Die Route

Flucht übers Mittelmeer: Für Flüchtlinge aus Afrika, die nicht legal nach Europa einreisen können, bleibt häufig nur dieser Weg. Er endet für viele tödlich. Statt zu helfen, setzt die Europäische Union auf Abschottung und behindert die Arbeit von Seenotretter*innen. Über die Flucht eines Südsudanesen nach Europa, die junge Geschichte eines Seenotrettungsschiffes und fehlende politische Verantwortung.

Die Organisation „Sea-Watch“ fand dieses Boot im Mittelmeer. Gut drei Dutzend Geflüchtete kauern auf engstem Raum. (Foto: Anointette Dyksmann)

Von Leonie Gillot, Korbinian Strohhuber und Kim-Lara van der List

Juli 2023: Zwischen sorgfältig polierten Luxus-Yachten, braungebrannten Urlauber*innen und wehenden Palmen, liegt im Hafen von Licata, an der Südküste Siziliens, ein gelb bemaltes Schiff. Es ist kein sauberes Gelb, unter dem Lack schimmert an einigen Stellen ein Grünstich hindurch. Ein paar Meter links, nicht weit vom Wasser, fährt ein Fahrradfahrer unbekümmert Schlangenlinien. Die kleine italienische Hafenstadt scheint zu erwachen, die Luft ist heiß und stickig. Der alte Fischkutter „Mare*Go” schaukelt ruhig im salzigen Wasser. Noch berührt die Holzplanke das Festland. Noch muss sich das 21 Meter lange Gefährt gedulden, bis es wieder Menschen retten kann. Denn die „Mare“, wie sie liebevoll genannt wird, ist ein ziviles Seenotrettungsschiff.

Durch die ovalen Fenster, genau vier an jeder Seite der Schiffswand, strömt warmes Sonnenlicht in den holzfarben verkleideten Aufenthaltsraum. „Ich muss noch schnell frühstücken.” Marie deutet auf das Brot in ihrer Hand und stützt sich an der hellgrün gepolsterten Eckbank ab. Viel Zeit bleibt nicht, „denn die Arbeit auf der Mare macht sich schließlich nicht von allein.” Seit Beginn ihrer Mission Anfang des Jahres ist die 42-jährige Wiesbadenerin fester Bestandteil des Mare-Teams. Sie hat „Zusammenland“ gegründet, den Betreiberverein des privaten Rettungsschiffs, erste Spenden gesammelt und dem ehemaligen Sea-Watch-Kutter einen neuen Anstrich verpasst. Mit ihrer linken Hand fährt sie Schiffskapitän Raphael durch seine langen Dreadlocks. Die beiden sind ein Paar. Draußen auf dem Deck trudelt nach und nach die restliche Crew ein. Bei ihrem dritten Einsatz werden sie zu siebt auf dem Meer sein.

Die provisorisch platzierten Ventilatoren laufen auf Hochtouren. An der rechten Wand hängt eine krakelige To-Do-Liste: Kaffee kaufen, Drucker reparieren, nach der Werftzeit sauber machen. Warum Raphael auf privater Mission Menschen im Mittelmeer rettet? „Wenn keiner nein sagt, fällt es schwer, sich zu bremsen.“ Der gelernte Schiffsmechaniker wirkt entschlossen: „Jetzt ist es halt so, dass wir da in eine Lücke springen, weil staatliche Akteure nicht arbeiten.“

Ein Tag auf der „Mare*Go“

Wie üben Seenotretter*innen Missionen? Wie lebt die Crew auf dem Rettungsschiff? Diese Bilder bieten einen Einblick.

Ein kleiner Punkt am Horizont

Januar, fünf Jahre zuvor: Irgendwo zwischen der afrikanischen Küste und dem europäischen Festland schaukelt auf dem Mittelmeer ein kleines Schlauchboot hin und her. Umgeben von der Weite des Meeres ist es unscheinbar, verschmilzt mit der fein säuberlich gezogenen Linie des düsteren Horizonts. Davids Augen sind auf das Wasser gerichtet. Der junge Mann aus dem Südsudan ist einer von 144 Menschen, dicht an dicht gedrängt auf dem zwölf Meter langen Kunststoff-Rumpf. Es ist der erste Versuch des 21-Jährigen, das Mittelmeer zu überqueren und Europa zu erreichen.

