Wie ein 60-Jähriger und ein 11-Jähriger von Fremden zu Freunden wurden.

Von Eva Jäger

Christoph sitzt in seinem Fiat500 und lässt die klischeehaft schönen Altbauhäuser Hamburgs beliebtester Stadtviertel hinter sich. Vor ihm ragen nun große, graue Plattenbauten in den Himmel. Christoph ist hier, um Yaro (Name von der Redaktion geändert) abzuholen – einen elf Jahre alten Jungen, mit dem er regelmäßig Zeit verbringt. Vor einem der grauen, düsteren Hochhäuser parkt Christoph das Auto. Unter seiner Cap versteckt sich eine Glatze und seine grauen Barthaare glitzern leicht in der Sonne. „Bin gleich wieder da”, sagt er und betritt den Hauseingang.

Einige Minuten später kommt er zurück – alleine. Drinnen öffne ihm niemand die Tür, erklärt er. „Sowas kommt nicht das erste Mal vor”, sagt Christoph, „Meistens gibt es einfach Kommunikationsschwierigkeiten oder die Verabredung geht im Alltagschaos unter.” Er geht nochmal ins Haus und kommt wenige Minuten später wieder heraus – diesmal begleitet von einem Jungen, der Christoph etwa bis zur Brust reicht. Der Junge trägt eine Mütze und hat die Kapuze seiner Sportjacke aufgesetzt, fast so, als würde er sich vor der Welt verstecken wollen. Seine Sporthose hat große Löcher an den Knien, in seiner rechten Hand baumeln Fußballschuhe und unter seinen linken Arm hat er einen bunten Fußball geklemmt.

„Ich möchte ihm Möglichkeiten eröffnen, die er sonst nicht hätte“

„So, das ist Yaro”, sagt Christoph lächelnd und nimmt dem schüchternen Jungen den Ball ab. Dann gehen sie zusammen auf den Fußballplatz um die Ecke. Dass ein elfjähriger Junge und ein 60-jähriger Mann miteinander Fußball spielen, mag Außenstehenden zunächst seltsam vorkommen. Doch die beiden sind ein sogenanntes Tandem des Vereins Zeit für Zukunft (ZfZ). Als Tandem-Partner soll Christoph für Yaro eine Bezugsperson werden, die ihm hilft, seine Potentiale zu entfalten und sein Leben zu meistern.

Denn wie viele andere Kinder in Deutschland kommt Yaro aus benachteiligten Verhältnissen. Seine Eltern stammen aus Ghana, Zuhause sprechen sie Twi oder Englisch, weshalb ihm in der Schule vieles schwer fällt und er keinen Anschluss findet. Da er vier kleine Geschwister hat und seine Eltern beide viel arbeiten
müssen, ist eine individuelle Förderung und Freizeitgestaltung kaum möglich. Und weil der Platz in der Wohnung nicht reicht, müssen er und seine Schwester bei einer Tante schlafen. Durch diese Bedingungen hat Yaro nicht die gleichen Zukunftschancen wie andere Kinder. Als Mentor soll Christoph genau das ändern.
„Ich möchte Yaro vor allem Möglichkeiten eröffnen, die er sonst nicht hätte. Ich möchte ihm Freude und Vertrauen schenken und ihn so gut es geht unterstützen, damit er Chancen auf eine erfolgreiche Zukunft hat”, erklärt Christoph.

„In dem Verein geht es darum, Zeit zu schenken. Und das ist im Grunde genau, was es ausmacht!” Auf dem Weg zum Fußballplatz fragt Christoph Yaro wie die Schule momentan läuft, wie sein Tag war und wie es ihm geht. Yaro gibt kurze, leise Antworten. Mehrfach muss Christoph nachfragen, weil er die Antwort nicht hört. Es wirkt so, als müssten die beiden erstmal miteinander warm werden. „Yaro ist mir gegenüber am Anfang immer sehr verschlossen. Das finde ich überhaupt nicht schlimm, er braucht eben seine Zeit. Aber natürlich wäre es einfacher, wenn er weniger zurückhaltend wäre.” erzählt Christoph, „Ich hatte es mir schon einfacher vorgestellt, ein Vertrauensverhältnis zu ihm aufzubauen.”

„Das Kennenlernen war etwas ernüchternd“

Nachdem Christophs Töchter im vergangenen Jahr ausgezogen waren, hatte er auf einmal viel mehr ungenutzte Zeit. Auf einer Freiwilligen-Messe traf er auf den Verein Zeit für Zukunft – ein gemeinnütziger, ehrenamtlicher Verein, der Kindern zwischen sechs und 16 Jahren in schwierigen Lebenssituationen zu helfen
versucht. „Fehlende formale Bildung, Erwerbslosigkeit und Armut hindern viele Eltern daran, ihren Kindern Chancen zu eröffnen oder sie genug zu unterstützen. Besonders betroffen sind Familien mit Zuwanderungsgeschichte, Alleinerziehende und Familien mit mehr als vier Kindern”, erklärt Leah-Sophie Bölke von ZfZ.

