Die Situation in der Pflege ist verheerend: Deutschland braucht dringend Personal. Eine junge Frau aus Ghana ist das Paradebeispiel dafür, dass das Problem des Personalmangels innovativ angegangen werden kann.

Von Victoria von Schroetter

5:30 Uhr. Der erste Schritt in die pechschwarze Dunkelheit. Die winterlich eisige Kälte breitet sich schleichend in ihrem Körper aus. Nur das schwache Laternenlicht leuchtet ihr den Weg. Mühsam reibt sie sich den Schlaf aus den Augen. Es sind nur wenige Minuten bis zu ihrem Ziel. Angekommen, erhebt sich vor ihr das massiv emporragende Gebäude. Sie wartet einige Sekunden, bis sie schließlich langsam, aber sicher durch das große Eingangstor mit dem dunkelblauen Schriftzug „Krankenhaus“, verschwindet. Ein beflügelndes Gefühl von Glück überkommt sie. Sie darf heute wieder das machen, was ihr und anderen Freude bereitet: Menschen helfen.

200 000 Pfleger*innen fehlen derzeit

Lange Wartezeiten. Patienten fühlen sich vernachlässigt oder schlecht versorgt. Fachkräftemangel im Pflegebereich ist ein allgegenwärtiges Problem. Die Nachbesetzung von freiwerdenden Stellen erweist sich als schwierig. Unattraktiv ist der Beruf vor allem durch die schlechten Arbeitsbedingungen. Die Pfleger*innen haben mit Stress, körperlicher und psychischer Belastung zu kämpfen. Vielerorts fehlen die Mittel für eine gute Versorgung. 200.000 Mitarbeiter*innen in der Pflege fehlen derzeit in Deutschland. Bis zum Jahr 2030 steigt die Zahl laut dem Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln auf rund 500.000. Vor diesem Hintergrund greift Deutschland zunehmend auf die Hilfe qualifizierter ausländischer Kräfte zurück.

Francisca Udoraka ist eine von ihnen. Die in Ghana geborene 27-Jährige studiert seit 2016 in der Ukraine an der „National Medical University of O.O Bogomolets“ auf Englisch Medizin. Durch den Krieg in der Ukraine musste sie das Land verlassen. In Deutschland fand sie mit einer zweijährigen Aufenthaltsgenehmigung und ihrem medizinischen Fachwissen schnell Arbeit. „Derzeit arbeite ich auf der Intensivüberwachungspflege im Weilheimer Krankenhaus als Pflegerin“, erzählt Francisca. Ihre Aufgabe ist die intensivpflegerische Betreuung der Patient*innen.

Derzeit führt sie aufgrund der Sprachbarriere Behandlungen zusammen mit einer deutschsprachigen Kollegin durch. „Natürlich verstehe ich vieles nicht. Allerdings sehe ich es als ständige Herausforderung und Übung“, erzählt die 27-Jährige.

Eine Herausforderung für ausländische Fachkräfte ist ebenso das Anerkennungsverfahren. Der medizinische Bereich als reglementierter Beruf ist in Deutschland an eine Anerkennung gebunden. Ein Verfahren prüft die Gleichwertigkeit der ausländischen mit der deutschen Referenz. Dafür benötigt Francisca Dokumente von ihrer Universität vollständig, beglaubigt und übersetzt. „Durch den Krieg habe ich im Moment kaum Zugang zu nötigen Unterlagen“, erzählt sie. Franciscas Vorlesungen finden zurzeit über Zoom statt. „Oft überschneiden sich Arbeit und Studium. Dann stecke ich mir meinen Kopfhörer ins Ohr, um an der Vorlesung teilnehmen und gleichzeitig im Krankenhaus arbeiten zu können“, sagt sie lachend. Motivation und Durchhaltevermögen sind der Schlüssel zum Erfolg. „Es ist schwierig, beides parallel zu meistern. Allerdings bin ich einfach dankbar über diese Chance“, macht sie deutlich.

Pfiffige Ideen gegen den Notstand

6:00 Uhr. An einem großen Tisch versammeln sich die Pfleger*innen aus der Nacht- und Frühschicht zur morgendlichen Besprechung. Francisca lauscht aufmerksam ihren Worten. Dabei notiert sie sich detailliert auf einem Blatt Papier alle wichtigen Informationen rund um die Patient*innen.

Nach einer halben Stunde beginnt sie, die Untersuchungen vorzubereiten. Mit einem strahlenden Lächeln und wachen Augen tritt sie an das Bett und begrüßt den zu Behandelnden mit einem fröhlichen „Guten Morgen“. Sie lauscht einige Minuten aufmerksam seinen individuellen Bedürfnissen. Vorsichtig legt sie die Blutdruckmanschette um seinen verkabelten Oberarm. Danach liest sie mit einem Infrarotthermometer die Temperatur im Ohr ab. Anschließend begleitet Francisca geduldig, mit langsamen Schritten und ihn fest im Arm haltend, den zerbrechlich wirkenden Patienten in das schmale Bad. Nach der halbstündigen Untersuchung wechselt sie die benutzen Handschuhe und desinfiziert die medizinischen Geräte, bevor sie sich auf den Weg zum nächsten Krankenzimmer begibt.