„Wenn du uns 250 Euro, 300 Euro gibst, werden wir dich auf die andere Seite des Meers bringen“, versprechen ihm die Schlepper*innen. David zahlt. Wohin er will? Vorlieben hat er keine: „Es muss nicht unbedingt Italien oder Malta sein.” Hauptsache ein neues Leben jenseits des Mittelmeers. Damals weiß er noch nicht, dass er vier weitere Versuche brauchen wird, um europäischen Boden zu betreten.

An diesem Tag aber lassen sich die wilden Wellen nicht zähmen. Dunkle Gewitterwolken ziehen auf und ergießen sich über dem Boot Das Salzwasser peitscht gegen den Rumpf. „Wir drohten zu ertrinken”, erzählt David. Seine Stimme ist rau, doch er wirkt distanziert. Das Festland in weiter Ferne, kontaktieren die in Panik geratenen Flüchtlinge die italienische Küstenwache. Keine Reaktion. Auch die maltesische Küstenwache scheint unerreichbar: „An diesem Tag kam keine Seenotrettungsorganisation, um uns zu retten.” Für die Passagier*innen beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, ein Wettlauf gegen das Ertrinken. 144 Menschen allein auf dem offenen Meer. Ihr Hilferuf scheint von staatlichen Stellen ungehört.

Zur gleichen Zeit fährt ein alter Frachter unter sierra-leonischer Flagge seine streng getaktete Route durch das Mittelmeer. „Lady Sham” prangt mit großen Lettern auf der dunkelblauen Backbordseite. Mit ihren 108,5 Metern wirkt sie neben dem Schlauchboot wie ein Riese in der Weite des Meeres. Die Schiffbrüchigen werden an Bord genommen und wähnen sich in Sicherheit. Doch das Handelsschiff ist auf dem Weg zurück nach Afrika. Erst später wird David erfahren, dass die Rettung kein Zufall war: Die italienischen Behörden hatten den westafrikanischen Frachter angewiesen, die Flüchtlinge nach Libyen zu bringen. Einen Ort, den der junge Geflüchtete als „fürchterlichen Albtraum” in Erinnerung behalten wird.

Begegnungen auf hoher See

Am Himmel zieht ein Flugzeug seine Kreise. Beim genauen Hinsehen wirft es Schatten auf das dunkle Meer. Mit seinen kurzen Flügeln wirkt es klein, vom Boden aus fast unscheinbar. Von oben reicht der Blick bis in die Ferne. Durch die Frontscheibe sieht der Kapitän ein überfülltes Schlauchboot, das zu kentern droht. Nicht weit davon befindet sich ein Containerschiff, ähnlich wie die „Lady Sham”.

Mit ihren beiden zweimotorigen Flugzeugen „Seabird 1” und „Seabird 2” verfolgt die zivile Seenotrettungsorganisation Sea-Watch eine strategische Luftaufklärungsmission, beobachtet große und kleine Schiffe. Seit 2017 ist die NGO nicht mehr ausschließlich auf dem Wasser unterwegs. Einerseits solle das Ziel verfolgt werden, Boote in Seenot aufzuspüren und Koordinationsarbeit zu leisten, andererseits spiele die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen auf dem Mittelmeer eine wichtige Rolle. „Im zentralen Mittelmeer sind unfassbar viele Handelsschiffe vorzufinden, die auf Geflüchtete treffen“, erklärt Felix Weiß, Sprecher von Sea-Watch. Aufzeichnungen würden zeigen, dass diese Schiffe manchmal wochenlang mit Geflüchteten auf dem Meer ausharren, da sie keinen konkreten Hafen zugewiesen bekommen, den sie ansteuern könnten.