Das betroffene Kind, genannt Mentee, bekommt vom Verein eine erwachsene Person an die Seite, den sogenannten Mentor. Zusammen bilden diese dann ein Tandem: Sie treffen sich regelmäßig, nehmen an Programmen des Vereins teil und meistern Herausforderungen gemeinsam. „Mentoren sollen helfen, die Kreisläufe der Chancenungleichheit zu durchbrechen, indem sie Zuhören, Mut machen und Welten öffnen”, erklärt Bölke. Genau das möchte Christoph tun und bewirbt sich daraufhin im August 2023 beim Verein. „Der Bewerbungsprozess war ziemlich lang und mühsam. Aber das ist in meinen Augen auch gut so! Wenn man sich dafür entscheidet, muss man wissen, dass das viel Zeit braucht, um überhaupt zu funktionieren”, meint er. Im November 2023 lernt er dann endlich den ihm zugeteilten Mentee kennen: Yaro. „Ich war total aufgeregt und neugierig. Das Kennenlernen war dann etwas ernüchternd, Yaro war nicht so enthusiastisch, wie ich es erwartet hatte. Trotzdem hatte ich von Anfang an ein gutes Bauchgefühl”, erzählt Christoph. „Ich hatte erwartet, dass da ein kleiner Junge ist, der sich genauso darauf freut wie ich, zusammen Zeit zu verbringen!”

Man spürt die Vertrautheit zwischen ihnen

Seit drei Monaten sind Christoph und Yaro jetzt schon ein Tandem und lernen sich langsam besser kennen. Auf dem Fußballplatz angekommen, ist von der anfänglichen Distanz kaum mehr etwas zu spüren. Yaro lächelt stolz, als er ein Tor nach dem anderen schießt. Auch in Christophs Gesicht, in dem Falten und Narben von seiner Lebenserfahrung zeugen, macht sich ein fast kindliches Lächeln breit. Fast zwei Stunden kicken die beiden den Ball hin und her. „Wir waren auch schon am Hafen und bei einem Graffiti-Workshop”, erzählt Yaro. An der Zeit mit Christoph mache ihm alles Spaß, besonders aber das gemeinsame Fußballspielen, sagt er. Doch damit hilft Christoph nicht nur Yaro, auch er selbst habe jede Menge Spaß daran: „Man lernt viel, wenn man mit Fragen und Themen aus einer anderen Perspektive konfrontiert wird”, meint Christoph. „Ich glaube, dass man durch die Augen von Kindern ganz viel Neues entdecken kann!”

Nach einer kleinen Runde Tischtennis zieht ein Gewitter auf und die beiden machen sich auf den Weg in eine Eisdiele. Sie laufen ohne jegliche Berührung nebeneinander her, und doch spürt man ganz klar die Vertrautheit zwischen ihnen.

„Durch das 1:1 Mentoring können Kinder lernen, besser zu kommunizieren, Konflikte zu lösen und Beziehungen aufzubauen. Mentoren sind quasi erwachsene Freunde”, erklärt Leah-Sophie Bölke von ZfZ. „Wir wählen die Tandems sorgfältig aus. Dabei spielen vor allem Zeit, Entfernung, Interessen und Charaktereigenschaften eine Rolle. Natürlich kann es immer mal sein, dass ein Tandem Probleme hat oder nicht funktioniert. Für alle Probleme steht dem Tandem immer eine Mentoringberatung zur Verfügung.“ Von dieser Betreuung des Vereins profitiert auch Christoph: „Ich bin ehrlich gesagt positiv überrascht, wie aktiv der Verein ist. Die bieten regelmäßig echt coole Infoabende und Workshops an, und auch in Bezug auf Yaro werde ich individuell beraten.”

Nach einer Kugel Eis und ein bisschen Brainstorming darüber, was sie nächstes Mal zusammen unternehmen könnten, heißt es Abschied nehmen. Christoph bringt Yaro bis an die Wohnungstür: „Tschüss Yaro, das hat Spaß gemacht! Bis zum nächsten Mal!” Der schüchterne Junge mit den krausen Locken winkt und man kann ein kleines, unauffälliges Lächeln auf seinen Lippen erkennen. „Ciao!”

Ein kleiner Beitrag zu einer faireren Gesellschaft

Es läuft gut zwischen ihnen, findet Christoph. „Ich hoffe, dass sich das Vertrauen bald schneller aufbaut und er offener mit mir redet. Aber das wird schon, da bin ich mir ganz sicher!”, sagt er lächelnd, als er zurück zum Auto geht. Dass Christophs Geduld hierbei auf die Probe gestellt wird, macht ihm nichts aus, das
gehöre eben dazu, meint er. Die von ihm geschenkte Zeit wird Yaro langfristig hoffentlich helfen, alle seine Ziele im Leben zu erreichen.

Doch es gibt viele Kinder wie Yaro, die keine Unterstützung bekommen. Etwa 2,2 Millionen Kinder und Jugendliche sind in Deutschland armutsgefährdet und nach wie vor ist der soziale Hintergrund ausschlaggebend für ihren schulischen und beruflichen Erfolg. „Die ungleiche Chancenverteilung bei Kindern in Deutschland ist tatsächlich ein bedeutendes gesellschaftliches Problem, das weitreichende Auswirkungen auf das Leben vieler Kinder hat”, erklärt Leah-Sophie Bölke, „Der Staat sollte durch politische Maßnahmen ein Bildungssystem schaffen, welches jedem Kind die gleichen Chancen bietet, egal welchen sozialen oder finanziellen Hintergrund die Kinder haben!”

Durch sein Ehrenamt versucht Christoph genau wie die anderen 142 Mentoren im Verein, seinen Beitrag zu einer faireren Gesellschaft zu leisten. Er hofft, noch viele Tage wie heute mit Yaro verbringen zu können, sagt er. Dann steigt er in seinen Fiat500 und winkt noch freundlich, bevor er den Motor startet.