Die Krankenhaus GmbH Weilheim-Schongau greift auf innovative Akquise-Maßnahmen zurück, um junge Leute in den sonst eher unattraktiven Beruf zu locken. „Der Verbund Weilheim-Schongau ist außergewöhnlich gut aufgestellt, was den Pflegebereich angeht. Sie haben pfiffige Ideen, wie man dem Pflegenotstand entgegenwirken kann“, erzählt Dr. Monika Raidl, Unternehmensberaterin für den Krankenhausverbund. Durch Events, wie Bewerberpartys zur Rekrutierung neuer Auszubildender und Förderung von ausländischen Pflegekräften, zeigt das Krankenhaus mit Erfolg Eigeninitiative gegen den Personalnotstand. Pflegedienstleiterin Sandra Buchner kümmert sich um die Organisation der Events.

Auch Francisca wurde durch eine Bewerberparty auf die Stelle als Pflegekraft aufmerksam. „Wir als Krankenhaus gestalten unterschiedliche Themenabende, damit potenzielle Bewerber in einem lockeren Umfeld das Krankenhaus und den Beruf besser kennenlernen können“, erläutert Buchner begeistert. Sie gibt die Termine via Social Media und Flyern bekannt. Interessenten haben somit die Möglichkeit, sich mit anderen Pflegekräften austauschen und zu bewerben. „In vielen Krankenhäusern geht es nur darum, dass der Dienstplan besetzt ist. Dass jedoch hinter jeder Person, hinter jedem Namen ein Charakter, ein Mensch steckt, wird gerne vernachlässigt“, betont Dr. Raidl. Besonders auf die Familienverhältnisse und Arbeitswünsche gehe das Krankenhaus ein. „Wir haben in anderen Ländern gut ausgebildete Fachkräfte. Allerdings muss man beachten, dass sie eine andere Ausbildung und andere kulturelle Hintergründe haben. Man darf nicht unterschätzen, dass man diese Menschen führen und begleiten muss“, meint Dr. Raidl.

Hilfestellung spielt hierbei eine wichtige Rolle. Diese wird in Weilheim gewährleistet. „Ich fühle mich sehr wohl und erhalte Unterstützung vom Team bei der Einarbeitung. Wenn du bemüht bist, sind alle offen und hilfsbereit“, erklärt Francisca Udoraka. Das Krankenhaus mietet derzeit 52 Wohnungen für ihre ausländischen Mitarbeiter*innen an. Auch Francisca erhielt dabei Unterstützung. „Durch die bereits möblierte Wohnung kann ich mir einiges an Kosten sparen“, meint die 27-Jährige. Den Mietpreis und die Kaution der Wohnung zahlt sie selbst. „Die Lage ist großartig. Ich brauche nur wenige Minuten zu Fuß zum Krankenhaus und etwa 20 Minuten zum Integrationskurs“, erzählt sie strahlend.

600 Stunden Sprachkurs

14:00 Uhr. Aneinandergereihte Schulbänke, massive Regale und eine große weiße Tafel füllen den Raum. Die unruhige Stimmung zeigt die Anspannung der Anwesenden. Erst als die Integrationslehrerin das Zimmer betritt, nimmt Stille den Raum ein. Francisca setzt sich in die erste Reihe. Gespannt lauscht sie den Anweisungen der Lehrerin und notiert sich deutsche Wörter. Ihre Nervosität zeigt sich anhand ihrer leisen, leicht zittrigen und unsicher wirkenden Stimme. Es ist wichtig, dass sie die deutsche Sprache beherrscht.

In wenigen Wochen steht sie vor der großen Herausforderung, die Sprachprüfung „Deutschtest für Zuwanderer“ zu absolvieren. Die Sprache ist Voraussetzung für die Teilhabe und Orientierung am gesellschaftlichen Leben. Der vom Bundesamt für Migration geförderte Integrationskurs bereitet Ausländer auf ein Leben in Deutschland vor. In 600 Stunden Sprachkurs liegt der Fokus auf der Alltagstauglichkeit: Lebensmittel einkaufen oder einen Arzttermin vereinbaren. Den Erfolg darin misst der „Deutschtest für Zuwanderer“. Es folgen 100 Einheiten Orientierungskurs mit Inhalten aus der aktuellen Politik, deutschen Geschichte und Kultur und der Abschlusstest „Leben in Deutschland“. Lohn ist das „Zertifikat Leben in Deutschland“, das bei der Einbürgerung in Deutschland hilft. Für den medizinischen Beruf muss Francisca zusätzlich einen Berufssprachkurs belegen. Das Krankenhaus Weilheim bietet für ihre ausländischen Pflegekräfte ebenfalls Integrationskurse an.

17:00 Uhr. Francisca fällt körperlich erschöpft auf ihre Couch. Der Tag ist für sie nicht vorbei. Er hat bis jetzt keine Zeit zum Lernen übriggelassen. Zwei weitere Stunden sitzt sie konzentriert vor ihren Universitätsunterlagen. Anschließend geht sie schlafen, bevor ein neuer Tag für sie um vier Uhr morgens beginnt. Francisca hat bereits viele Hürden genommen und sieht ihre Zukunft in Deutschland. Ob sie ihre Aufenthaltserlaubnis behält, bleibt offen. Ihr ungebrochener Optimismus lässt sie daran glauben, dass sich am Ende alles zum Guten wendet.

Der Mangel an Fachkräften bleibt eine große Herausforderung im deutschen Gesundheitssektor. Um der Personalkrise entgegenzuwirken, bedarf es auch in Zukunft neuer kreativer Ideen.