„Auch nach 2015, ein Jahr, in dem Hunderttausende über das Wasser nach Europa fliehen, treffen Handelsschiffe noch immer und regelmäßig auf Geflüchtete im Mittelmeer”, bestätigt Irina Haesler, Mitglied der Geschäftsleitung des Verbands Deutscher Reeder. „Auf so einer Fläche können einfach nicht alle Meeresregionen von privaten Rettungsorganisationen abgedeckt werden”, ergänzt sie. Handelsschiffe sind wie alle anderen Schiffe auf dem Wasser an internationales Seerecht gebunden: Die Crew ist verpflichtet, Schiffbrüchige zu retten, es sei denn, sie bringt sich dabei selbst in Gefahr.
Das Mittelmeer ist in sogenannte Such- und Rettungszonen, auch SAR-Zonen genannt, aufgeteilt. In diesen Zonen, in denen Schiffe Menschen aus dem Wasser retten, sind die jeweiligen Nationalstaaten für die weitere Abwicklung der Rettungsmaßnahmen verantwortlich. Dieser Fall trete allerdings nicht immer ein: „An manchen Tagen kommt relativ schnell Verstärkung”, erläutert Haesler. „Wir wissen aber auch von Situationen, in denen Handelsschiffe die Rettungsmaßnahmen komplett alleine durchgeführt haben.“ Die Crew auf den kommerziellen Frachtern sei überschaubar, wenig vorbereitet auf Geflüchtete in existenziellen Notlagen: „Das ist natürlich eine andere Situation als auf dafür ausgerichteten Rettungsschiffe. Da gibt es medizinisches Personal, da gibt es genug Verpflegung und Decken.”

Für Sea-Watch seien Handelsschiffe lange Zeit ein wichtiger Ansprechpartner gewesen: „Wenn wir ein Flüchtlingsboot sehen, versuchen wir zunächst die Seenotrettungsleitstellen anzurufen, andere NGOs dorthin zu lotsen oder mit Handelsschiffen in Kontakt zu treten”, erklärt Weiß. 2018 habe sich unter dem italienischen Premier Matteo Salvini die Situation geändert. Handelsschiffe seien instrumentalisiert worden, indem Italien sie anwies, Geflüchtete zurück nach Libyen zu bringen.

Menschenrettender Comic-Zeichner

Der gebürtige Koblenzer und studierte Ökonom Adrian Pourviseh nimmt ab 2019 an mehreren Rettungsmissionen der „Sea Watch 3“ Teil. Er spricht arabisch, persisch und etwas Französisch, übersetzt an Bord Gespräche mit Geflüchteten. Adrian schießt Fotos, um das Geschehen zu dokumentieren. Seine Erlebnisse hält er in seinem Comic-Buch „Das Schimmern der See – Als Seenotretter auf dem Mittelmeer“ fest. Es erscheint im Oktober 2023 im „Avant“-Verlag. Er schickte uns vorab einige Auszüge.

Durchkreuzte Pläne

In der Küche des kleinen Kutters duftet es nach Kartoffeln und angebratenen Zucchini. 80er-Jahre-Musik beschallt das untere Deck und ist bis in die Schlafkojen entlang des Ganges zu hören. Eine Etage oberhalb, die schmale Holztreppe hinauf, sitzt die Besatzung der Mare an Deck und isst zu Mittag. Die Stimmung ist ausgelassen, fast unbesorgt. In der Mitte des Kreises steht ein einziger Becher, randgefüllt. „Kollektiver Kaffee für alle.“ Crew-Mitglied Katharina schaut in die Runde. „Ist der Letzte.“ Sie schmunzelt. Marie sitzt neben ihr. Nur einer fehlt.

„Ich hab‘ keinen Bock mehr auf die Scheiße hier“, Raphaels Stimme bebt. Er sitzt im Gemeinschaftsraum, fasst sich mit einer Hand an die Stirn. Die Wut steht ihm ins Gesicht geschrieben. Seit Wochen sucht er Apotheker*innen, die ihm Sauerstoff aushändigen. „Für Menschen, die auf ihrer Flucht viel Wasser geschluckt haben“, erklärt er. Wieder wurde er von einem Apotheker abgewiesen. „Zur Not spiele ich einfach Patient, der auf Sauerstoff angewiesen ist“, scherzte er noch am Morgen. Mittags ist der Plan, heute an Sauerstoff zu kommen, durchkreuzt und der Optimismus verflogen.

