Der Jakobsweg – ein Netzwerk aus Pilgerwegen nach Santiago de Compostela. Für die 76-jährige Maria Sonnberg gleichzeitig ein Weg aus der Traurigkeit – hin zu Zuversicht und neuer Kraft.
Von Lilly Sonnberg
Es ist dunkel. Die einzige Lichtquelle ist die Straßenlaterne, die durch den Vorhangspalt in das Gästezimmer leuchtet und den Raum in ein schimmerndes Halbdunkel taucht. Ihre Augen wandern die Wände ab. Wände, welche mit Familienfotos geschmückt sind und an vergangene Zeiten erinnern. Ihr Blick schweift weiter durch den Raum, bleibt hängen am Bücherregal. Es steht gegenüber der Ausziehcouch. Unter der Last der Bücher biegen sich die Regalbretter leicht. Trotz der Belastung bleibe ich standhaft, denkt sie sich, genau wie die Regalbretter. Zwischen all den Büchern erregt eines ihre Aufmerksamkeit. „Ich bin dann mal weg“ von Hape Kerkeling.
Der türkisfarbene Buchrücken strahlt eine unaufdringliche Eleganz aus. Zieht sie magisch an und ehe sie sich versieht, greifen ihre Hände danach. Sie hatte schon vom Jakobsweg gehört. Das ist nichts für mich, dachte sie sich zuvor. Doch nach dem Lesen breitete sich die Abenteuerlust in ihr aus. Unter dem Eindruck der Erinnerungen an die lange Krankheit und den Tod ihres Mannes fasst sie einen Entschluss: „Das wäre was für mich, da hätte ich Lust zu.“ Der Gedanke nahm immer mehr Raum ein. Die Entscheidung war gefallen.
Maria Sonnberg, so heißt die Frau aus der Dezembernacht, läuft vier Jahre später den „Caminho Portugues“. Die kleine nördliche Route des Jakobswegs, aus Portugal kommend. In Porto startend. Das Ziel: Santiago de Compostela. Von vornherein war es als Testlauf gedacht. „Für die Seele hat es mir nichts gebracht“, sagt sie. Der Mut für den Großen bleibt zunächst aus.
Ein Jahr später ist er da. 2011 läuft Maria den großen Jakobsweg „Camino Francés“
Der Jakobsweg ist ein Netzwerk aus vielen unterschiedlichen Routen quer durch Europa. Der bekannteste und älteste: der „Camino Francés“. Rund 65% der Menschen entscheiden sich für ihn. 800 km Länge durch Nordspanien. Beginnend am Fuß der Pyrenäen in Frankreich zum Grab des Apostels Jakobus. Nach ihm ist der Jakobsweg benannt. Bis ins 9. Jahrhundert reicht die Geschichte zurück. Seit dem 10. Jahrhundert laufen Pilger diesen Weg. Erst aus religiösen Gründen. Später kommen spirituelle und sportliche Gründe dazu. „Ich habe mir über mein Laptop einen Flug nach Bilbao gebucht. Das war schonmal ein belebendes Gefühl.“ Danach brachte sie die Bahn nach „Saint-Jean-Pied-de-Port“. Noch heute erinnert sich Maria daran. Das Kopfsteinpflaster gleicht einem kunstvoll gefertigten Mosaik aus unterschiedlich großen und unterschiedlich geformten Steinen. Wie viele hier gestartet sind? Zu viele, denkt sich Maria.
Sie ist jetzt eine davon. „Vor paar hundert Jahren sind die Pilger hier schon gelaufen. Jetzt laufe ich. Das war ein gutes Gefühl. Ein Zugehörigkeitsgefühl.“ Die genaue Anzahl der Pilger variiert stark nach Jahr und Saison. In den letzten Jahren nahm die Zahl deutlich zu. Rekordjahr ist 2023 mit 446.035 Pilgern aus 200 Ländern.
Cruz de Ferro, Mai 2011
Die Sonne bahnt sich ihren Weg über den Horizont. Ihre goldenen Strahlen brechen durch die Baumkronen und werfen warme Lichtflecken auf den schmalen Pfad bergauf. Die Luft ist klar und frisch. In der Ferne erheben sich majestätische Berge. Maria steht am Fuße des Monte Irago. In 1.500 Metern Höhe – am höchsten Punkt des Jakobswegs – steht ein Stahlkreuz auf einem hohen Baumstamm. Dies gilt es zu erreichen. Sie ist bereit für den Aufstieg. Was sie noch nicht ahnt: Oben angekommen wird sie bitterlich weinen.
Maria spürt den weichen Waldboden unter ihren Füßen. Sie hört das leise Rascheln der Blätter über ihr und kommt dabei dem Holzkreuz näher. Ihr Gesicht ist von der Anstrengung des Aufstiegs leicht gerötet. Die Geräusche der Natur um sie herum begleiten sie auf ihrem letzten Wegstück. Sie erreicht das Holzkreuz. Umringt von zahlreichen Andenken und Steinen, welche Pilger dort abgelegt haben. Die Sonne taucht es in ein goldenes Licht und lässt es noch imposanter erscheinen. Ein sanfter Wind streicht durch ihre kurzen Haare. Einen Moment hält sie inne. Lässt die Bedeutung dieses spirituellen Ortes auf sich wirken. Ihre Hand umklammert fest den Stein. Darauf steht in Großbuchstarben HANS. Der Name ihres verstorbenen Mannes.
