu den Fördergründen der Filme unterlägen der Geheimhaltung. Die Spielfilmjurys, die über die Förderung des Films “Der vermessene Mensch” in Höhe von 800.000 und des Films “Seneca” in Höhe von 550.000 Euro entschieden, waren weder Schwarz noch hatten sie afrikanischen Hintergrund.

Die Schwierigkeiten einer diversen Besetzung der Jurys zeigen sich bei genauerer Betrachtung der Abläufe innerhalb des Förderprogramms. Ulrike Schauz, die Referatsleiterin der kulturellen Filmförderung des Bundes, betont, dass sie zwar äußerst bemüht seien, Diversität innerhalb der Jurys zu fördern, die geringe Größe der Jurys es jedoch beinahe unmöglich mache alle gesellschaftlichen Gruppen abzudecken. Wieso macht man dann die Jurys nicht einfach größer? Tatsächlich waren sie es einmal. Doch aus Gründen der Produktivität und einer möglichst großen Verantwortung und Entscheidungsmacht des/der Einzelnen, soll die Anzahl der Jurymitglieder nicht mehr verändert werden, bestätigt Ulrike Schauz.

Insgesamt gibt es 12 Jurys für unterschiedliche Filmgenres (Spielfilm, Dokumentarfilm, Kinderfilm etc.) Die Vorschläge für die Besetzung der Jurys werden von den Fachverbänden verschiedener Gewerke innerhalb der Filmindustrie abgegeben. In einem nächsten Schritt stellt die BKM dann aus den Vorschlägen der Fachverbände die neuen Jurys für drei Jahre zusammen. Dabei sollen Faktoren wie das Geschlecht und die Herkunft der Kandidat*innen sowie die Vertretung der Gewerke und der verschiedenen gesellschaftlichen Strömungen möglichst berücksichtigt werden. Die Filmförderung habe es den Verbänden auferlegt, entsprechende Vorschläge vorzubringen, welche das aktuelle Abbild der Gesellschaft widerspiegeln, sagt Referatsleiterin Ulrike Schauz. Doch die geringe Anzahl der verfügbaren Plätze macht es nur schwer möglich, alle diese Faktoren zu berücksichtigen. Die größte Jury des Förderprogramms zählt aktuell nur sieben Mitglieder.

Trotz der Unabhängigkeit der Jurys versuche die BKM positiv auf diese einzuwirken. „Wir legen großen Wert darauf, dass die Jury auch in den Stablisten ein Augenmerk darauf legt, dass Aspekte der Diversität vor und hinter der Kamera möglichst berücksichtigt werden. Das ist auch der Staatsministerin Claudia Roth ein ganz hohes Anliegen.“ Nach Eintreffen der Stellungnahme wurde ein Gespräch zwischen dem Abteilungsleiter der Spielfilmförderung und den Schwarzen Filmschaffenden arrangiert. Zum Veröffentlichungszeitpunkt dieses Artikels hat das Gespräch bereits stattgefunden. Der Verein Schwarze Filmschaffende wollte sich nicht zu den Ergebnissen des Gesprächs äußern.

Entscheidungsgewalt und Verantwortung liegen bei den Menschen, die Schlüsselpositionen innehaben. Um diese Positionen genau nachvollziehen zu können, haben wir 150 Stellen aus den größten Filmförderungen auf Bundes- und Landesebene sowie die Auswahlkommissionen für Filmpreise und die Führungspositionen in der Deutschen Filmakademie und der Berlinale auf Diversität geprüft. Dabei wird Eines deutlich – Der Großteil ist weiß besetzt:

Nein zur Quote

Die kulturelle Filmförderung des Bundes verzichtet auf eine Quote für Schwarze Menschen oder Menschen mit Migrationsgeschichte. Ulrike Schauz betont aber, „man könnte sich natürlich vorstellen, in den Produktionsbedingungen entsprechende Förderboni auszuzahlen“, um so Anreize für mehr Diversität zu schaffen.