Zivile Seenotretter*innen wie Raphael und Marie stoßen zu Wasser und zu Land immer häufiger auf Widerstand. Erst im Juni 2023 wurde die Mare*Go von der italienischen Küstenwache in Lampedusa festgesetzt. Mit an Bord: knapp 40 Migrant*innen, einige davon seekrank. Grund für die Festsetzung ist ein Anfang des Jahres erlassenes Dekret der italienischen Meloni-Regierung. Demnach sind zivile Schiffe wie die Mare nach einer Rettung dazu verpflichtet, den ihnen zugewiesenen Hafen anzusteuern. Dieser ist oft nicht der nächstgelegene. Raphael ist sich sicher: „Das Gesetz ist geschrieben worden, um uns die Arbeit zu erschweren.“ Erst vor Ort, auf dem Meer, würde die Situation der Geflüchteten greifbar sein. „Wenn man mit der Rettungsstelle kommuniziert, dann sind das Leute, die in Rom sitzen, am Schreibtisch. Weit ab von der Situation. Ich glaube, da fehlt es manchmal an Feingefühl über die Dramatik.“

Wir haben die „Mare*Go“ auf Sizilien während ihrer Vorbereitungen auf den nächsten Einsatz einen Tag mit der Kamera begleitet. Wie arbeiten die NGO-Akteure im Mittelmeer? Welchen Herausforderungen sind zivile Seenotretter*innen ausgesetzt? Diese Fragen beantwortet unser Film und zeigt Einblicke in den Alltag der Besatzung.

 

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Gestrandet in Libyen

21. Januar 2018, ein Internierungslager südöstlich von Tripolis: Zum ersten Mal nach Tagen auf dem Meer hat David wieder festen Boden unter den Füßen. Er lebt, atmet. Die Menschen, mit denen er dicht an dicht auf dem Schlauchboot saß, haben sich verstreut und gehen in der Menschenmasse unter. Noch weiß er nicht, dass die folgende Zeit sein Leben prägen wird. Nur schwer wird er darüber sprechen können.

Zusammengepfercht, Haut an Haut, kauert er nun mit fremden Menschen an einem fremden Ort. In Libyen erlebt David Folter. Als junger Mann wird er zwangsverpflichtet, um für das dortige Militär zu arbeiten. „Wenn du es nicht wert bist, eingezogen zu werden, wirst du versklavt. Du baust ihre Häuser auf oder du baust für sie an. Du pflanzt das an, was sie sich zum Essen auf den Tisch stellen.“

Als David 17 Jahre ist, bricht in seiner Heimat, dem Südsudan, ein Bürgerkrieg aus. Er flieht, aber findet in keinem der anderen afrikanischen Länder Akzeptanz. „Denn wenn man Anerkennung erfährt, kann man zur Schule gehen, man hat Zugang zu öffentlichen Krankenhäusern und zu Sozialversicherung.“ Vier weitere Male wird David versuchen, nach Europa zu fliehen. Immer wieder wird er gegen seinen Willen nach Libyen gebracht und strandet dort, wo bereits Hunderte ihr Leben gelassen haben. Bis zuletzt hofft er auf ein besseres Leben jenseits des Meeres.

David Schicksal ist kein Einzelfall. In der Hoffnung auf ein neues Leben wagen unzählige Menschen die Überfahrt nach Europa, werden aufgegriffen und nach Libyen verschleppt. Drei Jahre nach seinem ersten Fluchtversuch und der Gefangenschaft in einem Lager des nordafrikanischen Staates veröffentlichen die Vereinten Nationen 2021 einen 20-Seitigen Bericht über die Zustände in Libyen. Von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Migrant*innen” ist die Rede. Auf der dreizehnten Seite heißt es: „Der anhaltende, systematische und weit verbreitete Charakter dieser Praktiken durch die lybische Direktion zur Bekämpfung illegaler Migration (DCIM) und andere beteiligte Akteure zeigt, dass Beamte der mittleren und höheren Ebene am Migrationskreislauf der Gewalt beteiligt sind.“