Sie hat den Stein von zu Hause mitgebracht. Das besagt die Tradition. Es ist eine symbolische Handlung, um Lasten loszulassen. Maria lässt mit zittrigen Fingern den Stein langsam aus ihrer Hand gleiten. Sie beobachtet, wie er sanft auf den hohen Steinhaufen fällt. Sie lässt sich auf die Knie fallen und wird urplötzlich von ihren Tränen überflutet. Dicke Tränen kullern über ihre Wangen. Sie lässt ihnen freien Lauf. Die Last übermannt sie. In ihrem Kopf spielt sich eine Filmrolle ab. Sie zeigt die Krankheit ihres geliebten Mannes Hans, den Tod und das Begräbnis. Ihre Schultern beben. Danach ist es vorbei. Die Last, die sie überflutete, ist abgefallen. „Eine riesengroße Zentnerlast ist von mir genommen worden. Danach bin ich gelaufen, gelaufen, gelaufen. Ab dem Moment ging es mir richtig gut“, sagt Maria, „ab da begann ein neuer Lebensabschnitt für mich. Hans habe ich dort gelassen. Die schönen Erinnerungen mit ihm bleiben auf ewig in meinem Herzen.“ Zuvor lief sie mit ihm. Ab diesem Punkt läuft sie alleine weiter.
Ein wichtiger Wegweiser und Erkennungszeichen auf der Reise: die Jakobsmuschel. Seit dem Mittelalter gilt sie als das Symbol für die Pilger und für den Jakobsweg selbst. Pilger tragen sie an ihrem Rucksack. Sie steht für Schutz. Eine schöne und einleuchtende Symbolik stellen die Linien der Muschel dar. Alle
laufen gleich den verschiedenen Jakobswegen auf einen Punkt – Santiago – zu.
Der Pilgerstab gilt – ähnlich wie die Jakobsmuschel – als Erkennungszeichen. Seine Herkunft ist vorrangig pragmatischer Art. Er bietet Stabilität für schwierige Passagen. Auch der Pilgerpass – bekannt als „Credencial del Peregrino“ – blickt auf eine lange Tradition wie die Jakobsmuschel und der Pilgerstab zurück. Früher von der heimatlichen Kirchenobrigkeit ausgestellt, ist er heute nützlich für Übernachtungen in staatlichen und kirchlichen Herbergen. Pilger sammeln auf ihrer Reise Stempel. Angeboten werden sie in Kirchen, Klöstern, Pilgerherbergen und Touristeninformationen. Später dient der Pilgerausweis als wertvolle Erinnerung an die Erfahrungen und Begegnungen entlang des Weges. Der letzte Stempel, der „Ultreia-Stempel“, wird traditionell in der Kathedrale von Santiago de Compostela ausgegeben. Dem Endpunkt des Jakobswegs.
Santiago de Compostela, Juni 2011
Es ist ein wolkenverhangener Tag. Der sanfte Nieselregeln umhüllt Maria wie ein zarter Schleier und hinterlässt kleine Perlenspuren auf ihrem Gesicht. Sie geht die letzten Schritte ihres langen Weges. Ihre Schritte sind ruhig und bedacht. Die Straßen sind gesäumt von historischen Gebäuden mit steinernen Fassaden. Die letzten 100 Meter. Jetzt geht etwas Großes zu Ende, denkt sie sich. Das Geräusch der Kirchenglocken dringt gedämpft durch die feuchte Luft. Vermengt sich mit dem leisen Murmeln der anderen Pilger. Der Platz ist von einer besonderen Atmosphäre erfüllt, als Maria ihn betritt. Ein Gefühl des Ankommens. Pilger aus aller Welt haben sich hier versammelt. Von weitem winken zwei Pilgerfreundinnen Maria zu. Die beiden haben sie direkt an ihrem knallroten Rucksack erkannt. Doch das vorgestellte Triumph-Gefühl bleibt aus. Das Gefühl: enttäuschend. „Ich war selber enttäuscht, wie enttäuscht ich war“, sagt sie heute.
Erst ein paar Tage später setzt das Triumph-Gefühl ein. Der Stolz darauf, dass sie es geschafft hat. Ihr ist klar geworden: „Die Ankunft war nicht das Wichtigste, sondern der Weg.“ Die Erlebnisse auf dem Weg sind bis heute nicht vergessen. Der Wert der Wanderung hat sich auf dem Weg abgespielt.
Bremen, März 2024
Gerne denkt Maria an die damalige Zeit zurück. Eine Frau, die schon immer knallige Farben mochte, sitzt mit ihrem roten Wollpulli und einer Tasse Kaffee in ihrem beigefarbenen Ohrensessel. Umgeben von einem Haufen Fotos und Berichten ihrer Reise. Ein leichtes Lächeln umspielt ihre Lippen. Ein Hauch von Wehmut liegt in ihren Augen, während sie über den Jakobsweg spricht. Sie spürt eine tiefe Dankbarkeit für die Erlebnisse, die sie auf ihrem Weg erfahren hat. Hingeflogen ist Maria alleine. Zurückgekommen ist sie mit vielen neuen Erfahrungen. „Ich habe Leute kennengelernt, die mir vollkommen fremd waren. Wir haben zusammen gelacht und Wein getrunken. Gesungen und erzählt – mit Händen und Füßen. Die Nationalität hat keine Rolle gespielt“, sagt sie, „Die Menschen könnten ehrlich und glücklich zusammenleben, wenn jeder den anderen respektiert.“ Maria hat auf ihrer Reise zu sich selbst gelernt, dass sie ihr Leben gut selbst organisieren kann. Sie ist hilfsbereiter geworden. „Man muss helfen, wenn man kann.“ Sie hat Sachen geschafft, die vorher undenkbar gewesen wären. „Heute traue ich mich mehr.“ Rückblickend war es gut für sie, fünf Jahre nach dem Tod ihres Mannes zu laufen. „Es wäre sonst ein Weglaufen gewesen, statt einen Weg zu laufen.“
Die Sonne scheint durch das Wohnzimmerfenster. Kleine Staubkörner tanzen im Licht. Es ist hell.
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