Auch innerhalb der Deutschen Filmakademie gibt es bei der Neubesetzung von Stellen keine Diversitätsquoten. Maria Köpf, die Geschäftsführerin der Deutschen Filmakademie, erklärt, dass der Grund dafür vor allem die geringe Anzahl an Bewerber*innen aus marginalisierten Gruppen sei. Die Deutsche Filmakademie sei stets bemüht, Stellen möglichst divers zu besetzen, doch besonders bei längerfristigen Stellenbesetzungen fehlen entsprechende Bewerber*innen. Köpf sieht das Problem vor allem bei den fehlenden Zugängen für Filmschaffende aus marginalisierten Gruppen und den Schwierigkeiten, potentielle Bewerber*innen aus entsprechenden Gruppen zu erreichen. Deshalb sei der Ansatz der Deutschen Filmakademie Awareness für das Thema zu schaffen. Es gehe bei der Vergabe von Fördermitteln nicht darum, Gelder nur noch auf Grundlage von erfüllten Quoten zu vergeben, sondern im ständigen Austausch mit den Produzent*innen zu bleiben: „Man muss die Thematik immer wieder nach vorne holen, da glauben wir stärker dran als eine reine Quotierung.“ Bei der Einführung einer Quote sei außerdem unklar, welche Personengruppen als benachteiligt gelesen und erfasst werden sollen, so Köpf. „Wir haben in Deutschland kein wirklich funktionierendes Datensystem, auf das wir zurückgreifen können, deswegen arbeiten wir immer mit Zuschreibungen, das ist sehr problematisch.“

Fehlereingeständnisse von oben

Für die Kritik der Schwarzen Filmschaffenden hat die Deutsche Filmakademie vollstes Verständnis: „Wir verstehen uns als Partner der Schwarzen Filmschaffenden, weil wir die Missstände sehen. Wir haben auch eine Antwort verfasst“, bestätigt Maria Köpf.

Im Gespräch betont Geschäftsführerin Maria Köpf, dass die Deutsche Filmakademie den Film „Der vermessene Mensch“ als problematisch anerkennt. „Da sind sicherlich einige Reproduktionen von Rassismen drin, die wir so nicht unterstützen und unterschreiben können. Es ist eine komplizierte und umstrittene Diskussion, ob der Film rassistisch oder rassistisch verletzend ist”, sagt Köpf. Es sei eine schwierige Differenzierung, da der Film primär für ein weißes Publikum gemacht wurde, um aufzuklären.

Auch die Geschäftsführerin der Berlinale, Mariëtte Rissenbeek, reagierte auf die Stellungnahme des Vereins Schwarze Filmschaffende und räumte auf Anfrage die Fehler bei der Filmauswahl ein: „Bei der Vorbereitung der 73. Berlinale gab es Fehler in der Filmauswahl. Künftig werden wir einerseits die Auswahlkomitees verstärkt divers gestalten, aber auch Trainings für alle Kuratoren zum Thema Diversität stattfinden lassen. Darüber hinaus erarbeiten wir einen Prozess, der in ähnlich gelagerten Fällen zu einer adäquateren Vorgehensweise führen soll.“

Diversität im deutschen Film seit 2000

Es besteht kein Zweifel, dass zukunftsgerichtet an den strukturellen Problemen für BPOC in der deutschen Filmbranche gearbeitet werden muss. An der Vergangenheit kann nichts mehr geändert werden. Um das Ausmaß der strukturellen Benachteiligung aber erst zu begreifen, lohnt sich ein Blick in die Besetzung in den erfolgreichsten 69 Filme von 2000 bis 2022. Für die Analyse haben wir die Schlüsselpositionen der jeweils drei erfolgreichsten Spielfilme eines Jahres recherchiert und grafisch aufgearbeitet:

Für die Analyse wurden die jeweils drei besucherstärksten deutschen (Ko-)Produktionen aus den Jahren 2000-2022 ausgewählt. Analysiert wurden sowohl Schlüsselpositionen vor der Kamera (Besetzung der Hauptrollen) als auch Schlüsselpositionen hinter der Kamera (Regisseur*innen, Drehbuchatutor*innen, Hauptproduzent*innen und Castingdirector*innen). Dabei wurde bei jeder Person in einer Schlüsselposition geprüft, ob diese einer von Rassismus betroffenen marginalisierten Gruppe angehört. Dies wurde mithilfe der Kerndimensionen von Diversität (Ethnizität, Nationalität und Hautfarbe), öffentlich zugänglichen Biografien und der US-amerikanischen Datenbank „Internet Movie Database“ zusammengetragen und anschließend analysiert.

Diversität mit der Brechstange

Die Wüstenlandschaft scheint endlos. Die Ruhe und die Schönheit der namibischen Dünen wird durchbrochen von Schüssen, Schreien und lauten Befehlen. Deutsche Soldaten treiben eine Gruppe von OvaHerero-Frauen zurück in die Omaheke-Wüste, wo sie verdursten sollen. Die Soldaten folgen dem Befehl eines weißen Historiendarstellers in einer Szene im Feldlager am Waterberg: „Innerhalb der Deutschen Grenzen wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen. Ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auch auf sie schießen.”

Die Kritik an „Der vermessene Mensch“ kommt nicht nur vom Netzwerk Schwarzer Filmschaffender. Auch der Leiter des Kulturressorts der TAZ Andreas Fanizadeh schreibt: „Der Film stellt das Morden vor pittoresker namibischer Kulisse plakativ aus.” Die Kritikerin Vivien Buchhorn wirft der Produktion des Weiteren Diversity-Washing vor. In ihrer Filmkritik schreibt sie: „Trotz des zwiespältigen Versuchs, die einzig zentrale Schwarze Figur, Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama), als Hauptfigur des Films durch das Filmplakat hervorzuheben, verschwindet sie über lange Strecken und darf lediglich ein paar wenige Sätze äußern.“

Diversity-Washing im Film bezieht sich auf eine Praxis, bei der Filmemacher oder Filmstudios den Eindruck von Vielfalt und Inklusion vermitteln wollen, indem sie diverse Charaktere oder Themen in ihre Produktionen einbeziehen. Dabei geht es jedoch nicht um eine authentische Darstellung oder tiefgreifende Auseinandersetzung mit diversen Erfahrungen, sondern um oberflächliche Maßnahmen, um den Eindruck von Vielfalt zu erzeugen, ohne tatsächlich strukturelle Veränderungen oder echte Repräsentation zu fördern. Es kann als eine Form der Imagepflege oder des Marketings betrachtet werden, bei der das Streben nach öffentlichem Ansehen im Vordergrund steht und die eigentlichen Anliegen von marginalisierten Gruppen trivialisiert und ausnutzt.

Das Bündnis „Vielfalt im Film“ hat im Jahr 2020 eine Studie initiiert, die erstmals umfassende Daten zu den Erfahrungen Filmschaffender in Deutschland aggregierte. Ziel der Studie war es, Fragen über die Diversität vor und hinter der Kamera, sowie über Diskriminierung innerhalb der Branche zu klären. Insgesamt nahmen über 6.000 Filmschaffende aus 440 Berufen an der Befragung teil.

Die Ergebnisse der Studie sind eindeutig: Diskriminierung ist kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem und zieht sich durch die gesamte deutsche Filmbranche. Besonders BIPOC haben mit umfassender Diskriminierung innerhalb der deutschen Filmbranche zu kämpfen, sowohl vor als auch hinter der Kamera. Der Großteil der befragten Filmschaffenden empfindet die Darstellung nicht-weißer Menschen im Film als klischeehaft.