2022 waren laut UNHCR weltweit über 108 Millionen Menschen auf der Flucht. „Zahlen sind schwierig zu fassen“, sagt der Ethnologe Dr. Christian Ungruhe von der Universität Passau. Er forscht zu Migration mit Schwerpunkt Westafrika. Migration sei ein Prozess, der Jahre dauern kann, sagt er. „Dieses Narrativ, dass halb Afrika bei uns an die Tür klopft, zieht leider. Aber es entspricht nicht der Wahrheit.“ 8 Millionen Migrant*innen gebe es in Westafrika, 90 Prozent davon würden dortbleiben. Hauptsächlich würden sich junge Männer auf den Weg nach Europa machen. Das hat laut Ungruhe zwei Gründe: Zum einen wird von ihnen erwartet, sich um die Familie zu kümmern, zum anderen sind die Gefahren für Frauen größer.

Das Mittelmeer gilt als tödlichste Route auf dem Weg nach Europa. 1.875 Geflüchtete sind dort bis Juli dieses Jahres laut Statistischem Bundesamt ertrunken. Im vergangenen Jahr dokumentierte es insgesamt 2.406 Todesfälle. Der Weg vieler Migrant*innen führt in Afrika allerdings zuerst durch die Sahara. Wie viele Menschen in der Wüste sterben, ist kaum nachvollziehbar. Ungruhe vermutet, in der Sahara könnten durchaus mehr Geflüchtete ums Leben kommen als auf dem Mittelmeer.

Europa in weiter Ferne?

Brüssel, Oktober 2019: Kurz nach Beginn der aktuellen Legislaturperiode stimmt das EU-Parlament über eine Resolution zur Seenotrettung ab, eingereicht von den Fraktionen der Grünen und Linken. Diese fordern ein Ende der Kriminalisierung von Seenotrettung und den Beginn einer Seenotrettungsmission im Mittelmeer. Die Abstimmung ist knapp, die Resolution wird abgelehnt. „Dann sind die Rechtsextremen im Parlament vor Freude auf die Tische gehüpft“, beschreibt Krsto Lazarević, Pressesprecher des Grünen-Abgeordneten Erik Marquart, die Reaktion der rechtpopulistischen Fraktion „Identität und Demokratie“. „Das war der Moment, wo wir gemerkt haben: Wir haben keine Mehrheit für Grundrechte.“

Fast vier Jahre später, Mitte Juli 2023, stimmt das EU-Parlament erneut über eine Seenotrettungs-Resolution ab. Dieses Mal wird der Beschluss von einer Mehrheit der Abgeordneten befürwortet. Doch zur Wahrheit gehöre auch, dass die Möglichkeiten des Europäischen Parlaments begrenzt seien, stellt Lazarević fest. Ab und an würde es zwar Mehrheiten für progressive Anliegen geben, doch die EU-Kommission arbeite eng mit dem Europäischen Rat zusammen. Die darin vertretenen Regierungen seien weniger progressiv.

Auf dem Mittelmeer zeigt die EU Präsenz durch die Grenzschutzagentur „Frontex“. Sie beschäftigt über 1.500 Beamte, die EU und Mitglieder des Schengenraums finanzieren die Agentur. Einsatzwägen, Patrouillenboote, Hubschrauber und Flugzeuge: Auch ein Großteil der Ausrüstung wird von den Mitgliedsländern beigesteuert. Auf ihrer Webseite beschreibt „Frontex“ ihre Aufgabe: „Gemeinsam mit den Mitgliedstaaten gewährleistet ‘Frontex‘ sichere und gut funktionierende Außengrenzen, die Sicherheit bieten.“ 2016 wird ihr Auftrag um Such- und Rettungsmissionen erweitert. In den vergangenen Jahren werden immer wieder sogenannte Pushbacks – das Zurückdrängen von Flüchtlingen – dokumentiert, an denen „Frontex“-Beamte mitgewirkt haben sollen. Fabrice Leggeri legte im April vergangenen Jahres deswegen sein Amt als Direktor der Agentur nieder.