Daten der Darstellung nach Vielfalt im Film

„Deutschland kann voll hart sein“

Fatih Akin möchte gegen Klischees und Stigmata ankämpfen. Der türkischstämmige Autor und Produzent zählt zu den erfolgreichsten Regisseuren Deutschlands. Seine Filme bilden oft ein Milieu nahe der Straße ab – Street Credibility. So auch sein neuster Film „Rheingold“, eine Gangster-Biografie über den kurdisch stämmigen Rapper Xatar.

In einem ZDF-Interview erklärt Akin, dass die Arbeit an dem Film Augen öffnend war: „Wenn du berühmt bist und dich alle feiern, siehst du irgendwann den Rassismus nicht mehr so gut. Ich glaube, wenn es um Kanaks geht, ist dieser Reflex mit Rassismus nah. Das habe ich bei dem Film auch erst richtig begriffen. Deswegen ist es gut, dass ich den gemacht habe. Dafür bin ich dankbar.“

Doch der Weg dahin war nicht einfach. Bereits vor Drehbeginn musste Akin für seinen Film kämpfen, Überzeugungsarbeit leisten und rassistischen Vorurteilen entgegentreten. „Wir mussten viel mehr pitchen bei diesen ganzen Kultureinrichtungen, Filmförderungen, BKM, FFA (Filmförderungsanstalt). Es gab eine große Skepsis dem Projekt gegenüber. Wenn du sagst, Xatar, Gangsterrap, da kommt dir schon Ablehnung und auch Feindschaft, offene Feindschaft entgegen und ich glaube auch Rassismus, auf jeden Fall“, erklärt Akin im ZDF-Interview.

Der Regisseur betont, dass Integration in Deutschland stark von finanziellen Mitteln abhänge: „Wenn du Geld mitgebracht hast, bist du safe, aber wenn du nicht genug hast, dann kann Deutschland voll hart sein. So ein Land ist das.“

Akin ist sich sicher – Die deutsche Filmindustrie braucht nicht nur Diversität vor der Kamera, sondern auch hinter der Kamera. „Es soll ja am Ende die Realität widerspiegeln, das finde ich wichtig. Wenn weiße Kuratoren uns was von Diversität erzählen wollen, wird das nicht funktionieren.“

„Ohne Heimat kann ich keine Kunst machen“

Genauso sieht das Mohammad Alsheikh. Er ist ein syrisch stämmiger Nachwuchsregisseur aus Hamburg und widmet seine Freizeit abseits des Informatikstudium seiner Leidenschaft dem Film. Als Mohammad 10 Jahre alt war, schenkte ihm sein Vater die erste Kamera. 16 Jahre später sollte sein Film “Next Station” deutschlandweit auf Kinoleinwänden zu sehen sein und einige Preise gewinnen. Die Idee für den Film gab ihm die bittere Realität: 2020 wurde Mohammad Alsheikh auf die wachsende Anzahl der an Depressionen erkrankten und traumatisierten Flüchtlinge in Deutschland aufmerksam. In “Next Station” gab er Themen wie Depression, Einsamkeit, Zukunftsangst und Rassismus eine Plattform. Er betont: “Deutschland ermutigt zwar die Integration, aber die denken, dass Integration nur aus der Sprache, Uni und der Arbeit kommt – aber es ist viel mehr.” Das “Viel-Mehr” gelingt dem Regisseur auf künstlerischer wie auch auf inhaltlicher Ebene.

Sein neuer Film “Guilt” wurde bereits abgedreht und befindet sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels in der Postproduktion. Der Film erzähle vom Schuldgefühl von uns allen, wie Mohammad erklärt. Der Film behandelt psychische Krankheiten im Detail, wofür das Produktionsteam auch mit einem Berliner Oberarzt zusammenarbeitete. “Der Film ist echt hart. Viele, die den Film schon in der Rohversion gesehen haben, haben mir geraten, während der Filmaufführung Taschentücher zu verteilen“, fügt er hinzu. Die Vorstellungen laufen ab November 2023.

Doch wer ist Mohammad Alsheikh, was macht ihn als Regisseur aus und wieso will er das Leben neu definieren?

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