Auch die Bekämpfung von Schlepper*innen steht auf der Agenda der Agentur. Wenn ein Boot mit Geflüchteten in Griechenland oder Italien anlandet, kommt in der Regel die Person am Steuer in Untersuchungshaft. Ihnen wird vorgeworfen, Teil der Schlepperbande zu sein, viele landen vor Gericht und schließlich hinter Gittern. Warum die Rechtsprechung mit Gerechtigkeit im Konflikt steht und welches Schicksal den sogenannten Boat-Drivern ereilt, könnt ihr in unserem Podcast hören.

 

Lazarević kritisiert „Frontex“ an einem weiteren Punkt: Die Zusammenarbeit mit der sogenannten lybischen Küstenwache sei ein moralischer Tiefpunkt. „‘Lybische Küstenwache‘ ist eine beschönigende Bezeichnung für islamistische Milizen.“ Vor drei Jahren sei es noch ein Skandal gewesen, bei Rettungsaktionen die lybische Küstenwache zu rufen, obwohl andere Schiffe viel näher waren. Inzwischen sei das normal. Amnesty International und die UN werfen der lybischen Küstenwache Menschenrechtsverletzungen vor. Seit Jahren unterstützt die EU sie logistisch und finanziell. Bei einem Besuch in Tripolis, der Hauptstadt Libyens, versprach die italienische Ministerpräsidentin Georgia Meloni, fünf mit EU-Geldern bezahlte Schnellboote zu liefern.

Was muss auf europäischer Ebene passieren, damit sich die Lage für Seenotrettungsorganisationen und somit für Geflüchtete verbessert? Für Lazarević ist die Antwort eindeutig: „Die EU sollte eine gemeinsame europäische Seenotrettungsmission starten“. Noch besser wäre es, müssten Geflüchtete gar nicht erst ins Boot steigen. Dazu bräuchte es sichere Fluchtwege. Doch der politische Wille fehle.

Was kommt und was bleibt

Genf, Dezember 2022: Vor dem UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge kritisiert die Bewegung „Refugees in Libya“ die Menschenrechtslage in Libyen und verurteilt die mangelnde Unterstützung des Kommissariats. Einzelne Redner*innen treten ans Mikrofon und erzählen, was ihnen auf ihrer Flucht über das Mittelmeer widerfahren ist. Unter ihnen ein junger, hochgewachsener Mann. Es ist David. Er berichtet von den Gefangenenlagern und seiner qualvollen Zeit in Libyen, ehe ihm schließlich die Flucht gelingt.

Im Juni 2021 erreicht der mittlerweile 25-Jährige italienisches Festland. Hier wird ihm Asyl gewährt. „Ich habe es ganz allein mit der Gruppe auf dem Boot geschafft, Italien zu erreichen“, er wirkt stolz, lächelt zufrieden. Zwar lebt David heute in Freiheit, dennoch sind die Erlebnisse auf hoher See und in lybischer Gefangenschaft allgegenwärtig: „Libyen hat mich nie ganz losgelassen, da ich gezwungen bin, die Erinnerung immer wieder aufleben zu lassen. Immer dann, wenn ich meine Geschichte erzähle und versuche, den Behörden die Stirn zu bieten.“ Von Europa aus setzt er sich für Menschen ein, die dasselbe Schicksal ereilt hat. Er gründet die die Organisation „Refugees in Libya“, will die Situation in Libyen und im Mittelmeerraum anprangern. „Denn es scheint kein politisches Bewusstsein dafür zu geben, was im Mittelmeerraum passiert.“ Heute warnt David vor der Flucht über das Meer: „Ich sah Menschen ertrinken. Menschen, die Träume hatten und deren Erfüllung suchten. Wo sind diese Menschen? Sie sind in den Tiefen des Mittelmeers versunken. Jeder von ihnen könntest du sein, es könnte ich sein, oder irgendwer in unserer Gesellschaft.“